Hoffnungsträger im Klimaschutz

Abrupte Veränderungen des Klimasystems sind eine nie dagewesene Bedrohung. Aber es gibt auch positive Kipppunkte, Weichenstellungen in eine klimafreundliche Zukunft. Nun wurde der bisher umfassendste Bericht zu Kipppunkten vorgestellt, auch Forschende der Universität Bern sind beteiligt.

Text: Kaspar Meuli 12. Dezember 2023

Positiver Kipppunkt: Solarenergie war jahrzehntelang teuer – jetzt ist sie deutlich billiger als fossile Energie und wird massiv ausgebaut. Bild: Wikimedia Commons, Matthias Eckert

Der Präsentationsort war mit Bedacht gewählt. Die Autorinnen und Autoren des «Global Tipping Point Reports» stellten ihren Bericht an der Klimakonferenz in Dubai vor. «Die an der COP28 zusammengekommenen Staats- und Regierungschefs können global abgestimmte Notfallmassnahmen auf den Weg bringen, um negative Kipppunkte zu verhindern und positive auszulösen», sagt Lukas Fesenfeld, Politikwissenschaftler im Oeschger-Zentrum für Klimaforschung der Universität Bern und einer der Autoren des Berichts. Ebenfalls am Bericht beteiligt war Isabelle Stadelmann, Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Bern.

«Kipppunkte im System Erde stellen eine Bedrohung dar, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat, sie können verheerende Dominoeffekte auslösen», warnte Tim Lenton, der Hauptautor des Berichts von der Universität Exeter vor den Medien in Dubai. Es könnten ganze Ökosysteme verloren gehen und der Anbau von Grundnahrungsmittel verunmöglicht, was gesellschaftliche Auswirkungen wie Massenflucht, politische Instabilität und finanziellen Kollaps zur Folge hätte. Doch umgekehrt seien Kipppunkte - auf Englisch Tipping Points - auch «unser bester Grund für Hoffnung». Es gelte positive Kipppunkte in Gesellschaften und Volkswirtschaften zu «priorisieren und auszulösen».

Unumkehrbare Folgen für das System Erde

Der an der Klimakonferenz vorgestellte rund 400 Seiten dicke Bericht ist die umfassendste jemals durchgeführte Beurteilung von Kipppunkten im Klimasystem. Die mehr als 200 Forschenden, die am Bericht beteiligt waren, haben 26 negative Kipppunkte untersucht. Die fünf wahrscheinlichsten: Das Verschwinden der tropischen Korallenriffe, der Zusammenbruch des Nordatlantikstroms und das Auftauen von weiteren Permafrostböden. Und besonders besorgniserregend: der Kollaps der Eisschilde in der Westantarktis und in Grönland. Ähnlich wie bei einem kippenden Stuhl können diese Systeme an einem bestimmten Kipppunkt von einem Zustand in einen völlig anderen übergehen. Werden Kippunkte überschritten, könnte sich das Klima abrupt verändern – mit unumkehrbaren Folgen für das System Erde.

Lukas Fesenfeld

Bild: Vera Knöpfel

Forscht im Bereich der internationalen Umweltgovernance, der politischen Ökonomie und der politischen Psychologie. Er ist Senior Researcher am Institut für Politikwissenschaft und am Oeschger Centre for Climate Change Research (beides an der Universität Bern) sowie Dozent an der ETH Zürich. 

Bei welchen Schwellenwerten das Klimasystem kippt, ist noch unklar, doch wie der Weltklimarats IPCC in seinem letzten Sachstandbericht schreibt, werden die Gefahren mit der fortschreitenden Erwärmung des Planeten immer wahrscheinlicher: «Risiken, wie die Instabilität von Eisschilden oder der Verlust von Ökosystemen in tropischen Wäldern, die mit grossräumigen Einzelereignissen oder Kipppunkten verbunden sind, gehen bei einer Erwärmung von zwischen 1,5 und 2,5 °C in ein hohes Risiko über, beträgt die Erwärmung zwischen 2,5 und 4 °C in ein sehr hohes.» Angesichts der steigenden Risiken verlangen die Autorinnen und Autoren des «Global Tipping Point Report» von der in Dubai versammelten politischen Elite «dringendes Handeln».

Positive Kippunkte auslösen

Das Konzept der Kipppunkte sorgt nicht nur für Katastrophenstimmung, es schafft, wie gesagt, auch Anlass für Optimismus. Denn mit positiven Kipppunkten sind gesellschaftliche und technologische Veränderungen gemeint, die den Klimaschutz beschleunigen können. «Wir haben in der Vergangenheit allzu stark auf negative Entwicklungen fokussiert und positive Aspekte vernachlässigt, insbesondere wie sich solche Entwicklungen beschleunigen lassen», betont Lukas Fesenfeld, der beim «Global Tipping Point Report» für das Kapitel Ernährungssysteme verantwortlich war. Sein Spezialgebiet: Die Transformation der Ernährungssysteme (siehe uniAKTUELL «Hoffnungsschimmer gegen Klimaangst»).

Ein Beispiel dafür, wie sich positive Entwicklungen gegenseitig verstärken können, sind erneuerbare Energien und die Elektromobilität. Gibt es auf den Strassen zunehmend mehr Elektrofahrzeuge, kommt es zu einer deutlichen Kostenreduktion bei den Batterietechnologien. Dies wiederum macht den Einsatz von Wärmepumpen und die Speicherung erneuerbarer Energie günstiger.

