Wirtschaftswachstum und Wachstumskritik

50 Jahre «Grenzen des Wachstums» und 30 Jahre «Nachhaltige Entwicklung»: In einer interdisziplinären Ringvorlesung geben Forschende verschiedener Fachrichtungen einen Überblick über zentrale Fragen des Wirtschaftswachstums und der Wachstumskritik.

Eine Ringvorlesung beleuchtet die «nach wie vor oft stiefmütterlich behandelte Wachstumsdebatte vor dem Hintergrund der Nachhaltigen Entwicklung und geht der Frage nach, weshalb das Narrativ, Wachstum sei unverzichtbar, selbst in reichen Ländern wie der Schweiz weiterhin so mächtig ist», schreiben die Autoren. © Sergio Souza, Pexels (Ausschnitt)

In den 1950er und 1960er Jahren war der Wunsch nach «Wohlstand für alle» mit hohen – in den Industriestaaten seither nicht mehr erreichten – Wachstumsraten verbunden. Wachstum gilt bis heute als Allheilmittel für viele gesellschaftliche Herausforderungen. Doch was ist an diesem «heaven on earth-Narrativ» dran, das der deutsche Ökonom und Philosoph Birger Priddat kürzlich als säkulares Erlösungsversprechen des Kapitalismus beschrieben hat?

2022 jähren sich verschiedene Ereignisse, welche die Debatten um die Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaften wesentlich befeuert haben und bis heute nachwirken. Grund genug für einen kurzen Blick zurück.

Wachstum wird zum Dilemma und zur Kontroverse

1972: Im Auftrag des «Club of Rome» erscheint der Bericht «Die Grenzen des Wachstums». Die Studie zeigt ein «Dilemma der Menschheit» auf – der Begriff stammt aus dem Untertitel der englischen Originalausgabe: Wachstum führe zwar in manchen Bereichen zu (mehr) Wohlstand und Lebensqualität, bedrohe in der langfristigen Perspektive jedoch gleichzeitig diesen Wohlstand und gar das Überleben der Menschheit.

Im gleichen Jahr findet in Stockholm auch die erste Weltkonferenz über die menschliche Umwelt statt, die United Nations Conference on the Human Environment. In der Abschlusserklärung halten die Mitgliedstaaten fest: Die natürlichen Ressourcen der Erde wie auch die Fähigkeit des Planeten, erneuerbare Ressourcen zu produzieren, «müssen zum Nutzen heutiger und künftiger Generationen erhalten und, wo immer dies möglich ist, wiederhergestellt oder verbessert werden».

Ein Thema, das bis zu diesem Zeitpunkt kaum Eingang in die politischen Debatten gefunden hatte, sorgte an der Konferenz allerdings für heftige Kontroversen: Wie sind Bevölkerungs- und stetes Wirtschaftswachstum mit dem Erhalt der natürlichen Ressourcen vereinbar? Es gelang zwar, sich an der Konferenz darauf zu einigen, die «traditionellen Konzepte» des Wachstums seien zu überdenken. Doch das Konzept «Nullwachstum» (no growth) stiess nicht nur bei Ländern des Globalen Südens auf harsche Kritik.

Die Wachstumsfrage fliesst in die Konferenz von Rio ein

Immerhin wurde in Stockholm deutlich, dass die Wachstumsfrage unterschiedlich anzugehen sei – je nach sozioökonomischem Entwicklungsstand der UNO-Mitgliedstaaten. Ebenso klar wurde, dass die Länder des Globalen Südens angesichts der sich verschärfenden Umweltprobleme nicht einfach dieselbe Wachstumspolitik der industrialisierten Staaten übernehmen könnten.

20 Jahre später, 1992, fand in Rio de Janeiro die «Konferenz über Umwelt und Entwicklung» der Vereinten Nationen statt. Ausgehend vom Dilemma der «Grenzen des Wachstums» zeigte sie Wege auf, wie sich die sozioökonomische Entwicklung und die Vermeidung menschheitsbedrohender Umweltveränderungen miteinander vereinbaren lassen. Die Konferenz in Rio wurde zu einer Art Startpunkt des Diskurses über Nachhaltige Entwicklung, in dem die Wachstumsfrage bis heute zentral ist.

Von der Ökoentwicklung über Degrowth bis zur Grossen Transformation

Schon vor Rio waren sowohl im Globalen Norden wie im Süden zahlreiche Debatten entstanden, in denen Umwelt und sozioökonomische Entwicklung integriert gedacht worden waren. Bis in die 1990er Jahre hinein prägten Stichworte wie «Ökoentwicklung», «qualitatives Wachstum», «Steady State Economy» und die «Tragfähigkeit der Erde» die theoretischen Debatten. Danach kamen Begriffe wie «nachhaltiges Wachstum», «grünes Wachstum», «Degrowth», «Postwachstumsgesellschaft», «Post-Development», «Suffizienz», «Biophysikalische Planetare Grenzen» und «Grosse Transformation» auf. Sie stehen heute für die zunehmend kontrovers geführte Diskussion über die Wachstumsfrage.

