Die Fiktion zeigt uns, wie wir lieben sollen

Die Wirklichkeit imitiert die Fiktion mindestens so oft wie umgekehrt, weiss die Literaturwissenschaft. Auch in der Liebe: Wer seine Gefühle ausdrücken will, bedient sich überraschend oft der konventionellen Bildsprache von Film oder Roman. Aber halten sie auch Formeln für queere Beziehungen bereit?

Text: Nicolas Detering 16. März 2023

Nicolas Detering, Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik. © zvg
Nicolas Detering, Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik. © zvg

Letzten Advent war es wieder so weit – auf gleich mehreren Kanälen und Streamingdiensten lief die Liebesschnulze Love Actually (2003), ein britischer Episodenfilm mit Staraufgebot, der seit geraumer Zeit als der moderne Weihnachtsklassiker schlechthin gilt. Viele Szenen sind geradezu ikonisch geworden und haben Dutzende Reenactments provoziert: Wie man bei Youtube bestaunen kann, werden reale Hochzeiten dem fiktionalen Vorbild nachgestaltet, indem die Gäste das Hochzeitspaar durch eine improvisierte Aufführung von All you need is love überraschen, oder es gestehen junge Männer ihrer Partnerin die Liebe mithilfe beschriebener Tafeln, die sie nach und nach «abblättern» – ganz wie im Film.

Die Fiktion hat über Jahrhunderte eine kulturspezifische Semantik der Liebe entwickelt, der man sich kaum entziehen kann. Wir mögen unsere Liebesbeziehungen als höchst intim empfinden, unsere Liebesgefühle als subjektiv und einzigartig. Aber der Soziologe Niklas Luhmann hat bereits 1982 postuliert: «Liebe» lasse sich besser als Medium auffassen denn als Gefühl. Als medialer Code von Intimkommunikation sei sie historischem Wandel unterworfen und müsse immer neu erlernt und geübt werden. Über Jahrhunderte habe die Literatur dabei geholfen, gab sie doch bestimmte Muster vor, die die Leserschaft nachahmte.

Zum Autor

Nicolas Detering

ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts. Er leitet ein SNF-Projekt zu modernen Aneignungen geistlicher Gattungen wie der Heiligenlegende.

Vor allem die galanten Romane um 1700 waren in dieser Hinsicht erfrischend ehrlich. Nach französischem Vorbild entfalteten sie eine «galante Conduite», ein Verhaltensideal, das Gespräch, Tanz und Brief umspannte und vorgab, wie man Verliebtheit rhetorisch gewandt auszudrücken hatte. Das weckte aber auch Misstrauen. Bald schon setzten sich Forderungen durch, die Aufrichtigkeit der Gefühle durch eine möglichst unrhetorische Sprache zu artikulieren. So bevorzugte man in der Zeit der Empfindsamkeit – etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts – die natürlichen Zeichen gegenüber den konventionellen: die Tränen, die Umarmung, die Ohnmacht, den Kuss. Anders als in den erotischen Verführungskünsten des Barock verstand man Liebe nun als entsexualisierte, auf innerer Sympathie beruhende Verbundenheit des Herzens. Dadurch wurde sie der Freundschaft angenähert.

In leidenschaftlicher Freundschaft verbunden

Bis heute vermag der Freundschaftskult der Empfindsamkeit zu irritieren. Besonders die Korrespondenz des Halberstädter Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim hat es in sich. «Was soll ich Ihnen sagen, liebster Freund?», schreibt ihm Johann Jacob Jacobi 1767, «Diese Sprache der Liebe, der Erkenntlichkeit sagt mehr als jede andere, und sie ist am wenigsten entheiligt. […] So zärtlich, so feurig, so stark müßt’ ich singen, um mein ganzes Gefühl auszudrücken. Jeder Gedanke an Sie, liebster Freund, ist Liebe, die heftigste Liebe.» Nun gibt es keinen Beleg dafür, dass Jacobi oder Gleim in unserem heutigen Sinne «schwul» waren. Die Liebesbriefe, die sie austauschten, demonstrieren aber die Überlagerungen des Liebes- und des Freundschaftscodes im 18. Jahrhundert: Wer sich als guter Freund zeigen wollte, bewies dies mit Überschwang, Treueschwüren – und Küssen.

Zugleich deutet der Fall auf ein altes Problem hin: In einer Zeit, in der Homosexualität tabuisiert und kriminalisiert wurde, war die kulturelle Semantik der Liebe stets heteronormativ. Welche Möglichkeiten gab es überhaupt, gleichgeschlechtliches oder ansonsten queeres Begehren zu artikulieren? Darüber hat die Literaturwissenschaft seit Längerem nachgedacht. Wie queere Lektüren zeigen konnten, entpuppen sich viele historische Texte als durchaus subversiv. Das gilt etwa für die vormodernen Heiligenlegenden, die davon erzählen, wie sich antike Märtyrer der heteronormativen Ehe verweigerten, um einander in homosozialen Zirkeln in gegenseitiger Zärtlichkeit und Verehrung verbunden zu bleiben, von erotischen Fantasien heimgesucht zu werden oder sich bis zur Ekstase zu geisseln. Kein Wunder, dass etwa der heilige Sebastian später zu einer Ikone der Homosexuellenbewegung avancieren konnte.

Codes für gleichgeschlechtliche Liebe

Und die homosoziale Liebe, im Unterschied zum transgressiven Begehren? Der Mediävist Andreas Kraß hat argumentiert, dass die Geschichte der Männerfreundschaft vielleicht eine heimliche Parallele zur Geschichte der Heteroehe darstellen könnte. Indem sie die Freundschaft als Bund der Treue (bis in den Tod) und der Seelenverwandtschaft darstellt, hat die Literatur gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen imaginiert, die in gewisser Weise analog zur Ehe funktionierten. Solche Übergänge zwischen Freundschaft und Liebe erprobt noch das Hollywood der Gegenwart. Bei Netflix erfreut sich der Weihnachtsfilm Single all the way (2021) erstaunlicher Erfolge. Er überträgt die Klischees des Genres auf ein homosexuelles Freundespaar, das beim Familienfest seine Liebe füreinander entdeckt. So schematisch die Handlung und die Figuren auch erscheinen – als eine der ersten öffnet diese romantische Weihnachtskomödie den filmischen Code des Mediums «Liebe» auch für gleichgeschlechtliche Paare.

Das Print-Magazin der Universität Bern

4x im Jahr uniFOKUS im Briefkasten

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem neuen Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS zeigt viermal pro Jahr, was Wissenschaft zu leisten vermag. Jede Ausgabe fokussiert aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen thematischen Schwerpunkt und will so möglichst viel an Expertise und Forschungsergebnissen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bern zusammenführen.

Das Online-Magazin der Universität Bern

uniAKTUELL als Newsletter abonnieren

Die Universität Bern betreibt Spitzenforschung zu Themen, die uns als Gesellschaft beschäftigen und unsere Zukunft prägen. Im uniAKTUELL zeigen wir ausgewählte Beispiele und stellen Ihnen die Menschen dahinter vor – packend, multimedial und kostenlos.

Oben