Berner Innovationen für die medizinische Ausbildung

Das Institut für Medizinische Lehre (IML) der Universität Bern besteht seit über 50 Jahren. Als nationales Kompetenzzentrum forscht es zur medizinischen Lehre und stärkt deren Qualität in der Schweiz. Ein Interview mit Direktorin Sissel Guttormsen.

Fasziniert von der Vielfalt des Fachs Medizin und dem praktischen Können, das es vermittelt: Sissel Guttormsen, Direktorin des IML seit 2005. © zvg
Frau Guttormsen, das IML forscht selbst zur medizinischen Lehre, unterstützt nationale und internationale Forschungsprojekte und bietet eine Vielfalt von Dienstleistungen an, die der Qualität der Lehre dienen. Wie kam es zu seiner Gründung Anfang der Siebzigerjahre?

Sissel Guttormsen: Medizin wurde seit je in der Schweiz mit Frontalunterricht in Vorlesungen gelehrt. In Bern fand eine Gruppe junger Ärzte Anfang der Sechzigerjahre, dass dies den modernen Anforderungen nicht mehr genüge. Sie waren inspiriert von Entwicklungen in den USA wie Blockunterricht oder dem sogenannten «Bedside teaching», also Gruppenunterricht am Krankenbett. Ihre Vorschläge stiessen auf erheblichen Widerstand unter den alten Professoren, die einen Verlust ihrer akademischen Freiheit befürchteten.

Dank unermüdlichem Einsatz einzelner Personen konnte ein Berner Reformplan des Medizinstudiums mit Gruppen- und Blockunterricht entwickelt werden, der sich Ende der Sechzigerjahre auf nationaler Ebene durchsetzte und dann umgesetzt werden musste. So entstand 1971 in Bern der Vorläufer des IML, das Institut für Ausbildungs- und Examensforschung IAE. Als ein Institut mit einer Professur eigens für die Forschung zu den neuen Unterrichtsmethoden und Entwicklung sowie Auswertung von Prüfungen war es damals europaweit ein Novum. Heute sind solche Institute weit verbreitet.

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Produktion eines Lehrfilms unter der Leitung von Prof. Hannes Pauli. © 1970 Schweizer Radio und Fernsehen, lizenziert durch Telepool GmbH Zürich

Was macht die medizinische Lehre so besonders, dass sie im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Fächern ein eigenes Universitätsinstitut braucht?

Die Aus- und Weiterbildung in der Medizin ist in ihrer Komplexität einzigartig. Sie muss zum einen ständig wachsendes Grundlagen- und fachärztliches Wissen vermitteln. Zum anderen unterscheidet sich der Lernstoff zwischen den Fachbereichen stark, etwa zwischen Chirurgie und Psychiatrie.

Was es für mich sehr spannend macht: Medizin ist geprägt von praktischem Können. Es ist eine Professionsausbildung mit sehr hohem Qualitätssicherungsbedarf. Nur die Ausbildung von Pilotinnen und Piloten ist wohl noch strenger. Bei beiden kann man sich gut vorstellen, was alles schiefgehen kann, wenn man sein Handwerk nicht beherrscht. Darum legt man heute sehr viel mehr Wert auf verschiedene Kompetenzen, also nicht nur auf das Beherrschen der Theorie, sondern auch auf das Ausüben des Fachs.

Was für Kompetenzen zum Beispiel?

Neben den verschiedenen manuellen und technischen Fertigkeiten in verschiedensten Patientensettings gehört auch die Kommunikationskompetenz dazu. Fachpersonen im Gesundheitssystem müssen mit den Patientinnen und Patienten gut reden können, und das ist lernbar. Früher sagten die Ärztinnen und Ärzte, was gemacht wird, heute arbeiten wir in der Medizin patientenzentrierter und treffen gemeinsam Entscheide. Es geht auch um spezifische Situationen wie das Überbringen schlechter Nachrichten oder der Umgang mit Aggressionen. Hier gibt es mittlerweile Kommunikationsmodelle, die Ärztinnen und Ärzte darin anleiten.

Praktische Übung im Videostudio am IML. © IML
Inwiefern war das IML ein wichtiger Treiber von Innovationen im Medizinstudium?

Es hat national Schule gemacht sowohl beim «Bedside teaching» als auch dem «Problem-based learning», bei dem Studierende selber Lösungen zu realen Problemen entwickeln, statt nur Informationen aufzunehmen. Auch bei der nun allgegenwärtigen Digitalisierung waren wir Vorreiter: in meiner Zeit, also seit 2005, wurde der gesamte Prüfungszyklus digitalisiert. Wir gingen Schritt für Schritt weg vom Papier bis hin zur vollständigen Durchführung des schriftlichen Prüfungsteils auf Tablets seit 2022 – bei der eidgenössischen Prüfung EP und allen anderen Prüfungen. Der praktische Teil der EP wird bereits seit 2015 digital unterstützt. Auf diese Innovation und unsere Zusammenarbeit im Team, um sie zu erreichen, bin ich stolz.

Inwiefern ist das Medizinstudium sonst noch digitalisiert?

Es ist mittlerweile fast papierlos, heute werden kaum mehr Lehrbücher eingesetzt. Was ich faszinierend finde: Das gesamte medizinische Fach- und Praxiswissen kann man mit digitalen Lernmedien anlernen. Es ist nicht nötig, von Anfang an alles direkt an Patientinnen und Patienten zu üben, das wäre auch nicht ethisch. Diese Grundlagen müssen dann aber in der direkten Interaktion mit den Patientinnen und Patienten vertieft werden. Das IML hat diese Lernmedien immer auf dem jeweils neuesten Stand der Technologie angeboten, angefangen damals bei Tonbildschauen. Unsere geprüften Tools und Lernmedien sind eigens für die Lehre in Bern entwickelt, sind aber offen zugänglich und werden auch international genutzt.

