Literaturwissenschaft
Den Weg festlegen – die Wahl treffen
Man zieht also los. Auf eine Wanderung in der Waadt. Da mäandern die Gedanken und Gespräche um Literatur: Entscheidungen in literarischen Texten. Bald wird die Wanderung zu einer Allegorie der Literatur. Denn hier wie dort handeln Menschen, indem sie sich dazu entscheiden aufzubrechen, manchmal auch sich anvertrauend.
Der Wagen gleitet über die Autobahn nach Westen. Man ist wanderwillig. An Murten vorbei, an Payerne, am Neuenburger See. Hochnebeltag. Ausgerüstet. Wasser und Snacks. Das Schuhwerk ist gewählt. Wechselwetterkleidung. Es braucht eine Strategie: Es steht keine Rundwanderung an, sondern die Via Francigena von Orbe nach Cossonay. Den Wagen parkt man in Orbe. Später muss man mit dem Zug zurückfahren. Noch wäre es möglich, sich umzuentscheiden, aber einmal auf dem Weg, bleibt nur wenig zu wählen. Interessant: Die Entscheidungen werden kleiner, je weiter man voranschreitet. Am Vorabend hätte man sich noch für das Wallis entscheiden können. Kurz vor dem Ziel bleibt fast nur noch die Wahl der Strassenseite.
Nie ist der schreibende Mensch so frei wie beim ersten Satz. Rasch ist Grundlegendes entschieden: Roman oder Novelle, Reportage, Biografie oder Reisebericht. Das Erzählen beginnt im ersten Satz. Noch sind die Spielräume gross. Vielleicht werden Figuren erfunden und Strukturen aufgebaut, oder es wird ein Stil gesetzt. Die Spielräume werden kleiner, bis das Erzählte sich auch selbst weitererzählt. Aber ja: Die ersten Entscheidungen fallen willkürlich. Es gibt einen Plan, eine Absicht, eine Strategie. Es sind Fährten zu legen, Spuren zu verwischen, Arrangements zu treffen. Wer schreibt, ist irgendwie gestimmt, schreiblustig, führt Ausrüstung mit sich: Ästhetik, Erzählwissen, Sprachregister, einen Glauben vielleicht – oder eben einen Unglauben. Der Text entwickelt sich unter solchen Einflüssen schon fast zwangsläufig, als sei man tatsächlich auf der Wanderroute und müsse den richtigen Pfad wählen, um ein Ziel zu erreichen, das längst schon gesetzt ist: strategisch eben.
In keinem Roman entscheidet sich eine Figur
Jemand meinte zum Thema Entscheidungen, als Literaturwissenschaftler könne ich ja über grosse Entscheidungen zentraler Figuren in bedeutenden Romanen und Novellen schreiben: Man denke an Teufelspaktgeschichten wie in Jeremias Gotthelfs «Schwarzer Spinne», an den einsamen Heldenkampf Hauke Haiens, der den Deich retten will, an Margarita, die dem Arzt Augustinus in Stifters wunderbarstem Roman einen Korb gibt, vorläufig jedenfalls. Aber es stimmt nicht: In keinem Roman entscheidet sich eine Figur. Die tatenlustige Christine in Gotthelfs Novelle hat nicht die Wahl, ob sie dem grünen Jäger hörig werden will oder nicht. Die Situation ist von langer Hand erzählstrategisch vorbereitet. Können wir ernsthaft fragen, was passiert wäre, wenn Christine sich anders entschieden hätte?
«Die Narration ist die perfekte Lüge.»
Christian von Zimmermann
Dies hätte keine Wahrscheinlichkeit im Text. Es zerstörte die narrative Konzeption. Man stelle sich vor, Hauke Haien ginge nicht unter oder Margarita sagte einfach «Ja» – oder Faust bezwänge seine Neugier, denn auch die Storyline in Drama und Film ist strategisch angelegt. Jede Entscheidung im literarischen Text hat eine erste Entscheiderin als ihr strategisches Zentrum: die erzählende Instanz. Gotthelf lässt erzählstrategisch geschickt die Geschichte der Lindauerin Christine von einem etwas gar geschichtenverliebten Grossvater erzählen; der hat seinen Plan, eine Absicht und gar einen Glauben, mit dem er nicht hinter dem Berg hält. Die eigentliche grosse Entscheidung in der Literatur ist die Entscheidung zur Erzählung, danach bleiben sich verengende Spielräume.
Die Wanderstrecke hat K. ausgesucht, und ich bin ihr gefolgt wie ein vertrauender Leser der Erzählstrategie. Solcherart Verführung zur Wanderung oder in die Fiktion ist auch reizvoll. Dennoch ist kritisches Denken anzuraten. Dass alle Dichter lügen (müssen), ist seit alters bekannt, und die Narration ist die perfekte Lüge; sie beginnt mit dem ersten Satz, aus dem sich in scheinbarer Konsequenz und unter Verengung der Spielräume alles andere fast kausal ergibt: bis hin zur vorgegaukelten freien Entscheidung einer Figur. «Writers can change the way people think simply by giving them a glimpse of life through their characters’ eyes.» (Lisa Cron, Wired for Story. Berkeley 2012, S. 2.) Geschichten sind strategische Instrumente der Verführung, der Überredung – vielleicht ja auch zu den «richtigen» Werten.
Jede Partei, die eine Wahl verliert, geht dann in sich und sucht nach einem besseren Narrativ.
Anleitung zur Verführung
Die Lehre der vergangenen Jahre: Verschwörungserzählungen, Pandemienarrative. Sind die Geisteswissenschaften mitschuldig? Zu häufig überreden historische Arbeiten durch stringentes Erzählen zu ihren Thesen. Erstaunlich zeitgemäss Gotthelf, der den Wink gibt, dass das Erzählte ein strategisch Erzähltes ist: Man soll ihn an seiner Stimme erkennen. Erstaunlich unzeitgemäss ein realistisches Erzählen, das sich nicht zu erkennen gibt. «Show, don’t tell» ist eine Maxime in Creative-Writing-Kursen, daneben ist es eine Anleitung zur Verführung. Gotthelf denkt liberal, setzt auf mündige Bürger, die Erzählungen kritisch reflektieren.
Und das ist es ja, was mündige Bürgerinnen und Bürger tun sollten: den Narrationen nicht auf den Leim gehen und selbst entscheiden, wann man vertrauend sich auf die Wanderung begeben kann.
Zum Autor
Christian von Zimmermann
ist Dozent am Institut für Germanistik und lehrt Editionsphilologie am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern. Seit 2015 leitet er die Forschungsstelle Jeremias Gotthelf mit ihrem Editionsprojekt der «Historisch-kritischen Gesamtausgabe» der Werke und Briefe von Jeremias Gotthelf. Im Frühjahr 2023 erschienen seine Pandemieerinnerungen «Und wer möchte das nicht …» (Bern 2023).
Welches war die beste Entscheidung Ihres Lebens?Das hängt von der Erzählung ab.
Welche tägliche Entscheidung fällt Ihnen schwer?Die Entscheidung zwischen Wichtigem und Drängendem.
Gibt es eine Entscheidung, die Sie heute bereuen?Nein, aber manche, aus denen es etwas zu lernen galt.
Kontakt
christian.vonzimmermann@unibe.chDas Print-Magazin der Universität Bern
4x im Jahr uniFOKUS im Briefkasten
Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS zeigt viermal pro Jahr, was Wissenschaft zu leisten vermag. Jede Ausgabe fokussiert aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen thematischen Schwerpunkt und will so möglichst viel an Expertise und Forschungsergebnissen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bern zusammenführen.