Sportwissenschaft
Auf der Suche nach dem Geheimnis der Profis
Im Sensomotoriklabor des Instituts für Sportwissenschaft untersuchen die Forschenden, welchen Einfluss die menschliche Wahrnehmung auf die Handlung von Athletinnen und Athleten in komplexen Situationen hat.
Das Herzstück des Labortrakts am Berner Institut für Sportwissenschaft (ISPW) macht auf den ersten Blick nicht viel her: ein 11 x 6 x 4 Meter grosser, leerer Raum, kahle Wände, heller Fussboden. Erst wer zur Decke blickt, entdeckt die wahren Schätze des Sensomotoriklabors. Dort befinden sich 12 Projektoren, 24 Kameras, 12 Workstations und 1 Soundsystem. Diese CAVE-Umgebung – CAVE steht für Cave Automatic Virtual Environment – nutzen die Sportwissenschaftlerinnen und Sportwissenschaftler beispielsweise, um Spielsituationen realitätsnah nachzustellen – sowohl visuell als auch auditiv. Damit gehen sie etwa den folgenden Fragen nach: Welche Informationen nehmen die Sportler während des Spiels auf? Was beeinflusst ihre Entscheidungen? Und was macht eine Profiathletin anders als eine Amateurin?
3-D-Brille mit Eyetracker
Um zu demonstrieren, wie das Sensomotoriklabor funktioniert, hat Ralf Kredel, Laborleiter und Dozent in der Abteilung für Bewegungs- und Trainingswissenschaft, Joni Bandi eingeladen. Die U-19-Stürmerin der Berner Young Boys steht noch etwas verloren in der Mitte des leeren Raums, sie ist zum ersten Mal im Labor. Sie trägt eine 3-D-Brille mit integriertem Eyetracker, die das nun rundum auf Wände und Boden projizierte virtuelle Fussballstadion inklusive Mit- und Gegenspielerinnen für sie so real wie möglich macht. An der Brille sind zwei winzige Infrarotkameras montiert, die ihre Augenbewegungen verfolgen. Während Bandi sich im Raum orientiert, einen (virtuellen) Ball annimmt und den (echten) Ball weitergibt, zeichnen weitere Infrarotkameras ihre Bewegungen mithilfe von reflektierenden Markern in Echtzeit und millimetergenau auf. Zeitgleich messen Platten im Boden die auftretenden Kräfte. Eine am ISPW und an der Phil.-hum. Fakultät entwickelte Software koordiniert all diese Datenströme und erlaubt beispielsweise, die virtuelle Umwelt an ihr Blickverhalten anzupassen.
Ob Fussball, Tennis oder Beachvolleyball: Im Berner Sensomotoriklabor kann jede Sportart simuliert werden. In der heutigen Demonstration geht es um Spielkreativität; dafür ist Fussball prädestiniert, weil die Sportart von den Spielern schnelle Entscheidungen in wechselnden Situationen verlangt. Ein Forschungsteam der Abteilung Bewegungs- und Trainingswissenschaft um Postdoktorand Stephan Zahno hat in einer Studie herausgefunden, dass praktisches Techniktraining kreativ bewertete Spielaktionen weit mehr fördert als das kognitive Einüben vielfältiger Entscheidungsoptionen. In der Praxis bedeuten diese Erkenntnisse, dass Trainer bei der Suche nach neuen Talenten eher auf gute Techniker als auf kreative Köpfe setzen sollten. Allerdings betont Kredel: «Das Sensomotoriklabor dient nicht in erster Linie dem Praxistraining, sondern der Forschung und Diagnostik. Wir nutzen die Expertise von Profisportlerinnen und -sportlern, um grundlegende Wahrnehmungs- und Handlungsmechanismen aufzudecken und zu verstehen, wie es Menschen gelingt, komplexe Situationen zu bewältigen – im Sport, aber auch im Alltag.»
«Wir nutzen die Expertise von Profisportlerinnen, um zu verstehen, wie es Menschen gelingt, komplexe Situationen zu bewältigen – im Sport, aber auch im Alltag.»
