Hunger – die alltägliche Tragödie im Überfluss

Jeden Tag sterben rund 25'000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen von Hunger. Dabei wäre Hunger das grösste lösbare Problem der Menschheit. Es mangelt nämlich weder an den nötigen Nahrungsmitteln noch an Wissen noch an finanziellen Mitteln. Es fehlt allein am politischen Willen.

Text: Daniel Krämer 01. März 2023

Ausschnitt aus dem Gemälde «Die vier apokalyptischen Reiter» des russischen Malers Viktor Michailowitsch Wasnezow, 1887. Das zweite Mann-Pferd-Gespann von links symbolisiert den Hunger.
Ausschnitt aus dem Gemälde «Die vier apokalyptischen Reiter» des russischen Malers Viktor Michailowitsch Wasnezow, 1887. Das zweite Mann-Pferd-Gespann von links symbolisiert den Hunger.

Hunger verfolgte die Menschen seit Anbeginn der bekannten Geschichte. Bildlich gesprochen bildete er zusammen mit dem Krieg und der Pest ein apokalyptisches Dreigespann, das durch die Kontinente zog und die Menschen immer wieder heimsuchte. Selbst wenn der Hunger ohne seine beiden Spiessgesellen auftauchte, trieb er Gesellschaften durch seine regelmässigen Besuche immer wieder an den Rand des Abgrunds. Er löste Flüchtlingsströme aus und war ein Treiber von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen. Hungersnöte brannten sich als schleichend auftretende Katastrophen in das kollektive Gedächtnis ein und evozierten Vorstellungen von paradiesischen Landschaften, in denen Milch und Honig flossen. Hunger war im vorindustriellen Europa eng mit dem Leben der Menschen verwoben. Er war ein Teil des Alltags – es war eine Welt, in der die Angst vor dem Mangel allgegenwärtig war, auch wenn die Menschen nicht ständig vom Hunger gepeinigt wurden.

Hunger als Problem des Angebots

Hunger ist ein äusserst vielschichtiges und komplexes Phänomen, das sich an der Schnittstelle von Natur-, Sozial-, Politik-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften befindet. Die amerikanische Soziologin Sara R. Millman verglich die Hungerforschung mit der Parabel von den blinden Männern und dem Elefanten. Ein Blinder, der ein Ohr des Elefanten betaste, nehme Hunger anders wahr als ein Blinder, der den Rüssel, den Bauch oder ein Bein berühre. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen führten zu verschiedenen Interpretationen des Phänomens, seiner Ursachen, seiner Auswirkungen und möglichen Bewältigungsstrategien. Nicht zuletzt deshalb untersuche eine Person die Versorgung mit Nahrungsmitteln, eine andere die Verteilung der Nahrungsmittel, eine weitere die Folgen von (chronischer) Unterernährung, eine vierte die Felder politischer Eingriffe und eine fünfte die Wurzeln des Hungers.

Die Wahrnehmung des Hungers wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte. Glaube und Wissenschaft bildeten über die Aufklärung hinaus für viele Zeitgenossen keinen Widerspruch, auch wenn der strafende Gott des Alten Testaments in den Amtskirchen und in der Universaltheologie an Einfluss verlor. Biblische Gleichnisse wie die vier apokalyptischen Reiter in der Offenbarung des Johannes – von Albrecht Dürer 1498 eindrücklich in Szene gesetzt – blieben über Jahrhunderte hinweg wirkmächtig. Der Rückgang des Nahrungsmittelangebots in Hungerzeiten wurde in kirchlichen Kreisen ebenfalls nicht nur der göttlichen Vorsehung zugeschrieben, sondern auch auf Missernten, Kriege, ausbleibende Getreideimporte, die Vernachlässigung der Landwirtschaft und fehlende Vorratshaltung zurückgeführt.

In der Forschung werden diese Wahrnehmungsmuster den Nahrungsangebotstheorien zugerechnet. Robert Thomas Malthus war mit seinem «Essay on the Principle of Population» von 1798 zweifellos einer der einflussreichsten Vertreter der Idee, dass Hungersnöte ein Problem des Angebots seien. Seine vereinfachte Gleichung «Zu viele Mäuler plus zu wenig Nahrung gleich Hunger» erwies sich jedoch als falsch.

Hunger als Problem der Nachfrage

Malthus konnte nicht ahnen, wie fundamental die Agrarmodernisierung und die Entstehung der grossen technischen Systeme wie der Eisenbahn und der Dampfschifffahrt den Hunger im 19. und 20 Jahrhundert veränderten. Nahrungsmittel konnten fortan rasch und leicht über den gesamten Globus verteilt werden. Grosse Teile von Europa entkamen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Hunger – er war nicht mehr Teil des Alltags der Menschen. Amartya Sen löste mit seinem Essay «Poverty and Famine» 1981 schliesslich einen Paradigmenwechsel in der Forschung aus. Entscheidend war für den späteren Wirtschaftsnobelpreisträger nicht mehr, ob genügend Nahrungsmittel verfügbar sind, sondern wie sich eine Person legal Zugang zu Lebensmitteln verschaffen kann. Hungersnöte erscheinen als Problem von fehlenden Anrechten auf der Ebene des Individuums durch die rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Gesellschaft.

Hunger als Problem des politischen Willens

Hunger war und ist stets politisch. Während im vorindustriellen Zeitalter die fehlende Nahrungsmittelsicherheit die Legitimität der Herrschaft bedrohte, wenn der Kampf um das tägliche Brot zu Protesten und Unruhen führte, ist das Recht auf ausreichende und gesunde Nahrung seit 1948 ein unveräusserliches Menschenrecht. Weil heutzutage Hunger trotz Überfluss herrscht, erachtet der Entwicklungsökonom Stephen Devereux Hungersnöte als Versagen der Politik. Selbst abgelegene Regionen können dank modernen Kommunikations- und Transportmitteln in Friedenszeiten innert nützlicher Frist mit genügend Nahrungsmitteln versorgt werden. Wäre mehr politischer Wille vorhanden, könnte aus dem apokalyptischen Dreigespann ein Zweispänner werden.

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