Musikethnologie
Universitäre Forschung kommt ins Kino
Der Film «Beyond Tradition» ist angelaufen. Hinter dem prämierten Werk steht die Berner Musikethnologin Lea Hagmann mit ihrer Passion für Musik und Menschen aus verschiedenen Kulturen – und das Anliegen, Forschung mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Heute ist die Vorpremiere im Berner Kino Rex, am Donnerstag kommt Ihr Film «Beyond Tradition: Kraft der Naturstimmen» schweizweit in die Kinos. Welches ist Ihre Lieblingsszene?Lea Hagmann: Davon gibt es viele! Eine inhaltlich wichtige Szene finde ich ein Gespräch zwischen dem Appenzeller Naturjodler Meinrad Koch und Marja Mortensson, die im sámischen Gesang Joik verwurzelt ist. In ihrer Küche im norwegischen Sápmi tauschen sie sich über Gesangstraditionen und deren Weiterentwicklung aus und sind sich darin einig: Wenn man die Wurzeln wirklich kennt, darf man Traditionen ausweiten und mit anderen Stilen mischen, selbst wenn das in traditionellen Kreisen zum Teil stark kritisiert wird.
Genau darum, um Tradition und Innovation, geht es in Ihrem Dokumentarfilm über Naturstimmen. Welche Botschaft möchten Sie transportieren?Mein Anliegen ist es aufzuzeigen, dass es verschiedene Arten gibt, auf Volksmusik zu schauen und die Frage zu beantworten, was «traditionell» oder was «authentisch» ist. Ist es authentisch, wenn man Musik immer genau gleich repliziert, wie zum Beispiel in einer historischen Aufnahme? Oder eher, wenn man die Essenz nimmt, etwas Eigenes daraus kreiert und so eine künstlerische Authentizität schafft? Ist Musik dann authentisch, wenn sie Menschen berührt? Zusammen mit dem Filmteam möchte ich dazu einladen, die hitzige Debatte rund um Tradition mit etwas Abstand anzuschauen.
«Ich möchte dazu einladen, die hitzige Debatte rund um Tradition mit etwas Abstand anzuschauen.»
Lea Hagmann
Wird diese Debatte wirklich so hitzig geführt?Ja, und zwar global. Volksmusik ist immer politisch, sie ist geknüpft an die Idee von Nation und Identität, viele Menschen fühlen sich emotional mit ihr verbunden. Volksmusik wird zum Symbol für Heimat und somit auch instrumentalisiert. Aber die «eine authentische» Volksmusik gibt es gar nicht. In jeder musikalischen Tradition wurde zu bestimmten Zeitpunkten festgelegt, wie die Volksmusik zu klingen hat, durch Fachleute oder Vereine, die sich als Hüter der Tradition verstehen. Das hat oft mit Nationalismus und Patriotismus zu tun. In der Schweiz wurde der Eidgenössische Jodlerverband beispielsweise 1910 als Abgrenzung gegen das Jodeln aus Österreich und Bayern und gegen das «gekünstelte» Jodeln auf der Bühne – die sogenannte «Tirolerei» – gegründet. So begann man festzuschreiben, was hierzulande richtiges, «ursprüngliches» Jodeln ist, sogar die genauen Jodelsilben wurden festgelegt.
