Was wissen wir über Unwissenheit?
Wissen gilt gemeinhin als einer der wichtigsten Werte. Aber wie verhält sich Wissen zu seinem Gegenstück, der Unwissenheit? Diesem Thema widmet sich vom 7. bis zum 9. Juni die zweite Ausgabe des interdisziplinären «CSH Science, Philosophy and Religion Forum». Was die Besuchenden erwartet und was sie selbst am Thema fasziniert, erklärt Vera Matarese, Co-Organisatorin der Veranstaltung.
Was erwartet die Besuchenden am CSH Science, Philosophy and Religion Forum?Vera Matarese: Im Mittelpunkt des Forums steht das Thema der Unwissenheit. Es werden Beiträge von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen mit unterschiedlichen akademischen Interessen und Hintergründen präsentiert. Ziel des Forums ist es daher einen Wissensaustausch zum Thema Unwissenheit zu ermöglichen und eine interdisziplinäre Reflexion darüber zu fördern. In dieser Hinsicht denke ich, dass die Teilnehmenden die Gelegenheit haben werden, vertieft darüber nachzudenken, was Unwissenheit ist und wie wir damit umgehen können. Zusätzlich bietet es die Möglichkeiten verschiedene Ansätze zu diesem Thema kennenzulernen, mit renommierten Forschenden auf diesem Gebiet in Kontakt zu treten und Ideen mit ihnen auszutauschen.
Warum ist es wichtig, Fragen aus einer interdisziplinären Perspektive anzugehen?Interdisziplinäre Perspektiven sind unerlässlich, um stärkere intellektuelle Visionen zu entwickeln. Als Denkende und Forschende sollten wir nicht blind sein für das, was in anderen Disziplinen geschieht, sondern die geistige Vielfalt in der Wissenschaft nutzen. Nur wenn wir die gegenseitige Inspiration aus verschiedenen Disziplinen fördern, wird unsere Forschung wertvoller. In dieser Hinsicht bietet das CSH mit diesem Forum eine hervorragende Plattform, welche eine sinnvolle Kommunikation und Zusammenarbeit über verschiedene akademische Kulturen und Forschungsbereiche hinweg ermöglicht.
Was erwarten Sie vom CSH Science, Philosophy and Religion Forum?Das Forum wird dazu beitragen, eine stärkere, tiefere und umfassendere Vision für das Studium der Unwissenheit zu entwickeln. Es wird Brücken schlagen zwischen verschiedenen Ansätzen zum Thema Unwissenheit und unterschiedliche akademische Communities zusammenbringen. Wir gehen davon aus, dass die Teilnehmenden einen neuen interdisziplinären Ansatz zum Thema Unwissenheit entwickeln, so ein tieferes Verständnis für dieses Thema erhalten und letztendlich besser damit umgehen können.
Dies ist bereits das zweite CSH Science, Philosophy and Religion Forum. Wird die Konferenzreihe fortgesetzt? Wenn ja, wissen Sie schon etwas über das Thema der nächsten Veranstaltung?Ich hoffe, dass das Center for Space and Habitability CSH das Forum weiterhin sponsert und, dass die Zusammenarbeit zwischen dem CSH, dem Institut für Philosophie und dem Institut für Theologie fortgesetzt wird. Ein interessantes Thema, das für unsere nächste Veranstaltung vorgeschlagen werden könnte, ist das der Methodik. Während allgemein bekannt ist, dass die Wissenschaft ihre Methoden hat, ist es interessant sich zu fragen, ob Philosophie und Religion ihre eigenen Methoden haben und wenn ja, inwieweit sie sich von den naturwissenschaftlichen Methoden unterscheiden. Dieses Thema ist besonders anregend, weil es keine universelle wissenschaftliche Methode gibt, welche für alle wissenschaftlichen Disziplinen gilt.
Haben Sie sich mit dem Thema Unwissenheit in Ihrer eigenen Forschung schon näher beschäftigt?Ich habe nie konkret zum Thema Unwissenheit geforscht. Ich habe jedoch besondere Fälle wissenschaftlicher Krisen untersucht, die bei der Analyse von Replikationsfehlern auftraten. Es war sehr aufschlussreich für mich zu betrachten, wie die Forschenden diese Situationen bewältigen und ihren Zustand der Unwissenheit überwinden. Dies taten sie, indem sie die richtigen Fragen formulierten und die richtigen Wege fanden, um diese Unwissenheit anzugehen. Besonders fasziniert bin ich auch davon, wie Forschende der Astrophysik, indem sie Modellierungstechniken verwenden, Atmosphärenmodelle für Exoplaneten erstellen, und so unsere Unkenntnis darüber verringern können.
Wie gehen Sie mit Ihrer eigenen Unwissenheit um?Forschung zu betreiben, bedeutet die Grenzen des Wissens zu erweitern. Dies geschieht auf persönlicher Ebene, da es immer bestimmte Faktoren im Forschungsthema gibt, die ich nicht kenne. Es passiert aber genauso auf Stufe der wissenschaftlichen Gemeinschaft, da es auch da immer wieder Aspekte gibt, die noch nicht untersucht wurden oder über die kein Konsens besteht. Im zweiten Fall versuche ich das Wissen zu erweitern, indem ich die richtigen Fragen und die geeignetsten Wege zu ihrer Beantwortung finde und prüfe, wie andere Forschende eine ähnliche Situation in anderen Zusammenhängen angegangen sind.
