Hoffnungsschimmer gegen Klimaangst

Viele Menschen fühlen sich angesichts der Klimakrise machtlos. Forschende der Sozial- und Politikwissenschaften begegnen der Ohnmacht mit dem Konzept der «Positive Tipping Points». Ihr Kredo: Beim Klimawandel sind Veränderungen zum Guten möglich, und sie lassen sich beschleunigen.

Von Kaspar Meuli 31. Oktober 2022

Der Politikwissenchaftler Dr. Lukas Fesenfeld forscht unter anderem zu positiven Kipppunkten. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel
Der Politikwissenchaftler Dr. Lukas Fesenfeld forscht unter anderem zu positiven Kipppunkten. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel

 

Schmilzt das Eis in der Antarktis ab oder verschwindet der Regenwald am Amazonas, kann das unumkehrbare Folgen für das System Erde haben. Werden solche sogenannten Kippunkte einmal überschritten, könnte sich das Klima abrupt verändern, und es könnte zu Rückkoppelungen und Kaskadeneffekten kommen. Kurz: eine höchst negative Entwicklung, die es aus Sicht des Weltklimarats IPCC unbedingt zu verhindern gilt.

Die Gefahr, die von diesen negativen Kipppunkten für die Menschheit ausgeht, ist längstens bekannt. Neu ist hingegen das Konzept der positiven Kipppunkte, auf Englisch: «Positive Tipping Points». Gemeint sind damit gesellschaftliche und technologische Veränderungen, die sich positiv auf den Klimawandel auswirken können. «Wir haben in der Vergangenheit allzu stark auf negative Entwicklungen fokussiert und positive Aspekte vernachlässigt, insbesondere dass sich solche positiven Entwicklungen beschleunigen lassen», sagt Lukas Fesenfeld. Er ist Politikwissenschaftler im Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR) an der Universität Bern und arbeitet an vorderster Front im Forschungsgebiet mit, das sich zurzeit rund um die «Positive Tipping Points» auftut.

Eine andere Institution, die in diesem Bereich forscht, ist die University of Exeter in Grossbritanien. Auf deren Webseite ist im Zusammenhang mit positiven Kipppunkten von «Quellen der Hoffnung» die Rede. Tim Lenton, der Direktor des Global Systems Institute in Exeter, sagt: «So, wie Kipppunkte Teil der grössten Bedrohung sind, der wir gegenüberstehen, kann dieselbe Logik auch die Lösung sein. Das Konzept der positiven Kipppunkte in der menschlichen Gesellschaft, die eine schnelle Dekarbonisierung vorantreibt, könnte eine Blockade überwinden – das Gefühl, dass wir nichts gegen den Klimawandel tun können.»

Positive Kipppunkte in Griffnähe

Es gibt Beispiele von sozio-technologischen Entwicklungen, bei denen eine kritische Masse – oder eben ein Kipppunkt – bereits erreicht ist oder zumindest in Griffnähe scheint. Beim Umstieg auf Elektrofahrzeuge ist Norwegen schon beim Wendepunkt angelangt, da Fördermassnahmen dazu geführt haben, dass Elektrofahrzeuge billiger sind als Benzinautos. Inzwischen sind mehr als die Hälfte der gekauften Neuwagen elektrisch. Wäre dies auch in wichtigen Märkten wie der EU, China und Kalifornien der Fall, könnte auch der globale Automarkt zugunsten der umweltfreundlicheren Elektroautos umschwenken. Die Tendenz geht klar in diese Richtung.

In Norwegen wird die Elektromobilität vom Staat stark gefördert. In Städten wie Oslo sind Ladestationen weit verbreitet und es gibt Gratisparkplätze für Elektrofahrzeuge. © Creative Commons

 

Einen weiteren positiven Kipppunkt sieht Lukas Fesenfeld im Energiesektor erreicht. Die Stromproduktion durch Windräder und Photovoltaikanlagen hat sich in den vergangenen Jahren derart verbilligt, dass Kohlestrom mittlerweile schlicht zu teuer ist. «Wir sind heute in einer Situation», so Fesenfeld, «in der kein vernünftiger Investor mehr auf Kohle setzt.» Der Entscheid des deutschen Energiekonzerns RWE etwa, den Ausstieg aus der Kohle auf 2030 vorzuziehen, habe ökonomische Gründe. Ausgelöst hat diese Entwicklung unter anderem das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz.

Wechselwirkung zwischen Verhaltensänderungen und technologischem Wandel

Lukas Fesenfeld beschäftigt sich in seiner Forschung auch mit der «Transformation des Fleischsystems». Er untersucht, wie Menschen in unterschiedlichen Ländern zu Fleischersatzprodukten eingestellt sind. Auch hier könnte eine kritische Masse von Konsumentinnen und Konsumenten die Dinge ins Rollen bringen. «Bei der Fleischsubstitution», so der Politikwissenschafter, «spricht vieles für eine positive Wechselwirkung zwischen Verhaltensänderungen und technologischem Wandel, der idealerweise von politischen Massnahmen flankiert wird.» In Kalifornien erhalten zum Beispiel Landwirte, die auf den Anbau von Pflanzen umstellen, die nicht zu Tierfutter verarbeitet werden, finanzielle Unterstützung. Und Kantinen, die vermehrt pflanzliche Produkte auf ihren Menuplan setzen, werden gefördert.