Es gibt auch klare Regeln, wie man eine Tracht zu tragen hat. Das bekam der Hitziger Appenzeller Chor mit unserem Protagonisten Meinrad Koch einmal zu spüren: Anlässlich eines Fernsehinterviews trug einer von ihnen den obersten Knopf offen. Daraufhin wurden sie in einem vierseitigen Brief der Trachtenvereinigung Appenzell Innerrhoden dafür gerügt. Sie haben diese Episode dann in einem Rap vertont, in dem sie unter anderem rappen: Die Tradition ist wunderschön, aber sie nimmt einem den Atem, «Chnopf uf git Schnuf». Unsere drei Protagonistinnen und Protagonisten setzen sich respektvoll und reflektiert mit ihren musikalischen Traditionen auseinander und entwickeln diese weiter. Vor welchen unterschiedlichen kulturellen Hintergründen machen sie das?Der Joik ist ein jodelartiger und ursprünglich schamanistischer Gesang der Sámi – der skandinavischen Indigenen – der jahrhundertelang verboten war. Wenn die Sámi-Sängerin Marja Mortensson joikt, geht es nicht nur um ein schönes Klangerlebnis, sondern auch um Selbstbestimmung und die Rückeroberung ihrer indigenen Kultur. Gleichzeitig kombiniert sie den traditionellen Joik mit Jazz und klassischer Musik.
Die Georgierin Ninuca Kakhiani wiederum ist in der Schule mit den typisch mehrstimmigen georgischen Liedern gross geworden. Durch den Jugendchor Tutarchela, der international auftritt, lernt sie andere Kulturen kennen und musikalische Grenzen sprengen, so dass sie die georgischen Lieder mit genauso grosser Begeisterung singt wie Queen, Rammstein oder Lion King.
Meinrad Koch wiederum ist in einer traditionsbewussten Appenzeller Familie aufgewachsen, lebt zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen in Basel und produziert Insektenburger. Er nimmt weiterhin an den Alpaufzügen teil und singt unter anderem im Hitziger Appenzeller Chor. Dieser kombiniert «Rugguussele», den mehrstimmigen Naturjodel, mit Hip Hop und rappt seine Philosophie zu Vogelgezwitscher, Ziegenglocken und Simon und Garfunkels «Bridge Over Troubled Water». Im Juli wurde «Beyond Tradition» vom International Council of Traditional Music ICTM ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen diese internationale Würdigung?Das bedeutet mir als Wissenschaftlerin viel, weil es heisst, dass unser Film musikethnologisch abgesegnet und anerkannt ist. Die ICTM ist musikethnologisch die Topliga: die grösste internationale musikethnologische Gesellschaft, die alle zwei Jahre eine World Conference durchführt, immer in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent. Für die diesjährige Konferenz in Ghana wurden zwölf Filme eingereicht, und wir haben eine Honorary Mention für den zweiten Platz bekommen.
Wie ist die Idee zum Film entstanden?2017 habe ich mich auf eine Forschungsstelle beworben, bei dem der Naturjodel rund um den Alpstein untersucht werden sollte. Im Vorstellungsgespräch wurde ich gefragt, wie ich meine Forschung der Öffentlichkeit zugänglich machen würde. Da habe ich geantwortet: mit einem Kinofilm! Ich hatte zwar noch nie einen Film gedreht, kannte aber den Filmemacher Thomas Rickenmann und fand, Bücher schreiben alle. Die Stelle habe ich zwar nicht bekommen, aber die Idee ist geblieben, und ich habe sie ausgebaut, auf jodelartigen Gesang in drei Ländern. Die Kontakte und das Wissen dazu habe ich aus meiner Forschung, insbesondere zu den Musikrevivals – dabei geht es um weltweite Bewegungen im 20. und 21. Jahrhundert, die alte Volksmusik wiederbeleben.
Als es ums Drehbuchschreiben ging, fehlten Thomas und mir das Know-how, und da haben wir meine Freundin Rahel von Gunten dazugeholt. Mit ihr zusammen habe ich das Drehbuch geschrieben und die Regie gemacht – notabene während meiner Ferien und Freizeit, in einem Wohnwagen – und sie hat am Ende Montage und Schnitt verantwortet. Und nun hat unser Kameramann und Produzent Thomas Rickenmann sich darum gekümmert, dass der Film in ganz vielen Kinos gezeigt wird.
