Politikwissenschaft
Sag mir, wie du bist, und ich sage dir, wie du wählst
Welche Entscheidungen wir treffen, hat viel mit unserer Persönlichkeit zu tun. Tief verankerte Verhaltenstendenzen lassen sich nicht einfach ablegen – auch nicht, wenn es darum geht, welche Partei wir bevorzugen. Erkenntnisse aus der politischen Psychologie.
Ein Skorpion wollte einen Fluss überqueren. Da traf er am Ufer einen Frosch und bat diesen: «Lieber Frosch, nimm mich bitte auf deinem Rücken mit zum anderen Ufer!» – «Ich bin doch nicht lebensmüde. Wenn wir dann auf dem Wasser sind und du mich stichst, dann muss ich sterben», entgegnete ihm der Frosch. «Wie könnt’ ich dich stechen, dann gehen wir ja beide unter und müssen beide sterben», antwortete der Skorpion. Der Frosch überlegte und sagte: «Ja, da hast du wohl recht. Steig auf meinen Rücken.» Kaum waren sie einige Meter geschwommen, spürte der Frosch einen stechenden Schmerz und schrie: «Jetzt hast du mich doch gestochen. Wir müssen beide sterben!» Der Skorpion entgegnete: «Ja, tut mir leid. Aber ich bin ein Skorpion, und Skorpione stechen nun mal!»
Diese persische Fabel hält uns vor Augen, dass unsere Entscheidungen eine charakterliche Imprägnierung aufweisen. Wir können nicht einfach so aus unserer Haut, Lebensumstände hin oder her. Es ist anzunehmen, dass wir derart tief verankerte Verhaltenstendenzen auch nicht ablegen, wenn wir in die Politik eintauchen. Einsichten in unsere unverrückbare Seele lassen sich gemäss Persönlichkeitspsychologie aus fünf Wesenszügen («big five») destillieren: Offenheit für Erfahrungen (wie empfänglich sind Sie für Unbekanntes?), Gewissenhaftigkeit (wie penibel sind Sie?), Extraversion (wie leutselig sind Sie?), Verträglichkeit (wie liebenswürdig und kollegial sind Sie?) und Neurotizismus (wie empfindlich und zaghaft sind Sie?). Persönlichkeitspsychologinnen und -psychologen gehen davon aus, dass diese fünf Wesensmerkmale zu einem gewissen Teil von Generation zu Generation weitergegeben werden, unsere direkten Vorfahren also unsere Vorlieben prägen.
Offene Menschen wollen mitgestalten
Offene Personen streben immerzu nach neuen Erfahrungen und Erlebnissen. Überdies sind sie geneigt, bestehende Normen und Wertvorstellungen kritisch zu hinterfragen. Offene Menschen entwickeln immerwährend neue Ideen, wie sie ihre Wohnungen einrichten, und erproben gerne unbekannte Lokale, Speisen oder Reiseziele. Sie bringen dem politischen Geschehen ein grosses Interesse entgegen und schätzen sich selbst entsprechend kompetent ein. Das inhärente Verlangen, neue Handlungsweisen zu erproben, äussert sich im Durst nach politischer Mitsprache und Beteiligung, sei es innerhalb der Wahl- und Abstimmungsdemokratie oder über unkonventionelle Wege des Protestes.
Gewissenhafte tendieren zur Abschottung
Wenn Sie sich selbst fragen, ob Sie ein Mensch mit ausgeprägter Gewissenhaftigkeit sind, dann evaluieren Sie einmal im Stillen ihren Hang zur Ordnungsliebe, zum Pflichtbewusstsein sowie zum Streben nach Konformität und dem Erhalt des Status quo. Gewissenhafte kommen gerne etwas früher zu einer Verabredung, machen das Bett, wenn sie aus dem Haus gehen, und lassen das verschmutzte Geschirr nicht unnötig lange in der Küche herumstehen. Mit ihrem genauen und zuverlässigen Handeln sind sie darauf bedacht, Unerwartetem aus dem Weg zu gehen. In den Augen gewissenhafter Menschen gebietet es sich für vorzeigbare Staatsbürger und -bürgerinnen, an Wahlen teilzunehmen. Die Angst vor Kontrollverlusten lässt sie auch für eine politische Abschottung plädieren.
