Im Fokus
Weder Verbot noch Laisser-faire: Wie reguliert man Rausch?
Der gesellschaftliche Umgang mit Rauschmitteln bleibt herausfordernd. Die Juristin Franziska Sprecher und der Mediziner Reto Auer, die dazu an der Uni Bern forschen und die Politik beraten, ordnen aktuelle Entwicklungen ein.
uniAKTUELL: Wir treffen uns im Haus der Universität mit Blick auf den Kocherpark, wo in den 1990er-Jahren eine offene Drogenszene bestand. Wie haben Sie die Zeit damals erlebt?Franziska Sprecher: Ich war noch ein Kind und hatte natürlich einen ganz anderen Blick auf das Thema als heute. Wir haben die offene Drogenszene als Kinder gesehen, wir haben gefragt, was das ist. Die Erwachsenen sagten uns, dass wir herumliegende Spritzen auf keinen Fall anfassen dürfen, AIDS war ein Thema, auch an der Schule. Aber wir entwickelten auch das Bewusstsein dafür, dass das nicht einfach böse Leute sind, sondern Süchtige. Das kann man mit Kindern oder Jugendlichen schon relativ früh thematisieren.
Wie war das bei Ihnen, Herr Auer?Reto Auer: Als Jugendlicher habe ich viel gekifft. Es war der Lebensabschnitt, in dem ich wohl am dringendsten die Polizei gebraucht hätte, weil ich damals in Gewaltsituationen gekommen bin. Aber die Dealer waren unsere Freunde, die Polizisten unsere Feinde – ich hatte gelernt, Angst vor der Polizei zu haben. Das ist doch eigentlich traurig. Damals hat man auch die Wissenschaft herangezogen, um das Cannabisverbot zu legitimieren. Heute werden andere Ergebnisse, die schon früher bestanden, aber weniger wahr genommen wurden, stärker berücksichtigt.
Hat Sie die Erfahrung, die sie damals gemacht haben, auch geprägt? Sind Sie vielleicht gerade deshalb in dem beruflichen Bereich, in dem Sie heute arbeiten?Auer: Ich glaube nicht, dass das ein Grund ist, aber ich glaube, es ist wichtig, dass man die eigene Erfahrung anerkennt – auch um zu erkennen, dass andere Menschen andere Erfahrungen gemacht haben.
Sprecher: Das ist kaum der Grund dafür, dass ich zur «Juristerei» gekommen bin und mich jetzt intensiv mit dem Gesundheitsrecht befasse. Beim Thema Sucht – und generell, wenn es um Gesundheit geht – finde ich es jedoch wichtig, dass man Kinder und Jugendliche einbezieht. Wenn ich mich an meine eigenen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend erinnere, wird mir bewusst, dass man bereits relativ jung gewisse Erfahrungen macht und Zusammenhänge erkennt.
Zur Person
Franziska Sprecher
ist assoziierte Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht mit besonderer Berücksichtigung des Gesundheitsrechts am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern. Sie ist ausserdem Direktorin des Zentrums für Gesundheitsrecht und Management im Gesundheitswesen (MiG) an der Universität Bern.
Sprecher: Ich glaube, dass ein gesellschaftlicher Druck erzeugt wurde. Das Problem wurde für alle sichtbar, sei es, dass es einen beelendete und man sich unsicher fühlte, oder durch berührende Schicksale von jungen Menschen, die starben. Man konnte nicht einfach nichts machen, man konnte auch nicht so weiter machen wie vorher und musste neue Lösungen entwickeln.
Was ist dann konkret Neues geschehen?Sprecher: Man ist weggekommen von der reinen Repression, von der ausschliesslich polizeilichen Optik, hin zu «diese Menschen haben eine Sucht».
Auer: Es gab damals nicht nur die offene Drogenszene, sondern auch ein enormes öffentliches und offensichtliches Problem mit Tabak und Alkohol. Als ich im Gymnasium war, haben mehr als die Hälfte der Jugendlichen geraucht, auch ich habe mit 14 Jahren damit angefangen. Das war schlicht normal, es gab auch überall Werbung. Aber auch bei Alkohol und Tabak begann damals ein Umdenken: Man begann es als Gesundheitsproblem zu betrachten, das grosse Schäden verursacht.
uniAKTUELL-Newsletter abonnieren
Entdecken Sie Geschichten rund um die Forschung an der Universität Bern und die Menschen dahinter.