Was treibt Sie an, Ihre Freizeit über Jahre in ein solch aufwendiges Filmprojekt zu investieren?Meine Passion! Ich liebe Musik und Menschen aus verschiedenen Kulturen, ich baue gerne Brücken und vermittle. Es gibt mir Energie, wenn ich von dem, was mich begeistert und interessiert, erzählen kann. Und es ist mir ein grosses Anliegen, meine Forschung aus dem universitären Elfenbeinturm hinaus in die Öffentlichkeit zu tragen. Dazu eignet sich ein Kinofilm hervorragend.
«Ich möchte das Misstrauen gegenüber der Universität abbauen und zeigen: Wir generieren Wissen, das uns alle betrifft.»
Lea Hagmann
Warum ist es Ihnen ein solch grosses Anliegen, die Forschung unter die Leute zu bringen?Ich finde, dass Universitäten manchmal die Tendenz haben, als geschlossenes System zu funktionieren. Das Wissen, das hier generiert wird, ist spannend, wird aber oft in sich gewälzt. In meinen Augen hat die Öffentlichkeit ein Recht, von der Forschung zu profitieren, und es ist unsere Verantwortung, dafür eine Sprache zu finden und die Forschung so zu übersetzen, dass sie verstanden wird.
Deshalb habe ich recht früh angefangen, auch beim Radio SRF als freie Musikredaktorin zu arbeiten. Natürlich ist das etwas weniger detailliert als reine Wissenschaft, das Wissen wird in eine direktere, emotionalere Sprache übersetzt, das verlangt eine gewisse Pauschalisierung, von der ich weiss, dass sie im Detail nicht immer ganz genau stimmt. Aber ich bin der Meinung, dass das besser ist, als unser Wissen nicht zu teilen. Ich möchte das Misstrauen gegenüber der Universität abbauen und zeigen: Wir generieren Wissen, das uns alle betrifft.
Der Dokumentarfilm «Beyond Tradition: Kraft der Naturstimmen» von Lea Hagmann und Rahel von Gunten begleitet junge Sänger und Sängerinnen aus dem schweizerischen Appenzell, dem georgischen Rustavi und dem skandinavischen Sápmi auf ihrer Reise des Brückenbauens zwischen Tradition und Innovation. Der Film lässt die Protagonistinnen und Protagonisten erzählen, warum sie sich mit dem appenzellischen Ruggusseli, der georgischen Mehrstimmigkeit und dem saamischen Joik verbunden fühlen, was sie an Ursprünglichem übernehmen und wo sie sich Veränderungen wünschen. Dabei werden auch zeitgenössische Diskussionen um Genderthemen, Kolonialismus und ethnische Minoritäten mit einbezogen. Montag, 9.10.2023, 20 Uhr, Kino Rex, Bern: Donnerstag, 12.10.2023, in diversen Kinos schweizweit. Bern: 20 Uhr, Kellerkino Die promovierte Musikethnologin Lea Hagmann leitet am Center for Global Studies der Universität Bern den interdisziplinären Master-Studiengang Word Arts and Music und ist als Assistentin für kulturelle Anthropologie der Musik am Musikwissenschaftlichen Institut tätig. Ihre Kernbereiche sind Identitätsbildung durch Musik, Musik und Sprache sowie inter- und transkultureller Austausch. Fragestellungen zu Tradition und Innovation bilden den Schwerpunkt ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit. Zudem arbeitet sie als freie Musikredaktorin bei SRF 2. Die Universität Bern betreibt Spitzenforschung zu Themen, die uns als Gesellschaft beschäftigen und unsere Zukunft prägen. Im uniAKTUELL zeigen wir ausgewählte Beispiele und stellen Ihnen die Menschen dahinter vor – packend, multimedial und kostenlos.Über den Film
Eine zauberhafte und informative Klang-Bild-Reise
Vorpremiere
Vorpremiere mit Lea Hagmann, Rahel von Gunten und Thomas Rickenmann; Moderation Britta Sweers, Uni BernFilmstart
Zur Person
Über Lea Hagmann
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