Doch nicht nur staatliche Förderung kann bewirken, dass positive Kipppunkte ausgelöst werden. Bei der Verbreitung von flexitarischen, vegetarischen und veganen Lebensstilen spielen auch soziale Medien und Influencer eine wichtige Rolle. Dieser «normative und verhaltensbezogene Wandel» hätte neue Marktchancen für Unternehmen geschaffen, die pflanzliche Proteine als Fleischalternative anbieten, schreibt Lukas Fesenfeld in einem soeben in der Fachzeitschrift «One Earth» erschienenen Beitrag. In Zahlen: Der Markt für pflanzliche Lebensmittel hat 2021 in den USA ein Volumen von 7,4 Milliarden US-Dollar erreicht, was einem Anstieg von 54 Prozent im Vergleich zu 2018 entspricht. Und er wächst mittlerweile dreimal so schnell wie jener für tierische Produkte. «Dieses Wachstum führte zu beträchtlichen Investitionen in alternative Proteine und zu einem erheblichen Wachstum bei der Entwicklung neuer Lebensmitteltechnologien wie beispielsweise kultiviertem Fleisch», schreibt Fesenfeld in seiner Publikation «The politics of enabling tipping points for sustainable development».

 

In Kalifornien erhalten Schulkantinen, die pflanzliche Produkte auf ihren Menuplan setzen, staatliche Unterstützung. © Creative Commons

 

In seiner Forschung setzt der Politikwissenschaftler auf mehr Empirie, denn noch sei das Forschungsfeld der positiven Kipppunkte sehr theoretisch. «Ich sehe meine Rolle darin, empirisch herauszufinden, welche Faktoren und Kontextbedingungen am vielversprechendsten sind, um positive Tipping Points herbeizuführen», sagt Fesenfeld dazu. Besonders wichtig sei eine Politik, die Synergien zwischen Verhaltensänderungen und technologischem Wandel schafft. Auch die strategische Kombination von politischen Instrumenten habe sich als effektiv erwiesen. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass sich die Bepreisung von CO2 allein genommen nur begrenzt auf die Dekarbonisierung des Energiesektors auswirkt. Wird ein Preis für CO2 jedoch mit gezielten Instrumenten zur Technologieförderung und mit Vorschriften kombiniert, lässt sich die Wirksamkeit einer Bepreisung erheblich steigern.

Wie gesagt sind zum Erreichen von positiven Kipppunkten nicht zuletzt Verhaltensänderungen nötig. Dabei spielen gesellschaftliche Prozesse eine entscheidende Rolle. «Eine Kippdynamik im Verhalten entsteht oftmals über soziale Netzwerke und wahrgenommene Normen», erklärt Fesenfeld, «sie sind sehr wichtig für Beschleunigungsprozesse.» Will heissen: Wenn immer mehr Menschen beobachten, dass ihre Nachbarinnen und Nachbarn den Müll trennen, das Fahrrad nutzen oder einen Veggie-Burger auf den Grill legen, wird dieses Verhalten als normal empfunden und bald einmal von der Mehrheit übernommen.

Vor allem aber will die Forschung mit dem Konzept der positiven Kipppunkte deren negativen Gegenstücken etwas entgegensetzen. Die gute Nachricht soll lauten: Wir müssen den Kopf nicht in den Sand stecken, wir sind angesichts der Klimakrise nicht so machtlos, wie viele meinen. Wenn das kein Hoffnungsschimmer ist!

Über Lukas Fesenfeld

Dr. Lukas Fesenfeld forscht im Bereich der internationalen Umweltgovernance, der politischen Ökonomie und der politischen Psychologie. Fesenfeld schloss sein Doktorat an der Professur für Internationale Politische Ökonomie und Umweltpolitik der ETH Zürich ab und war dort Mitglied der Gruppe Energiepolitik. Heute ist er Senior Researcher in der «Policy Analyse und Umweltgovernance Gruppe» und am Oeschger Centre for Climate Change Research (beides an der Universität Bern) sowie Dozent an der ETH Zürich. Fesenfeld ist zudem Gründer von NAHhaft, einer unabhängigen und gemeinnützigen Forschungs- und Beratungsorganisation, die sich für den Ernährungswandel engagiert.

Kontakt

lukas.fesenfeld@ipw.unibe.ch

Über das Oeschger-Zentrum für Klimaforschung OCCR

Das Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR) ist eines der strategischen Zentren der Universität Bern. Es bringt Forscherinnen und Forscher aus 14 Instituten und vier Fakultäten zusammen. Das OCCR forscht interdisziplinär an vorderster Front der Klimawissenschaften. Das Oeschger-Zentrum wurde 2007 gegründet und trägt den Namen von Hans Oeschger (1927-1998), einem Pionier der modernen Klimaforschung, der in Bern tätig war.

Literaturangabe zur Studie

Fesenfeld, Lukas P., et al. "The politics of enabling tipping points for sustainable development." One Earth 5.10 (2022): 1100-1108

Über den Autor

Kaspar Meuli ist Journalist und PR-Berater. Er ist verantwortlich für die Kommunikation des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung.

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