Ralf Kredel
Labor macht Situationen vergleichbar
Natürlich misst man das Verhalten von Fussballerinnen und Fussballern auch während eines realen Spiels. Die Experimente im Labor dienen der Vergleichbarkeit. Das ist wichtig, wenn es um die Durchführung von Experimenten zum komplexen menschlichen Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Entscheidungsverhalten geht. «Hier können wir mehrere Sportler mit der exakt selben Situation konfrontieren und messen, wie sie sich verhalten. Auf dem Feld ist das so nicht möglich», sagt Kredel. Ebenso können die Forschenden die Spielsituation zielgerichtet verändern: Wie reagiert beispielsweise U-19-Fussballerin Bandi, wenn ihre Gegenspielerin einen Meter weiter links steht oder der Ball in einem leicht anderen Winkel in ihre Richtung rollt?
Einzigartig in der Schweiz
Das Sensomotoriklabor ist seit 2016 in Betrieb und stellt einen Meilenstein in der sportwissenschaftlichen Forschung dar. «Früher führte man Studien mit Athleten am Computerbildschirm durch», sagt Kredel. Mit einer realen Spielsituation habe das aber kaum etwas zu tun, die Resultate dieser früheren Forschung sind dementsprechend wenig brauchbar. Das Hightechlabor hingegen kann alle relevanten Details einer Situation realitätsnah wiedergeben und erlebbar machen. Das Sensomotoriklabor ist nicht das einzige, aber mit Abstand das grösste Labor des ISPW. Mit seinen Ausmassen und technischen Möglichkeiten ist es einzigartig in der Schweiz. Dass die Universität Bern über eine solche CAVE-Umgebung verfügt, hat viel mit Ralf Kredel zu tun: Er hatte sich dafür eingesetzt, dass das Labor in das 2015 eröffnete Institutsgebäude an der Bremgartenstrasse integriert wurde. Als Sportwissenschaftler und Elektroingenieur bringt er zudem nicht nur das inhaltliche Interesse, sondern auch das technische Know-how mit, um bei Entwicklung, Installation und Wartung selbst Hand anzulegen – ein Aspekt, der viel zum Erfolg des Projekts beigetragen hat.
«Meine Erwartungen wurden übertroffen.»
Joni Bandi
Mittlerweile hat Bandi ihr gelb-schwarzes Fussballdress wieder gegen normale Freizeitkleidung gewechselt. Das erste virtuelle Training hat ihr gut gefallen: «Meine Erwartungen wurden übertroffen», sagt sie. Die Interaktion mit ihren Mitspielerinnen habe ihr zwar etwas gefehlt. «Aber die Spielsituation hat sich sehr echt angefühlt.»
Virtuelle Realitäten an der Universität Bern
Vielseitiger Einsatz
Virtuelle Realitäten (VR), wie sie im Sensomotoriklabor genutzt werden, kommen an der Universität Bern im Rahmen von verschiedensten Projekten zur Verwendung.
Beispielsweise werden VR zur Visualisierung komplexer Datensätze in den Geowissenschaften genutzt. Dadurch können unter anderem Modelldaten von Gesteinsstrukturen oder Alterungs- und Flüssigkeitstransportprozesse intuitiver verstanden werden.
Auch im klinischen Umfeld können VR unterstützend wirken. So können sie zur Stress- und Schmerzreduktion beitragen, indem die Patienten aus dem stressigen Operationssaal in eine entspanntere Umgebung versetzt werden. Auch werden sie bei virtuellen Trainings in der Notfallmedizin eingesetzt. So können selbst seltene Situationen realistisch und gleichzeitig gefahrlos eingeübt werden. Nicht zuletzt kommen aus diesem Grund VR auch in der Lehre zum Einsatz.
Insgesamt befassen sich beinahe alle Fakultäten mit dem Einsatz virtueller Realitäten. Die vielfältige Expertise in Entwicklung und Anwendung von VR macht deutlich, wie viel Synergiepotenzial in der Vernetzung der Akteure steckt. Aus diesem Grund wurde im Rahmen der Digitalisierungsstrategie der Universität Bern die Fokusgruppe «Extended Reality» gegründet. Sie steht allen themenaffinen Mitgliedern der Universität offen. Interessierte können sich beim Sprecher der Fokusgruppe, Ralf Kredel, melden.
Zur Person
Ralf Kredel
Kontakt:
Dr. Ralf Kredel
ralf.kredel@unibe.ch