Kanonenkugeln und Küsse in höheren Dimensionen

An der ersten ihrer drei Einstein Lectures an der Universität Bern verschaffte die Mathematikerin Maryna Viazovska einen – auch für Laien vergnüglichen – Einblick in die über 400-jährige Ideengeschichte einer Vermutung.

Text: Ori Schipper 05. Dezember 2023

Fields-Medaillenträgerin Maryna Viazovska hält die Einstein Lectures 2023 an der Universität Bern. © Universität Bern, Bild: Ivo Schmucki
Fields-Medaillenträgerin Maryna Viazovska hält die Einstein Lectures 2023 an der Universität Bern. © Universität Bern, Bild: Ivo Schmucki

In ihrem Fach ist sie ein Star: Seit Maryna Viazovska im Jahr 2016 ein jahrhundertealtes mathematisches Problem geknackt hat, wird sie mit Preisen regelrecht überhäuft. Für ihre «raffinierte und elegante Lösung», wie sich die Direktorin des Mathematischen Instituts Christiane Tretter in ihrer Einleitung ausdrückte, erhielt Viazovska, Professorin für Zahlentheorie an der EPF Lausanne, im letzten Jahr sogar die Fields-Medaille, die oft als Nobelpreis der Mathematik bezeichnet wird.

«Streben nach intellektueller Schönheit»

Doch trotz ihren zahlreichen Auszeichnungen und dem grossen Renommee scheint Viazovska ohne Starallüren auszukommen. In ihrem Vortrag, wie auch in ihren Antworten auf die Fragen aus dem Publikum, kommen viel eher ihre humorvoll-pragmatischen Wesenszüge zur Geltung. So macht sie zwar gleich zu Beginn geltend, dass sie als Mathematikerin vor allem vom «Streben nach intellektueller Schönheit» angetrieben ist, dass aber die Vermutung, die der Astronom Johannes Kepler im Jahr 1611 aufgestellt hatte, damals durchaus auch handfesten Interessen diente.

ZUR PERSON

© EPFL, Bild: Fred Merz

Die ukrainische Mathematikerin Maryna Viazovska ist Professorin für Zahlentheorie an der EPF Lausanne. Sie wurde im Jahr 2022 für ihre Lösung des Kugelpackungsproblems in den Dimensionen 8 und 24 mit einer Fields-Medaille ausgezeichnet, die auch als «Nobelpreis der Mathematik» gilt.

Britische Aristokraten wollten im Seekrieg gegen Spanien wissen, wie sie die Kanonenkugeln am besten auf ihren Schiffen verstauen konnten. «Der damit beauftragte Mathematiker Thomas Harriot hat das nicht auf die leichte Schulter genommen, sondern sich mehrere Jahre intensiv mit dieser Frage beschäftigt – und schliesslich einen Briefwechsel mit Kepler gestartet», erzählte Viazovska.

«Als Mathematikerin bin ich vor allem vom Streben nach intellektueller Schönheit angetrieben.»

Maryna Viazovska

In einem der heute noch erhaltenen Briefe stellte der berühmte Astronom die Vermutung auf, dass die Kugeln am platzsparendsten gestapelt werden, wenn die einzelnen Kugelschichten gegeneinander versetzt sind, so dass die Kugeln der oberen Schicht in die Hohlräume zwischen den Kugeln in der unteren Schicht hineinragen. «Diese Aussage wirkt selbstverständlich», sagte Viazovska. Und tatsächlich sei diese Art Stapelung auch überall zu finden, wo in Marktständen etwa aufgetürmte Äpfel oder Orangen feilgeboten werden.

Streit um die Kusszahl

Doch Kepler konnte seine Aussage nicht belegen. «Ihm fehlte damals die heute etablierte mathematische Begrifflichkeit», führte Viazovska aus, bevor sie auf den Streit zwischen den beiden britischen Mathematikern Isaac Newton und David Gregory überleitete, die sich 1694 (also etwas mehr als 80 Jahre später) über die Keplersche Vermutung in die Haare gerieten.