Über 1’200 angehende Medizinerinnen und Mediziner aus den sechs medizinischen Fakultäten in der Schweiz konnten 2022 dank dem IML die eidgenössische schriftliche Prüfung in Humanmedizin erstmals vollständig auf Tablets ablegen. © IML
Wird also alles einfacher dank der neuen Technologien?

Nein, denn die Herausforderungen verschieben sich immer. Das Problem ist: das Curriculum ist voll, aber es kommen immer neue Themen, die Platz in der Lehre beanspruchen, wie etwa Präzisionsmedizin oder Gendermedizin – also jene Fachrichtung, die beispielsweise dazu forscht und lehrt, dass sich ein Herzinfarkt bei Frauen mit ganz anderen Symptomen zeigen kann als bei Männern. Es wird versucht, ständig neue Fächer oder Lehrveranstaltungen für diese Themen einzuführen, aber das geht eigentlich jetzt schon nicht mehr auf.

Wie gehen Sie damit um?

Es ist nicht einfach, ein Curriculum, das während Jahrzehnten entwickelt wurde, umzustellen. Wir können aber Bewegung in die Ausbildung selbst bringen, zum Beispiel Studierende besser darin unterstützen, selbstgesteuert zu lernen oder die eigene Informationskompetenz zu steigern: wie wähle ich aus der enormen Menge an Information das aus, das ich brauche? Wie soll ich lernen? Das hat im Moment aber noch zu wenig Platz. Wir müssen also ständig neue Ideen entwickeln, um mit all den Neuerungen umgehen zu können.

Zu den Lehr-Angeboten des IML gehören auch naturgetreue Nachbildungen von Wunden, sogenannte Moulagen, wie hier einer Schnittwunde. © IML
Zu den Lehr-Angeboten des IML gehören auch naturgetreue Nachbildungen von Wunden, sogenannte Moulagen, wie hier einer Schnittwunde. © IML
Was macht für Sie gute Lehre in der Medizin konkret aus?

Eine dynamische Lehre, die Fachexpertise auf dem neuesten Stand einbringt und Fakultäten befähigt, gezielt Fachkräfte auszubilden. Neben der Fachexpertise ist auch die Lehrkompetenz der Dozierenden wichtig. Dies wird mit sogenannten «Faculty Development Programmen» für Lehrkompetenz unterstützt. Wir betreiben Forschung und entwickeln Konzepte, um Lehrpersonen im Klinischen Alltag zu unterstützen. So haben wir für sie ein «Lern-Curriculum» entwickelt, mit dem sie ihre Lehre verbessern können. Nicht jeder Arzt ist geboren für «Bedside teaching», und nicht jede Ärztin weiss, wie man Gruppenarbeiten anleitet. Ich würde es begrüssen, wenn dieses Angebot für Lehrkräfte zur Pflicht erklärt würde, um sich didaktisch weiterzubilden.

Gibt es etwas, das Sie speziell vermitteln möchten?

Obwohl für mich Technologie und Effizienz wichtig sind, will ich in der Lehre auch etwas anderes stärken: die Menschlichkeit in der Medizin. Fachpersonen im Gesundheitssystem müssen darin bestärkt werden, ihre eigenen Grenzen zu erkennen, so wie sie persönliche Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten erkennen sollen, und lernen mit beidem umzugehen. Wir führen etwa Projekte durch zur Palliativpflege, wie «Compassion Training» oder «über Spiritualiät kommunizieren». Da geht es um Fragen wie: was ist der Sinn des Lebens, wenn ich nicht voll leben kann? Es soll Platz haben für Emotionen – sowohl für die Patientinnen und Patienten als auch für die Fachpersonen. Auch hier können wir mit guter Lehre sowie mit bewusstem «Role-Modelling» sehr viel bewirken.

Was ist Ihr Wunsch für die Zukunft?

Dass wir in der Vielfalt dranbleiben mit guten und jederzeit sinnvollen Lösungen, die auch angewandt werden. Dafür müssen wir sowohl den Kontakt zur Basis als auch unsere Qualitätsansprüche halten. Und wir wollen ein guter Arbeitgeber sein und ständig neue Mitarbeitende gewinnen und halten.

Über das Institut für Medizinische Lehre IML

Das Institut für Medizinische Lehre (IML) der Universität Bern unter der Leitung von Prof. Sissel Guttormsen entwickelt und begleitet lokale, nationale und internationale Projekte in der medizinischen Aus-, Weiter- und Fortbildung. Es beschäftigt rund 80 Mitarbeitende in multinationaler und interdisziplinärer Zusammensetzung. Seine Expertinnen und Experten, u.a. aus der Medizin, den Sozialwissenschaften, der Wirtschaft, Technologie und Administration, arbeiten eng mit Partnerinstitutionen zusammen, um optimal Aufträge zu erfüllen und Dienstleistungen anzubieten. Das Institut vereint Erfahrung und Kompetenz in Lehre, Assessment und Entwicklung unter einem Dach. Der Grundstein für das IML wurde 1969 mit der Abteilung für Ausbildungsforschung AAF gelegt, gefolgt von der Gründung des Instituts für Ausbildungs- und Examensforschung IAE 1971. 2004 erfolgte die Umbenennung in Institut für Medizinische Lehre. 2021 wurde das IML 50 Jahre alt, das Jubiläum wurde pandemiebedingt verschoben.

Über die Autorin

Nathalie Matter ist Redaktorin und Themenverantwortliche Medizin und Gesundheit sowie Tierversuche an der Abteilung Kommunikation und Marketing.

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