Ob sich der «Global Tipping Point Report» auf die Verhandlungen an der COP28 ausgewirkt hat, lässt sich kaum sagen. «Grundsätzlich hat das Konzept der positiven Kipppunkte die Politik bislang noch nicht stark beeinflusst», meint Lukas Fesenfeld. Eben erst etabliere es sich richtig in der Wissenschaft. Doch bestimmte Dynamiken, die sich mit dem Konzept der positiven Kipppunkte beschreiben liessen, wie etwa die rasche Kostenreduktion von Solarpanels, «beeinflussen die Politik natürlich bereits heute».

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Zentral sei es, so Fesenfeld, dass die Entscheidungstragenden stärker auf Massnahmen fokussierten, die «positive Feedbackeffekte im System» auslösten. Beispielsweise kann eine gezielte Innovationspolitik nicht nur die Kosten für klimafreundliche Technologien deutlich reduzieren, sondern auch eine gesellschaftliche Dynamik entfachen. Ein neuer Technologiesektor, so die Überlegung, schafft Arbeitsplätze und neue Interessengruppen, die künftig politisch ambitionierten Klimaschutz erleichtern. 

Fördermassnahmen und Vorschriften geschickt kombinieren

Wie sich positive Kipppunkte begünstigen liessen, lässt sich auch am Kapitel zu den Ernährungssystemen des «Global Tipping Point Report» zeigen. Vorgeschlagen wird dort unter anderem eine Kombination und strategische Abfolge privater und staatlicher Massnahmen zur Reduktion von Food-Waste. Wirkungsvoll seien beispielsweise verhaltensökonomische Ansätze in öffentlichen Kantinen, Supermärkten und Restaurants. Konkret lässt sich das Verhalten der Menschen etwa durch die Platzierung der Menus und die Grösse der Teller beeinflussen. Auch die Kombination von Regulierungs- und Anreizinstrumenten für den Detailhandel nach dem Vorbild Frankreichs, das als erstes Land ein Gesetz gegen die Lebensmittelverschwendung eingeführt hat, könnte die Reduktion von Lebensmittelabfällen beschleunigen. Weitere Empfehlungen des Reports betreffen den Umstieg auf «agrar-ökologische Formen der Landwirtschaft» und den Ausbau von «pflanzenbasierter Wertschöpfungskette und Ernährung.»

Wie das Mensaangebot gestaltet ist, hat einen grossen Einfluss darauf, wie nachhaltig gegessen wird. Studierende in der Mensa im Berner Hochschulcampus vonRoll. © Universität Bern

Kundinnen und Kunden liessen sich durch Kostensenkungen, verbesserte Verfügbarkeit und Qualität von Alternativen ansprechen, nötig sei aber auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Normen. Auch hier spielen erneut der Detailhandel und die öffentliche Beschaffung eine zentrale Rolle. Beispielsweise hat Lidl Deutschland im Oktober 2023 beschlossen, dass Fleischprodukte und pflanzliche Alternativen gleich viel kosten sollen. Die entsprechenden Produkte werden nun im Regal direkt nebeneinander positioniert.

Der «Global Tipping Point Report» hebt hervor, wie wichtig es sei, den ganzen ländlichen Raum im Transitionsprozess zu unterstützen. Bereits gibt es dafür erste Beispiele: In Dänemark wird der Umstieg entlang der gesamten Wertschöpfungskette gefördert, also vom Feld über den Maschinenbau und die Verarbeitung bis hin zur Kantine. Zudem hat das Land sogenannte Eco-Schemes für Bäuerinnen und Bauern eingeführt, die auf Pflanzenbau umstellen. Und mit dem weltweit ersten Fonds für pflanzliche Wertschöpfung und Ernährung, sagt Lukas Fesenfeld, habe Dänemark ein «Vorbild für ein sinnvolles Transitionspaket» entwickelt.

«Es ist wichtig, den ganzen ländlichen Raum im Transitionsprozess zu unterstützen.»

Global Tipping Points Report

Ganz allgemein, so der Report, liessen sich Umstiegskosten und Investitionen in eine vermehrt pflanzenbasierte Wertschöpfungskette unter anderem aus neuen Emissionsabgaben finanzieren. Diese Abgaben sollten sich vor allem auf Betriebe konzentrieren, die grosse Stickstoff- und Methanemissionen verursachen. Ein «sozial gerechtes und wirkungsvolles Instrument», um die Akzeptanz für den Wandel zu erhöhen, könne auch eine reduzierte Mehrwertsteuer auf pflanzlichen Lebensmitteln sein.

Win-win-Situation

Und noch etwas schlägt das Team um Lukas Fesenfeld im «Global Tipping Point Report» vor: Die gekoppelte Produktion von Solarstrom und Lebensmitteln. So liessen sich neue Einnahmenquelle für Landwirte schaffen. «Das kann die Wertschöpfung im Pflanzenbau erhöhen und in Kombination mit gezielten Förderprogrammen die Produktion von Alternativproteinen stärken. Gleichzeitig wird der Umstieg auf klimafreundlichere Ernährungsweisen beschleunigt.» Mit anderen Worten: Zu Hoffnungsträgern werden die positiven Kipppunkte vor allem dann, wenn möglichst viele Anspruchsgruppen vom Wandel profitieren. Gefragt sind klassische Win-win-Situationen.

Über das Oeschger-Zentrum für Klimaforschung OCCR

Das Oeschger-Zentrum für Klimaforschung (OCCR) ist eines der strategischen Zentren der Universität Bern. Es bringt Forscherinnen und Forscher aus 14 Instituten und vier Fakultäten zusammen. Das OCCR forscht interdisziplinär an vorderster Front der Klimawissenschaften. Das Oeschger-Zentrum wurde 2007 gegründet und trägt den Namen von Hans Oeschger (1927-1998), einem Pionier der modernen Klimaforschung, der in Bern tätig war.

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