Gibt es einen bestimmten Vortrag auf dem CSH-Forum, auf den Sie sich persönlich freuen? Und wenn ja, warum?Ich freue mich auf alle Vorträge, da sie allesamt spannend sind. Besonders empfehlen möchte ich jedoch den Eröffnungsvortrag des Forums von Stuart Firestein, Professor an der Columbia University, weil er eine zugängliche, aber intellektuell anregende Reflexion über Unwissenheit und deren Beziehung zur Wissenschaft bietet. Seiner Meinung nach ist die menschliche Unwissenheit ein wertvoller Geisteszustand. In seinen Worten: «Forschende streben nach Fakten und Vernunft, aber wenn sie am unsichersten sind, ist ihr Streben oft am fantasievollsten.» Ich bin der Meinung, dass Unwissenheit nur dann ein wertvoller Zustand sein kann, wenn sich der Unwissende seiner Unwissenheit bewusst ist. Wir alle sind in Bezug auf irgendetwas unwissend, aber wie Amos Bronson Alcott sagte, ist das schlimmste Übel der Unwissenden, dass sie sich ihrer Unwissenheit nicht bewusst sind. Dieser Workshop und insbesondere der Vortrag von Prof. Firestein werden sicherlich eine Chance bieten, diesen Zustand zu überwinden.
ZUR PERSON
Vera Matarese ist seit 2020 Fellow des Center for Space and Habitability CSH und Postdoc am Institut für Philosophie der Universität Bern, nachdem sie zuvor ein Forschungsstipendium am Center for Philosophy of Science der University of Pittsburgh und eine Postdoc-Stelle an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften innehatte. Ihre Forschungs- und Lehrinteressen reichen von metaphysischen Fragen der Wissenschaft, insbesondere der Interpretation physikalischer Theorien, bis hin zu Fragen der Methodologie der wissenschaftlichen Praxis, insbesondere der Replizierbarkeitskrise. In jüngster Zeit hat sie sich mit der Philosophie der Astrophysik befasst.
Kontakt:
Dr. Vera Matarese
Center for Space and Habitability (CSH)
Gesellschaftsstrasse 6
3012 Bern
Tel: +41 31 684 55 97
E-Mail: vera.matarese@unibe.ch
ÜBER DAS «CSH SCIENCE, PHILOSOPHY AND RELIGION FORUM»
Das CSH Science, Philosophy and Religion Forum ist das Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen dem Center for Space and Habitability (CSH), dem Institut für Philosophie und dem Institut für Historische Theologie der Universität Bern. Ziel ist es, einmal im Jahr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den Bereichen der Philosophie, Theologie, Religions- und Naturwissenschaften zusammenzubringen, um konstruktive, interdisziplinäre Diskussionen über eine breite Palette von Themen zu führen.
Die diesjährige Ausgabe unter dem Titel «Reassessing Ignorance. Its Varieties, Roles and Values in Science, Philosophy and Religion» konzentriert sich auf die Wechselwirkungen von Wissen und Unwissen aus der Perspektive der Naturwissenschaften, Philosophie und Religion. Es beginnt am Dienstag, 7. Juni, mit einem öffentlichen Abendvortrag von Prof. Stuart Firestein (Colombia University), Autor des Buches; «Ignorance, how it drives science» (Oxford University Press), an der Universität Bern. Die Veranstaltung wird dann bis Donnerstag, 9. Juni, auf dem Gurten fortgesetzt. Alle Vorträge werden in englischer Sprache gehalten.
Mehr Informationen zum CSH Forum
Flyer 2022 des «CSH Science, Philosophy and Religion Forum»
Öffentlicher Vortrag von Prof. Stuart Firestein
Im Rahmen des «CSH Science, Philosophy and Religion Forum» findet ein öffentlicher Vortrag von Prof. Stuart Firestein (Universität Columbia) unter dem Titel «Scientific Ignorance as a Drive to Pluralism» statt.
Dienstag, 7. Juni 2022, 17.30 Uhr Kuppelraum (501), Hauptgebäude Universität Bern, Hochschulstrasse 4, 3012 Bern
Anmeldung nicht erforderlich, Eintritt frei
CENTER FOR SPACE AND HABITABILITY (CSH)
Die Aufgabe des Center for Space and Habitability (CSH) ist es, den Dialog und die Interaktion zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu fördern, die sich für die Entstehung, Entdeckung und Charakterisierung anderer Welten innerhalb und ausserhalb des Sonnensystems, die Suche nach Leben anderswo im Universum und deren Auswirkungen auf Disziplinen außerhalb der Naturwissenschaften interessieren. Zu den Mitgliedern, Affiliierten und Mitarbeitenden gehören Expertinnen und Experten aus der Astronomie, Astrophysik und Astrochemie, Atmosphären-, Klima- und Planetenforschung, Geologie und Geophysik, Biochemie und Philosophie. Das CSH beherbergt die CSH und Bernoulli Fellowships, ein Programm für junge, dynamische und talentierte Forschende aus der ganzen Welt, um unabhängige Forschung zu betreiben. Es führt aktiv eine Reihe von Programmen durch, um die interdisziplinäre Forschung innerhalb der Universität Bern zu stimulieren, einschliesslich der Zusammenarbeit und des offenen Dialogs mit Medizin, Philosophie und Theologie. Das CSH hat zudem eine aktive Verbindung mit dem Centre for Exoplanets & Habitability der University of Warwick.
ZUR AUTORIN
Flurina Werthmüller ist Hochschulpraktikantin in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern.