Berns interstellare Chefköchin

Maria Drozdovskaya sucht täglich nach Rezepten. Aber nicht für ausgewogene Hauptgänge oder feine Desserts, sondern für Kometen, Sterne und Planeten. In ihrer Forschung untersucht sie, wie astrochemische Prozesse aus Staubkörnern, Gasen und Eispartikeln Himmelskörper formen – und vielleicht auch Leben.

Von Manuel Steffen 08. März 2023

Maria Drozdovskaya untersucht die Chemischen Prozesse der Planetenentstehung. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel
Maria Drozdovskaya untersucht die Chemischen Prozesse der Planetenentstehung. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel

«The Planetary Cookbook» heisst Maria Drozdovskayas Forschungsprojekt, welches der Schweizerische Nationalfonds SNF mit fast einer Million Franken unterstützt. Um Kulinarik geht es dabei aber nur im übertragenen Sinn. Im Fokus stehen nämlich nicht normale Kochvorgänge, sondern solche auf einer deutlich grösseren Skala. Jene, die bei der Entstehung astronomischer Objekte stattfinden.

Maria Drozdovskaya ist sichtlich erfreut, wenn sie von ihrem eingängig betitelten Forschungsvorhaben spricht. Erst vor kurzem hat sie in dessen Rahmen ein medial vielbeachtetes Paper veröffentlicht – über das kälteste Eis im Universum. «Solche extrem kalten Eispartikel bilden sich an Staubkörnern in sogenannten interstellaren Wolken», erklärt die Berner Weltraumforscherin, «diese Wolken unterlaufen irgendwann einen gravitationsbedingten Kollaps, verdichten sich im Zentrum und beginnen einen Stern zu bilden. Das umliegende Material ordnet sich scheibenförmig darum an und wird später zu Planeten und Kometen.»

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Auf der Suche nach den richtigen Zutaten

«Das interstellare Eis gehört also zu den grundlegendsten Zutaten für die Entstehung junger Himmelskörper», fährt Drozdovskaya fort. «Findet man heraus, wie dieses Eis zusammengesetzt ist, erhält man auch Anhaltspukte dafür, woraus die grösseren Himmelskörper bestehen», so die Weltraumforscherin. Ähnlich wie beim Kochen ist es auch beim Erforschen der Planetenentstehung unerlässlich, die richtigen Zutaten zu kennen.

Bild des James Webb-Weltraumteleskops der NASA/ESA/CSA von der dunklen Molekülwolke Chameleon I, die Maria Drozdovskaya und ihr Team untersucht haben. © NASA, ESA, CSA, und M. Zamani (ESA/Webb)
Bild des James Webb-Weltraumteleskops der NASA/ESA/CSA von der dunklen Molekülwolke Chameleon I, die Maria Drozdovskaya und ihr Team untersucht haben. © NASA, ESA, CSA, und M. Zamani (ESA/Webb)

Zur Untersuchung des Eises verwendeten Drozdovskaya und ihre Mitforschenden aus dem internationalen «Ice Age» Forschungsteam das neue James-Webb-Weltraumteleskop. «Wir wurden als eines von nur dreizehn Projekten in der ersten Selektionsrunde ausgewählt», erzählt sie stolz. Das James Webb erlaube es ihnen, tiefer in die interstellaren Wolken hineinzusehen, aus denen sich Planeten und Sterne bilden, als je zuvor.

Erstmalig ist auch das Resultat: in den James-Webb-Daten fanden Drozdovskaya und ihre Kolleginnen und Kollegen Zeichen von komplexen organischen Verbindungen. «Organische Moleküle wurden zwar schon in Gasen interstellarer Wolken nachgewiesen, aber noch nie in deren Eis. Das ist ein weiterer Hinweis dafür, dass die Moleküle, welche die Grundlage von Leben bilden, schon sehr früh in der Kometen- und Planetenentstehung vorhanden sind», sagt Drozdovskaya.

Maria Drozdovskaya mit einem Modell von Methanol, einer der organischen Verbindungen, die sie in interstellaren Wolken nachweisen konnte. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel
Maria Drozdovskaya mit einem Modell von Methanol, einer der organischen Verbindungen, die sie in interstellaren Wolken nachweisen konnte. © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel

Faszination Astrochemie

Drozdovskayas Forschungsinteresse ist aber nicht per se die Entstehung des Lebens, sondern die Astrochemie im Allgemeinen: «Was mich von Beginn an zu dieser Disziplin hingezogen hat, ist das Wechselspiel zwischen winzigen molekularen Prozessen und den unvorstellbar riesigen Objekten, die wir im All beobachten», erklärt die Weltraumforscherin. Aus keiner anderen Perspektive lasse sich dieses Wechselspiel auf vergleichbare Weise begreifen: «als Astrochemikerin sieht man in einzigartiger Weise, wie die kleinstmöglichen Entwicklungen die Entstehung der Himmelskörper beeinflussen und sich über die Zeit auf die grössten Systeme des Universums auswirken. Dabei man fragt sich: treibt die Physik die Chemie, oder die Chemie die Physik an?»

Die Begeisterung, mit der Drozdovskaya über ihrer Forschung spricht, ist ansteckend. Und auch sie wurde einst angesteckt. Ihr Vater, ein vielseitig interessierter Ingenieur, habe sie als Kind mit der Astronomie bekanntgemacht und ihr sein Interesse weitergegeben. Seitdem ist sie von diesem Fach fasziniert. «Manchmal fühlt man sich einfach zu etwas hingezogen und ist davon begeistert», so die junge Forscherin. Die akademische Laufbahn sei für sie dann eine natürliche Wahl gewesen. Auch aus familiären Gründen: «beide meiner Eltern haben einen Doktortitel – also war für mich früh klar, dass ich auch einen haben musste», sagt sie lachend.

«Als Astrochemikerin sieht man, wie sich die kleinstmöglichen Entwicklungen auf die grössten Systeme des Universums auswirken.» © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel
«Als Astrochemikerin sieht man, wie sich die kleinstmöglichen Entwicklungen auf die grössten Systeme des Universums auswirken.» © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel

Der Astrochemie den Weg bereiten – mithilfe von ROSINA

Nach Bern kam Drozdovskaya 2016, kurz nach dem Abschluss ihrer Dissertation. Zuvor war die niederländisch-russische Doppelbürgerin an der Universität Leiden tätig, die über ein grosses Renommee in der Astrochemie verfügt. Entsprechend stark ist der Kontrast zu Bern: «hier gibt es nur wenige Astrochemiker und Astrochemikerinnen», stellt Drozdovskaya fest. «Es ist aber aufregend und eine tolle Gelegenheit, dabei zu helfen, der Astrochemie an der Uni Bern den Weg zu bereiten.»

Von der Berner Weltraumforschung profitieren konnte sie trotzdem: «Durch die Arbeit am Center for Space and Habitability (CSH) und im National Center of Competence in Research (NCCR) PlanetS konnte ich einiges über die Entstehung von Exoplaneten und Kometen lernen. Dies hat es mir erlaubt, mich näher auf die Verbindungen zwischen diesen Himmelskörpern und ihren früheren Entwicklungsstufen zu konzentrieren», erzählt Drozdovskaya.

In diesem Aspekt ihrer Forschung sei es für sie ein grosses Glück, in Bern zu sein: «es war zentral, mich am selben Ort zu befinden, wie das Berner Team, welches das ROSINA Instrument der ESA-Mission ROSETTA entwickelt hat», so Drozdovskaya. «Ein Teil meiner Forschung der letzten Jahre bestand darin, die Daten des ROSINA-Instruments zu verwenden, um die chemische Zusammensetzung interstellarer Wolken mit derjenigen von Kometen zu verbinden. Ohne die Option, direkt mit den an ROSINA Beteiligten Personen zu kollaborieren, wäre das nicht möglich gewesen.»

Infografik, die das Auftreten von phosphorhaltigen Molekülen sowohl in das Sternentstehungsgebiet AFGL 5142 wie auch dem von ROSETTA beobachteten Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko zeigt. © ALMA (ESO/NAOJ/NRAO), Rivilla, Drozdovskaya et al. 2020; ESO/L. Calçada; ESA/Rosetta/NAVCAM; Mario Weigand, www.SkyTrip.de

Unabhängigkeit, Mentoring und Schattenseiten

Gefragt, was sie an ihrer Tätigkeit in Bern am meisten möge, muss Drozdovskaya nicht lang überlegen: «Die Fähigkeit, hier meine eigene Forschungsrichtung zu definieren, ist ein grosser Vorteil», so die Astrochemikerin. Als Stipendiatin am CSH und Trägerin eines der begehrten SNF Ambizione Grants für «The Planetary Cookbook» kann sie ihre wissenschaftliche Arbeit selbstständig planen und über ein eigenes Budget verfügen. «Es ist ein grosses Privileg diese Forschungsfreiheit zu geniessen.»

Zum Ambizione Grant des SNF gehörten nicht nur Forschungsgelder, sondern auch eine Doktoratsstelle. Eine Nachwuchsforscherin zu betreuen sei ein grosser Schritt in ihrer wissenschaftlichen Karriere gewesen, meint Drozdovskaya: «Am Anfang war ich definitiv nervös. Ich habe viele Tipps bei Kolleginnen und Kollegen dazu eingeholt, was eine gute Betreuerin ausmacht», erzählt sie. «Das Mentoring war dann aber unglaublich bereichernd. Es macht mir grosse Freude, meine Forschung mit jemandem zu teilen und zusehen zu können, wie die Doktorandin lernt, beginnt die richtigen Fragen zu stellen, und eigene Ideen einbringt.»

An der akademischen Karriere sieht Maria Drozdovskaya aber auch Schattenseiten: «Die Jobsicherheit ist bekanntlich ein Problem. Läuft eine Stelle aus, weiss man nie genau, wie es weitergeht.» Auch danach gefragt, wie es sei, als Frau in einem historisch von Männern dominierten Fachgebiet zu arbeiten, äussert Drozdovskaya bedenken: «In der Astrochemie sind die Verhältnisse etwas ausgeglichener – ich hatte tatsächlich schon Calls, in denen nur Frauen anwesend waren! Aber in der Astronomie als Ganzes sieht man immer noch eine grosse Diskrepanz, besonders auf den höheren Karrierestufen. Es ist eine schwierige Frage, wie man damit umgehen soll.» Sie hält fest: «Die Teams, die am besten arbeiten und die kreativsten Lösungen finden, sind divers.»  

«Das Mentoring ist unglaublich bereichernd – es macht mir grosse Freude, meine Forschung mit jemandem zu teilen.» © Universität Bern, Bild Vera Knöpfel
«Das Mentoring ist unglaublich bereichernd – es macht mir grosse Freude, meine Forschung mit jemandem zu teilen.» © Universität Bern, Bild Vera Knöpfel
Maria Drozdovskaya (l.) mit ihrer Doktorandin Beatrice Kulterer (r.) © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel
Maria Drozdovskaya (l.) mit ihrer Doktorandin Beatrice Kulterer (r.) © Universität Bern, Bild: Vera Knöpfel

Das nächste grosse Projekt

Die Jobsicherheit spricht Drozdovskaya auch deshalb an, weil «The Planetary Cookbook» im Oktober dieses Jahres enden wird. «Ich bin momentan sehr aktiv auf Jobsuche», sagt die Astrochemikerin. Die nächsten grossen Projekte sind aber schon geplant. «Ich möchte mich eingehender damit befassen, wie viele organische Moleküle sich in den Geburtsstätten der Kometen und Planeten befinden und unter welchen Bedingungen sie auftreten», erzählt Drozdovskaya. Ausserdem leitet sie zurzeit ein internationales Team namens «COMPASS», das mit Hilfe des ALMA-Observatoriums in der Atacama-Wüste Beobachtungen durchführen wird. «Wir verwenden ALMA um die Zusammensetzung der Gase zu untersuchen, die sich neben dem Eis in den interstellaren Wolken befinden.»

Maria Drozdovskaya richtet ihren Forschungsblick also bereits auf die nächsten Zutaten für die Himmelskörper. Ihr bisheriges Rezept teilt sie gerne – und mit einem Schmunzeln: «Man nehme eine interstellare Wolke aus Staubkörnern, Eis und Gas, gebe Gravitation hinzu, koche und knete die Masse, bis sie sich zu einem Planetensystem formen lässt, und garniere zum Schluss mit einer Prise organischer Moleküle.»

Zur Person

Maria Drozdovskaya

studierte Astronomie und Mathematik an der Universität Leiden in den Niederlanden, wo sie 2016 mit einer astrochemischen Arbeit promovierte. An die Universität Bern kam Drozdovskaya noch im selben Jahr. Seitdem ist sie als unabhängige Forscherin am Center for Space and Habitability (CSH) tätig: zunächst als CSH und IAU Gruber Foundation Fellow und seit 2018 als Trägerin eines SNF Ambizione Fellowships. Ihr aktuelles, vom SNF gefördertes Projekt «The Planetary Cookbook» untersucht die chemischen Abläufe in der Entstehung von Himmelskörpern. Seit kurzem leitet sie das internationale Forschungsprogramm COMPASS, welches unter Verwendung des ALMA-Observatoriums nach organischen Molekülen im All sucht.

James-Webb-Weltraumteleskop identifiziert Herkunft eisiger Bausteine des Lebens

Interstellare Molekülwolken gelten als Wiegen von Planetensystemen. Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Center for Space and Habitability (CSH) der Universität Bern und des Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) PlanetS entdeckt mithilfe des James-Webb-Weltraumteleskops das tiefst gelegene und kälteste Eis, das je in einer solchen Molekülwolke nachgewiesen wurde. Der Fund ermöglicht der Astronomie neue Einblicke in die eisigen Bestandteile, die im Verlauf der Zeit in Planeten eingebaut werden und dort letztlich die Grundlage für Leben bilden könnten.

Zur Medienmitteilung

Berner Weltraumforschung: Seit der ersten Mondlandung an der Weltspitze

Als am 21. Juli 1969 Buzz Aldrin als zweiter Mann aus der Mondlandefähre stieg, entrollte er als erstes das Berner Sonnenwindsegel und steckte es noch vor der amerikanischen Flagge in den Boden des Mondes. Dieses Solarwind Composition Experiment (SWC), welches von Prof. Dr. Johannes Geiss und seinem Team am Physikalischen Institut der Universität Bern geplant, gebaut und ausgewertet wurde, war ein erster grosser Höhepunkt in der Geschichte der Berner Weltraumforschung.

Die Berner Weltraumforschung ist seit damals an der Weltspitze mit dabei: Die Universität Bern nimmt regelmässig an Weltraummissionen der grossen Weltraumorganisationen wie ESA, NASA oder JAXA teil. Mit CHEOPS teilt sich die Universität Bern die Verantwortung mit der ESA für eine ganze Mission. Zudem sind die Berner Forschenden an der Weltspitze mit dabei, wenn es etwa um Modelle und Simulationen zur Entstehung und Entwicklung von Planeten geht.

Die erfolgreiche Arbeit der Abteilung Weltraumforschung und Planetologie (WP) des Physikalischen Instituts der Universität Bern wurde durch die Gründung eines universitären Kompetenzzentrums, dem Center for Space and Habitability (CSH), gestärkt. Der Schweizer Nationalfonds sprach der Universität Bern zudem den National Center of Competence in Research (NCCR) PlanetS zu, den sie gemeinsam mit der Universität Genf leitet.

Zum Autor

Manuel Steffen arbeitet als Hochschulpraktikant in der Abteilung Kommunikation und Marketing der Universität Bern.

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