Als extrovertiert geltende Personen werden als gesprächig, gesellig, kontaktfreudig und mitunter durchsetzungsfähig sowie sozial dominant charakterisiert. Extrovertierte gehen auf Partys auf Fremde zu und stellen sich ungefragt vor. Sie machen auch inmitten der Gruppe aus ihrer abweichenden Meinung oftmals keinen Hehl und leben eine gewisse Herr-im-Haus-Mentalität. Hohe Werte auf der Extrovertiertheitsskala gehen mit der Verpflichtung zur Wahlteilnahme einher. Ihrem Naturell entsprechend sind extrovertierte Personen politischen Vorgängen gegenüber aufgeschlossen, und sie fühlen sich ausgesprochen wohl, wenn über Politik gesprochen wird.
Harmoniebedürftige halten Abstand zur Politik
Verträgliche Menschen gelten als vertrauensvoll, gutherzig, hilfs- und kompromissbereit. Sie suchen Harmonie in der Beziehung zu anderen, verhalten sich nachgiebig und suchen nicht unbedingt Herausforderungen. Sie beteiligen sich ungern an Gerüchten und gehen Auseinandersetzungen gerne aus dem Weg. Sie bringen der Politik ganz allgemein nur ein geringes Interesse entgegen. Die dort praktizierte Konfrontation unterschiedlicher Meinungen sowie die teilweise rigorose Artikulation und Durchsetzung eigener Interessen entsprechen nur wenig ihrem Wesenszug. Verträglichkeit geht in der Schweiz auch mit einer hohen Demokratiezufriedenheit und grossem Vertrauen in den Bundesrat einher.
«Wir können nicht einfach so aus unserer Haut, Lebensumstände hin oder her.»
Markus Freitag
Mit Neurotizismus ist die «Disposition zu übermässiger Besorgtheit» gemeint. Neurotische Personen werden als ängstlich und leicht reizbar beschrieben. Sie reagieren überdurchschnittlich nervös und starten meist mit einer Sorge um nicht verschlossene Haustüren und nicht abgestellte Herdplatten in ihre Ferien. Wer sich als neurotisch oder emotional wenig belastbar einstuft, den überkommt des Öfteren ein ungutes Gefühl, wenn in seiner Gegenwart über Politik gesprochen wird. Ferner bekunden diese Personen Mühe, politische Sachverhalte zu verstehen, und zeigen sich – vielleicht genau deshalb – stets unzufrieden mit dem Zustand der Demokratie.
Mit Blick auf die Wahlentscheidungen diesen Herbst lässt sich vor dem Hintergrund bisheriger Erkenntnisse der politischen Psychologie orakeln, dass Gewissenhafte und Extrovertierte vermehrt zu bürgerlichen und konservativen Parteien neigen, während es offene, verträgliche und neurotische Menschen eher zu den linken Gruppierungen zieht. Kurzum: Sag mir, wie du bist, und ich sage dir, wie du wählst.
Zum Autor
Markus Freitag
ist Direktor und ordentlicher Professor am Institut für Politikwissenschaft in Bern. Sein jüngstes Werk beschäftigt sich mit der «Psyche des Politischen» (Verlag NZZ-Libro/Schwabe, 2022). Darin erörtert er, was der Charakter über unser politisches Denken und Handeln verrät.
Entscheidung für Familie
Markus Freitags beste Entscheidung im Leben war, eine Familie zu gründen. Im Alltag fällt ihm die Entscheidung schwer, auf Bewegung und Aktivität zu verzichten. Es gibt keine Entscheidung, die er heute bereut: «Non, je ne regrette rien.»
Prof. Dr. Markus Freitag
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