Im Zentrum der Auseinandersetzung stand die Frage, ob eine Kugel im dichten Stapel maximal 12 (wie Newton behauptete) oder vielleicht sogar 13 Nachbarn hat (wie Gregory meinte), die die zentrale Kugel berühren – oder küssen. «Der Streit um die Kusszahl zeugt von einer anderen Epoche, als auch die Geometrie romantisiert wurde», sagte Viazovska. Und er endete damit, dass «Newton mit seiner guten mathematischen Intuition» recht behielt.

Die «Kusszahl»: Wie viele Kugeln «küssen» die rote Kugeln in der Mitte? © wikimedia commons, Bild: S.Wetzel
Die «Kusszahl»: Wie viele Kugeln «küssen» die rote Kugeln in der Mitte? © wikimedia commons, Bild: S.Wetzel

Trotzdem sollte es danach noch mehr als 300 Jahre dauern, bis die Prosa aus dem Briefwechsel in ein Theorem überführt wurde, das dann mathematisch einwandfrei bewiesen werden konnte. Der US-amerikanische Mathematiker Thomas Hales veröffentlichte den Beweis 1998 nach über 10-jähriger Arbeit – und griff dafür als einer der ersten seines Fachs auf die Rechenkraft von Computern zurück, wodurch sich «die Mathematik tiefgreifend verändert hat», erzählte Viazovska.

Logische Struktur und mathematische Abstraktion

Die optimale Stapelung und Kusszahlen spielen auch in Viazovskas Arbeiten eine zentrale Rolle. Doch sie schaut sich das Problem in höheren Dimensionen an. «Albert Einstein hat uns dazu gebracht, zusätzlich zu den drei räumlichen Dimensionen die Zeit als vierte Dimension aufzufassen», hielt Viazovska fest. «Für mich als Mathematikerin steht jedoch nicht die Interpretation, sondern nur die logische Struktur im Vordergrund», fügte sie hinzu.

Viele Besucherinnen und Besucher der Einstein Lectures nutzten die Gelegenheit, einer Fields-Medaillenträgerin eine Frage zu stellen. © Universität Bern, Bild: Ivo Schmucki

Sie muss sich also gar nicht vorstellen, wie etwa ein achtdimensionaler Raum aussieht. «Es gibt ästhetisch sehr ansprechende Visualisationen, doch in meiner Arbeit helfen sie mir nicht», sagte Viazovska. Stattdessen legt sie fest, dass «eine Dimension einem Freiheitsgrad entspricht, sich im Raum zu bewegen». Solche mathematischen Abstraktionen erlauben es ihr, das Volumen einer Kugel auch «in höheren Dimensionen mathematisch sinnvoll zu definieren». Und damit konnte sie die Keplersche Vermutung in der 8. und später auch in der 24. Dimension beweisen.

Wer jetzt denkt, dass diese Abstraktionen zu weit gehen – und gar nichts mehr mit unserer Welt zu tun haben, irrt. Denn offenbar greifen fehlerkorrigierende Kodierungen (die der Schweizer Elektroingenieur Marcel Golay entwickelt – und die die NASA zur Übertragung der Bilder ihrer Voyager-Sonden verwendet – hat) auf Überlegungen in höheren Dimensionen zurück. Doch das ist eine andere Geschichte, die Viazovska sich für ihre nächsten Einstein Lectures aufgespart hat.

EINSTEIN LECTURES 2023

Im Andenken an das Werk von Albert Einstein widmen sich die Einstein Lectures abwechselnd Themen aus der Philosophie, Mathematik sowie der Physik und Astronomie. Die Einstein Lectures sind eine Kooperation zwischen der Albert Einstein Gesellschaft und der Universität Bern und finden seit 2009 jährlich statt.

Weiterer Vortrag:

Mittwoch, 6. Dezember 2023, 19.30 Uhr – Sphere packings and Fourier interpolation


Die Einstein Lectures finden im Hauptgebäude der Universität Bern statt. Sie sind öffentlich und kostenlos. Vortragssprache ist Englisch.

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