Auer: 9000 Tote pro Jahr in der Schweiz, ein Grossteil der Rauchenden, die krank sind: irgendwann konnte man die Folgen des Tabaks nicht mehr verschleiern. In den 1950er-Jahren war das noch nicht so klar und wurde dann lange von der Industrie bewusst verschwiegen, aber irgendwann merkten die Leute, dass Tabak kein Produkt wie jedes andere ist.
Sprecher: Ich glaube, das Wissen kam schleichend, bis man die Fakten nicht mehr verleugnen konnte. Dann begann es vereinzelt in den Kantonen, bis striktere Vorschriften auf Bundesebene eingeführt wurden: Schluss mit Rauchen im Restaurant, in den Zügen, an den Hochschulen ...
Auer: Eine Zäsur war die Abstimmung vom Februar 2022, als nach vielen erfolglosen Anläufen eine klare Mehrheit die Volksinitiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung» angenommen hat.
Zurück zur offenen Drogenszene: neuerdings kommt es in der Westschweiz, aber auch in Zürich wieder zu Szenen, die wir seit den 90er-Jahren nicht mehr gesehen haben. Was passiert da gerade?Auer: Ich bin hier kein Experte, aber jede Substanz bringt ihre Herausforderungen mit sich. Forschende bei Sucht Schweiz haben dazu kürzlich eine Forschungsarbeit über die Situation in Genf publiziert. Entscheidend war, dass eine sehr gut organisierte Dealergruppe eine ausgefeilte Strategie entworfen hat, wie der Konsum angekurbelt werden kann: Sie haben fertige Crack Bällchen auf den Markt gebracht, die sehr einfach und schnell zu konsumieren sind, und insbesondere viel billiger sind. Bei solchen neuen Herausforderungen kommt die Wissenschaft ins Spiel, um die Hintergründe zu verstehen und auch Erfahrungen anderer Länder aufzuarbeiten, von denen man vielleicht lernen kann.
Sie sind beide Mitglieder in der Eidgenössischen Kommission für Fragen zu Sucht und Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (EKSN). Ist diese Kommission auch eine Reaktion auf neu aufkommenden Drogenkonsum?Sprecher: Nein. Mit den neuen Crack-Konsumformen wird die Suchtproblematik jetzt zwar wieder sichtbarer im öffentlichen Raum. Fakt ist aber, dass laufend neue Substanzen respektive neue Darreichungsformen auf den Markt kommen. Manchmal haben diese einen sofort sichtbaren Effekt, wie jetzt beim Crack. Bei an deren Substanzen merkt die Gesellschaft gar nicht, dass sie da sind. Das ist ein dauernder Wettlauf: Auf der einen Seite die Fachpersonen, vom Gesundheitswesen über die Polizei bis zur Wissenschaft – und auch die Regulierung über Gesetze oder leichter anzupassende Anhänge in Verordnungen, in denen aufgelistet ist, welche Substanzen verboten sind. Auf der anderen Seite der Markt, der kreativ Lücken ausnutzt. In diesem Wettrennen können wir nur mithalten und gute Lösungen entwickeln, wenn alle Akteure interdisziplinär zusammenarbeiten. Dazu will die EKSN beitragen.
In der Öffentlichkeit herrschte bis vor kurzem die Meinung vor, in den 90er-Jahren habe man das Drogenproblem mit der international gefeierten Schweizer Drogenpolitik ein für allemal in den Griff bekommen. Wenn wir Ihnen zuhören, ist das eher ein ständiges Austarieren hinter den Kulissen, das grossen Aufwand erfordert.Sprecher: Ja, und das betrifft auch die legalen Substanzen, etwa zugelassene Arzneimittel, die nicht in dem Sinn und Zweck verwendet werden, für den sie gedacht sind – Stichwort Hustensirup: was dürfen die Apotheken noch wie abgeben? Das muss ständig angepasst werden.