Sind wir auf der Zielgeraden?

Doch haben all diese Debatten und Theorien dazu geführt, dass man der Vision integrierte Entwicklungskonzepte umzusetzen markant näherkam?

2015 entstand zwar ein neuer globaler und integrierter Handlungs- und Zielrahmen: die «Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung», die auch die 17 Sustainable Development Goals (SDG) enthält. Bis dato ist aber – auch in der Schweiz – nicht erkennbar, dass und wie sich die SDGs bis 2030 erreichen lassen.

Haben allenfalls gar die Kritikerinnen und Kritiker Recht, die monieren, die Wachstumsfrage sei nicht ausreichend tief und konsequent diskutiert worden – und folglich habe man auch nicht die entsprechenden Schlüsse für die weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen gezogen?

Die Rolle der Hochschulen

Als Treiber dieser Debatten, wie sich sozioökonomische Entwicklung und der Erhalt der natürlichen Ressourcen miteinander vereinbaren lassen und welche Rolle die Wachstumsfrage dabei spielt, erwiesen sich die Hochschulen. An ihnen entstanden neue Teildisziplinen wie Umwelt-Ökonomie, -Geschichte, -Psychologie, -Soziologie, -Physik und -Chemie. Auch haben manche Fächer Umweltfragen teilweise in den Vordergrund von Forschung und Lehre gestellt; und mit der Zeit kamen interdisziplinäre Fachbereiche wie die Umwelt-Naturwissenschaften, Umwelt-Humanwissenschaften, Umwelt-Ethik, Sozialökologie und Allgemeine Ökologie auf, die sich primär Umweltfragen widmeten.

Nur: Die institutionelle Verankerung von Wissenschaftszweigen oder Fakultäten, die Disziplinen übergreifend die gesellschaftliche Entwicklung im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung denken und diese konsequent mit der Wachstumsfrage verbinden, blieb meist aus. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich das vor 50 Jahren im Bericht «Die Grenzen des Wachstums» formulierte Dilemma der Menschheit bisher weder theoretisch noch praktisch lösen liess.

Möglichkeiten und Grenzen einer (Post-)Wachstumsgesellschaft

Die Ringvorlesung «Wirtschaftswachstum, Wachstumskritik und (Post-)Wachstumsgesellschaft vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart» an der Universität Bern setzt hier an. Sie beleuchtet die nach wie vor oft stiefmütterlich behandelte Wachstumsdebatte vor dem Hintergrund der Nachhaltigen Entwicklung und geht der Frage nach, weshalb das Narrativ, Wachstum sei unverzichtbar, selbst in reichen Ländern wie der Schweiz weiterhin so mächtig ist.

Im Kontext der Auseinandersetzungen über Nachhaltige Entwicklung, die Klimakrise und «grünes Wachstum» macht sie die Teilnehmenden vertraut mit der Diskussion über (mehr oder weniger) Wachstum, die seit Jahrzehnten bestehende Wachstumskritik sowie die Möglichkeiten und Grenzen einer (Post-)Wachstumsgesellschaft.

Programm und Anmeldung

Die Ringvorlesung wird im Frühjahrssemester 2022 gemeinsam vom Historischen Institut, Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte (WSU), und dem Centre for Development and Environment (CDE) angeboten. Sie richtet sich an Studierende der Universität Bern, ist aber auf Anmeldung auch öffentlich zugänglich.

Die Anmeldung für Studierende läuft wie gewöhnlich über KSL.

Interessierte Hörerinnen und Hörer melden sich bitte bis am 15. Februar 2022 beim Sekretariat Lehre des CDE an: lehresekretariatne.cde@unibe.ch

Die Vorlesungen finden jeweils am Montag von 17:15 bis 18:45 Uhr an der Uni Tobler im Hörsaal F 022 (ausser 30. Mai 2022: Hauptgebäude, Raum 101) statt. Es gelten die jeweils aktuellen Schutzbestimmungen der Universität Bern.

Über die Autoren

Prof. Dr. Thomas Hammer ist Humangeograph und assoziierter Professor am Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern. Er leitet die Studienprogramme in Nachhaltiger Entwicklung, in denen er zum Nachhaltigkeitsdiskurs unterrichtet. Sein Spezialgebiet ist Nachhaltige Regional- und Landschaftsentwicklung.

Prof. Dr. Christian Rohr ist Historiker und Professor für Umwelt- und Klimageschichte an der Universität Bern. Er ist Direktor der Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, die sich u.a. auf historische Nachhaltigkeitsforschung fokussiert, etwa im Bereich der Ressourcennutzung oder zu Nachhaltigkeitsfragen im Zusammenhang mit Anpassungsstrategien an extreme Naturereignisse und den Klimawandel.

Dr. Roman Rossfeld ist Wirtschaftshistoriker, assoziierter Forscher und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Bern. Zurzeit arbeitet er als Herausgeber an einem Sammelband zur Geschichte des Wirtschaftswachstums und der Wachstumskritik in der Schweiz vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

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