Veterinärmedizin
«Neben Köpfchen brauchts bei uns immer auch Wanderschuhe»
Ob Gämsblindheit oder Herzanomalien bei Luchsen, die Krankheiten von Wildtieren prägen das berufliche Leben von Marie-Pierre Ryser. Eine gute Zusammenarbeit mit ebenso leidenschaftlichen Projektpartnern und der Ausgleich in der Natur helfen der Leiterin der Abteilung für Wildtiere an der Berner Vetsuisse-Fakultät, mit der grossen Arbeitsbelastung umzugehen.
Frau Ryser, wie würden Sie einem Kind Ihre Arbeit erklären?Marie-Pierre Ryser: Wir untersuchen, ob die Tiere in der Natur gesund sind. Weiter identifizieren wir Ursachen von Krankheiten. Das Ziel ist jeweils, die Gesundheit zu schützen und zu verbessern – die der Wildtiere, die der Haustiere und auch die von uns Menschen. Meine Kurzformel lautet «Interdisziplinarität mit einer Spur Abenteuer».
Hat Abenteuerlust Sie dazu motiviert, diese Forschungsrichtung zu wählen?Die war ganz wichtig, ja. Ich habe eine Gelegenheit ergriffen, die sich am Ende meines Studiums geboten hat. Für meine Dissertation suchte ich ein Thema, bei dem ich nicht im Labor stehen musste, sondern «im Feld» sein konnte. Da bekam ich die Gelegenheit, verschiedene Aspekte der Gämsblindheit zu erforschen. Neben der Forschung hatte ich auch Diagnostikaufgaben in der Wildtierpathologie. Im Sektionsraum kam ich nicht nur mit Gämsen in Kontakt, sondern auch mit verschiedenen anderen Wildtieren, von denen ich als Stadtmädchen bis dahin nur gehört hatte. Der Höhepunkt war, als ein Luchs zur Untersuchung eingeliefert wurde. «Wow, ein solches Tier lebt in unseren Wäldern!» Während meiner Feldarbeit begegnete ich dann auch einigen lebenden Luchsen. Diese Erfahrungen prägten meine weitere Karriere. Ich entdeckte eine neue Welt. Das bestärkte mich, nicht bei der klassischen Veterinärmedizin zu bleiben, sondern mich auf Wildtiere zu spezialisieren.
Was zeichnet Ihr Forschungsgebiet aus?Wildtiergesundheit ist sehr praxisbezogen: Liegt eine offene Frage vor uns, erforschen wir sie multidisziplinär und bemühen uns darum, Empfehlungen für die Praxis zu formulieren. Ein Beispiel ist eine bei Wild- oder Haustieren neu auftretende Krankheit, bei der man sich fragt, ob sie von Haustieren ausgehen könnte oder eher von Wildtieren – und wie man ihr vorbeugen soll.
Und welche Schwierigkeiten begegnen Ihnen im Alltag?Ganz technisch formuliert: der Zugang zum «Untersuchungsmaterial». Freilebende Wildtiere bewegen sich in der Natur teilweise in für uns unzugänglichen Lebensräumen. So ist es eine typische Herausforderung, Proben in genügender Menge und Qualität für eine klare Aussage zu erhalten. Ein anderes Problem ist, dass viele Diagnostiktechniken für Haustiere entwickelt wurden. Wenn wir sie für Wildtiere übernehmen, sind die Resultate nicht immer zuverlässig. Und schliesslich braucht es Datengrundlagen, die in verschiedenen Regionen oder zu verschiedenen Zeitpunkten mit denselben Methoden gewonnen wurden. Nur so kann man Daten vergleichen und Faktoren identifizieren, welche die Dynamik von Krankheiten beeinflussen. Beispiele für solche Faktoren sind etwa die Klimaerwärmung oder Methoden des Wildtiermanagements.
Können Sie dafür ein Beispiel geben?Im Gegensatz zur Schweiz, wo es verboten ist, werden Wildwiederkäuer und Wildschweine im Ausland oft gefüttert, um die Bestände für die Jagd hoch zu halten. Diese Praxis fördert die Erhaltung und Ausbreitung von Krankheiten wie der Tuberkulose und der Afrikanischen Schweinepest in Wildtierpopulationen. Dank gut geplanten internationalen Projekten ist es möglich, das anzugehen.
Welche Ihrer Forschungsergebnisse waren aussergewöhnlich?Ein spannendes Forschungsergebnis war der Nachweis, dass es gesunde Träger des Erregers der Gämsblindheit gibt – nicht alle infizierten Tiere erkranken also. Das hat auch international neue Wege in der Erforschung dieser Infektionskrankheit aufgezeigt. Zum andern wies ich Herzanomalie bei Luchsen nach. Das führte
zu Anpassungen bei Artenschutzmassnahmen: Bei der Umsiedlung von Luchsen werden die Kandidaten sorgfältiger ausgewählt, um eine optimale Basis für die Populationen zu haben, die man gründen oder verstärken will.
Was mich sehr interessiert, ist die Rolle der Genetik bei der Entstehung von infektiösen und bestimmten nicht infektiösen Krankheiten, also was die gemeinsame Evolution von Wirtstier und Krankheitserreger angeht: Beim Wildtier sterben schwache Individuen, die resistenten überleben und vermehren sich. Der Erreger seinerseits mutiert laufend, passt sich an und kann so auch wieder ein krank machendes Potenzial entwickeln.
Wie wichtig ist bei Ihrer Arbeit Interdisziplinarität?Sie ist zentral. So arbeiten wir viel mit Kolleginnen und Kollegen von der Vetsuisse-Fakultät der Universitäten Bern und Zürich und ausländischen Institutionen zusammen. Im Feld kooperieren wir mit zahlreichen Wildbiologinnen, Wildhütern und Jägern. Das sind stets tolle Gelegenheiten, voneinander zu lernen.
Ohne welchen Gegenstand wäre Ihre Forschung nicht möglich?Zentral ist wohl – wie bei jeder Forschung – das Gehirn. Zudem braucht es Partnerschaften – und Wanderschuhe. Letztere schnüren nicht nur wir uns an, sondern insbesondere all die Partner, die uns Proben schicken und Daten liefern. Das sind tolle Menschen, die leidenschaftlich am Thema interessiert sind. Diese persönliche Verbundenheit spüre ich auch auf internationaler Ebene. Einerseits sind wir in verschiedenen internationalen Projekten eingebunden. Anderseits habe ich Funktionen in mehreren Berufsverbänden und Arbeitsgruppen. Hier lerne ich Kolleginnen und Kollegen kennen, die ähnlich engagiert sind wie wir.
Was wären Sie geworden, wenn Sie nicht in der Wildtierforschung arbeiteten?Die klinische Arbeit hat mich immer interessiert, ob Tier- oder Humanmedizin. Aber wenn ich heute mit ehemaligen Kollegen und Doktorandinnen spreche und höre, wie sie im Alltag einer Tierpraxis Mühe mit der Kundschaft haben, bin ich besonders froh über meine Arbeit. Bei der Wahl und Ausrichtung meines Berufs bin ich meinem Herzen und meinem Glück gefolgt – und ich habe es gefunden.
Gibt es dennoch auch manchmal Ärger?Es gibt zwei Anlässe, die mich aufregen. Gelegentlich werden wir als «Probensammlerinnen und Probensammler» bezeichnet. Das ist respektlos und von oben herab. Denn wir erarbeiten sehr viel Wissen und ziehen daraus unsere wissenschaftlichen Lehren. Zudem gibt es ab und zu Forschungspartnerinnen und -partner, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, statt zum gemeinsamen Projektziel beizutragen. Das ärgert gewaltig.
Würden Sie jungen Menschen Ihre Arbeit empfehlen?Die Arbeit in der freien Natur ist enorm erfüllend. Doch dieser Anteil ist verhältnismässig klein, und die Arbeitsbelastung ist beträchtlich, unter anderem, weil die Projekte sich überlappen. Allerdings ist man teilweise selbst schuld, da die Arbeit bei vielen zur Leidenschaft geworden ist. So wird man am Tagesende kaum je wirklich fertig mit den Aufgaben. Den Feierabend kann ich selten einfach geniessen – die aktuellen Projekte drehen sich weiter im Kopf, oder ich arbeite sogar noch daran. Ausgleich bringen mir das Reiten und das Schwimmen, Handwerkliches wie etwa das Töpfern und der Aufenthalt in der Natur. Nicht zuletzt reise ich gerne, um Naturgebiete zu entdecken oder Freunde zu treffen. So kann ich Energie tanken.
Über Marie-Pierre Ryser
Prof. Dr. Marie-Pierre Ryser ist Professorin an der Vetsuisse-Fakultät und leitet die Abteilung Wildtiere am Institut für Fisch- und Wildtiergesundheit.
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