In den USA ist ja die Abgabe von Schmerzmitteln völlig aus dem Ruder gelaufen. Wie geht man in der Schweiz mit der Gratwanderung um, dass man Patientinnen und Patienten Leid ersparen will, ohne eine Suchtkrise auszulösen?Auer: Die Situation in den USA ist sehr traurig, sehr viele haben die Schmerzmittel durch Heroin und Fentanyl ersetzt, das soziale Elend ist riesig, viele sterben. Um zu verstehen, was hier passiert ist, sind wir auf unabhängige Forschung angewiesen. Wir sollten diese Epidemie differenziert betrachten. Die gängige Lesart ist, dass die Industrie und die Ärzte all dies verantworten, weil sie die Produkte promoten und verschreiben. Das war aber vielleicht nur ein Teil des Problems. Es gibt auch andere Erklärungsmöglichkeiten. So hat die Finanzkrise ab 2008 vor allem im Zentrum der USA ein riesiges soziales Elend ausgelöst, was problematischen Konsum und Sucht fördert. Wenn man schaut, wer da einen problematischen Konsum entwickelt hat, dann ist es oft die untere Mittelschicht, gerade weisse Männer. Die soziale Perspektive hat sich in den USA für diese Menschen stark verdüstert. Ärzte sind auch in den USA verpflichtet, eine Opiatverschreibung zu stoppen, sobald sie den Verdacht haben, dass eine Abhängigkeit besteht. Wenn Süchtige nach einem solchen Verschreibungsstopp ohne Begleitung und Unterstützung auf der Gasse eine Alternative wie Fentanyl konsumieren, fallen sie durch das soziale Netz, werden stigmatisiert und von der Polizei verfolgt. Deshalb ist es sehr wichtig, dass es auch in der Schweiz Fachpersonen gibt, die genau analysieren, was in den USA passiert, und die sich fragen, ob wir eine ähnliche Situation haben und welche Ansätze für die Situation in der Schweiz angebracht sind.
Zur Person
Reto Auer
ist assoziierter Professor und Leiter der Abteilung Substanzkonsum des Berner Instituts für Hausarztmedizin (BIHAM) an der Universität Bern. Er arbeitet ausserdem als Hausarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Bern.
Sprecher: Mit meinem Fachwissen, ich bin dort als Juristin tätig. Bei Diskussionen kann ich zum Beispiel aufzeigen, wo es aus juristischer Perspektive Grenzen gibt oder wie wir etwas juristisch abstützen können. Alle tragen mit ihrem Fachwissen zur Diskussion bei, man bleibt aber nicht nur in seiner eigenen angestammten Disziplin, sondern arbeitet gemeinsam an Lösungen.
Auer: Die jetzige Kommission ist ein Zusammenschluss aus drei Kommissionen, die sich separat mit Sucht, Alkohol und Tabakprävention beschäftigt haben und die alle über viele Jahre sehr viel Grundlagenarbeit geleistet haben. Jetzt in der neuen Kommission anerkennen alle, dass niemand nur auf «sein» Thema fokussieren soll – das entspricht mir sehr.
Wie meinen Sie das?Auer: Ein Beispiel: Fachleute für sogenannte «harte» Drogen stellen fest, dass eine Kriminalisierung des Drogenmarkts zu grossen sozialen und gesundheitlichen Schäden führt. Sie suchen also nach Möglichkeiten, die Abgabe an Süchtige zu vereinfachen. Tabakpräventionsfachleute hingegen sehen den zu wenig regulierten Markt und das Marketing für Tabak als Problem. Sie würden nie mit der Tabakindustrie zusammen arbeiten und stattdessen versuchen, die Abgabe und Nachfrage einzuschränken. Fachleute mit solch unterschiedlichen Herangehensweisen haben einander also erst mal nicht verstanden. Das schätze ich am meisten an solchen Kommis sionen: Man lernt voneinander.
Wie das?Auer: Wenn es beispielsweise um Cannabis geht, merkt man gemeinsam, dass für Personen, die hochsüchtig sind oder einen problematischen Konsum haben, Lösungsansätze mit einer kontrollierten, legalen und begleiteten Abgabe das Richtige sein können. Also Lösungen, wie wir sie ähnlich von der regulierten Abgabe von Opioiden kennen. Gleichzeitig haben 80 Prozent keinen problematischen Konsum. Gemäss Stellungnahme der EKSN wird empfohlen, Cannabis unter strikter Kontrolle zugänglich zu machen, aber nicht zu fördern. Denn: wenn man den Markt frei spielen lässt, damit der illegale Markt so schnell wie möglich verschwindet, mit billigem, überall erhältlichen Cannabis und Werbung, werden mehr Leute beginnen, Cannabis zu konsumieren. Das heisst, der Fokus soll gemäss EKSN auf der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit sein. Entsprechende Empfehlungen sind: keine Werbung, nicht-gewinnorientierter Verkauf ausschliesslich an Erwachsene, Verkaufsstellen regulieren. Also Lösungen, die von der Tabakprävention bekannt sind. Es geht immer darum, Wege zu finden, um soziale und gesundheitliche Schäden so gut wie möglich einzudämmen.
Sprecher: Wichtig zu betonen ist, dass eine Kommission wie die EKSN keine Entscheide trifft. Sie kann analysieren, informieren, beraten – aber letztlich ist es ein politischer Entscheid, wie mit diesen Substanzen umgegangen wird.
Die Regulierung von Suchtmitteln ist heute alles andere als logisch – beispielsweise ist Wein von der Alkoholsteuer ausgenommen. Braucht es ein kohärentes Regulierungsmodell für alle psychoaktiven Substanzen?Sprecher: Das Ganze ist historisch gewachsen – nicht umsonst befassen wir uns auch mit Rechtsgeschichte. Regulierungen oder Gesetze entstehen nicht im Elfenbeinturm, kulturelle Vorstellungen und handfeste Interessen spielen eine grosse Rolle. Nehmen wir den Alkohol und seine ökonomischen Aspekte: es sind Arbeitsplätze damit verbunden, es ist eine Tradition, es geht um ein Schweizer Kulturgut. Das muss man berücksichtigen, wenn man ein Regulierungsmodell vorschlägt. Und selbst wenn ein Gesetzesentwurf über alle Substanzen hinweg einigermassen kohärent wäre, käme es im politischen Prozess zu Anpassungen. Die Gesundheit ist nur ein Interesse unter vielen. Hier den Ausgleich zu finden, das ist die Arbeit der Politik.
«Gesundheit ist nur ein Interesse unter vielen. Den Ausgleich zu finden, ist die Arbeit der Politik.»
Franziska Sprecher
Vielleicht können wir dies an einem aktuellen Beispiel diskutieren. Im Rahmen der SCRIPT-Studie starten nun erste Pilotversuche eines legalen Konsums von Cannabis.Auer: Dieses Projekt an den Universitäten Bern und Luzern ist entstanden, weil verschiedene Städte, darunter Bern, ein Problem mit dem Cannabis hatten. Für die städtischen Behörden ist die Situation schwierig: Cannabis ist verboten, aber die Leute konsumieren und verkaufen es trotzdem – es ist nicht machbar, das Verbot durchzusetzen. Das heisst, dass es für manche Behörden eigentlich eine neue Gesetzgebung bräuchte. Pilotversuche erlauben uns als Forschenden, verschiedene Regulierungsmodelle zu prüfen. Auch dafür brauchte es eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, den sogenannten Experimentierartikel.
Was passiert nun konkret?Auer: Diesen Winter können sich Konsumentinnen und Konsumenten in den Städten Bern und Biel anmelden, später auch in Luzern. Nach einer ersten Visite kann die Hälfte der Leute in Apotheken Cannabis beziehen, die andere Hälfte wird der Kontrollgruppe zugeteilt, die noch sechs Monate warten muss. Nach sechs Monaten können wir somit die gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen zwischen beiden Gruppen gründlich vergleichen und analysieren. Dann dürfen alle während zwei Jahren Cannabis beziehen. Einer der Schwerpunkte der Studie liegt darauf, dass die Leute mit dem Rauchen aufhören – also weder Joints noch Zigaretten rauchen.
Sie sollen das Cannabis gar nicht rauchen?Auer: Nein. Wir haben in anderen Ländern gesehen, dass sich Vapes, also EJoints, verbreiten. Das ist eine neue Konsumform, von der wir noch nicht viel wissen.
Warum sollen sie vom Rauchen wegkommen?Auer: Studien von uns und anderen Forschenden zeigen, dass es eben nicht das Cannabis ist, das die Lunge zerstört und Herzkrankheiten auslöst, sondern in beiden Fällen der Tabak. Bisher war es für Personen, die Cannabis konsumieren, sehr schwierig, vom Tabak wegzukommen.
Sind die Leute, die an der Studie teilnehmen, offen für neue Konsumformen?Auer: Grundsätzlich ja. Wir arbeiten mit einer Begleitgruppe, in der auch Cannabis-Konsumierende vertreten sind und ihre Perspektive einbringen. So hätte ich persönlich beispielsweise gedacht, Haschisch brauche es nicht, verschiedene Blüten mit unterschiedlichen Konzentrationen würden reichen – aber sie wollten unbedingt ein hochwertiges Cannabisharz im Angebot. Mit den Pilotversuchen haben wir jetzt die Möglichkeit, verschiedene Konsumformen und ihre Auswirkungen auszutesten. So ist geplant, Cannabis-E-Joints und Cannabis-Mundsprays anzubieten. Die Ergebnisse könnten für die Behörden hilfreich sein, wenn es darum geht, diese alternativen Konsumformen zu regulieren.
Warum dieses vorsichtige Vorgehen?Auer: Weil man dann Anhaltspunkte hat, welche Auswirkungen zu erwarten sind. Dabei lernen wir auch von anderen Ländern. Im US-Bundesstaat Colorado beispielsweise gab es eine Volksabstimmung, und auf einmal sind Cannabisprodukte überall erhältlich, es wird Werbung gemacht – mit der möglichen Folge, dass der Konsum steigt und Kinder in der Notfallstation landen wegen CannabisGummibärchen. In SCRIPT beziehen wir uns auf die Meinung der EKSN und weiterer Organisationen, die den Ansatz «Start low, go slow» empfehlen.
Mit den Hanfshops, die um die Jahrtausendwende aufblühten, gab es in der Schweiz schon einmal eine Situation, die aus dem Ruder gelaufen ist.Auer: Ja, und aktuell sieht man beim CBD-Markt, wie schnell neue Produkte lanciert und vermarktet werden. Mit der Abgabe von Cannabis in Apotheken testen wir jetzt bewusst ein sehr eingeschränktes Modell. Der Jugendschutz ist in der SCRIPT-Studie im Fokus und nicht unbedingt die Bekämpfung des illegalen Markts. Wenn man den illegalen Markt bekämpfen will, muss man eine Substanz überall verkaufen, Werbung erlauben und sie billig machen.
«Mit der Abgabe von Cannabis in Apotheken testen wir jetzt bewusst ein sehr eingeschränktes Modell.»
Reto Auer
Das sind Zielkonflikte. Man kann also gar nicht alle Probleme mit einem Modell lösen?Auer: Wir testen mit dem Fokus auf Gesundheit und Jugendschutz – andere Versuche haben einen anderen Ansatz. International gibt es verschiedene Modelle, die wir genau verfolgen. Wir hoffen, dass die Ergebnisse aus SCRIPT der Bevölkerung und der Politik eine Diskussionsgrundlage liefern werden, um zu entscheiden, welches die beste Lösung für die Schweiz ist.
Sprecher: Man muss sich bewusst sein, dass das eine enorme Entwicklung ist. Wenn wir zehn, fünfzehn Jahre zurückschauen, dann gab es nur das strikte Verbot. Etwas ins Rollen gebracht haben dann die Entwicklungen im Bereich des medizinischen Einsatzes von Cannabis. Das hat die Basis dafür geebnet, dass diese Versuche jetzt möglich sind. Auch die experimentelle Gesetzgebung ist für die Rechtswissenschaften relativ neu – und auch für das Parlament, das diesen Weg mit dem Experimentierartikel gegangen ist.
Auer: Gleichzeitig gibt es Stimmen, denen der Weg über Pilotprojekte viel zu lange geht. So haben die Kommissionen von National und Ständerat der Parlamentarischen Initiative von Nationalrat Heinz Siegenthaler für eine «Regulierung des Cannabismarktes für einen besseren Jugend und Konsumentenschutz» bereits zugestimmt.
Sprecher: Ja, die Gesetzgebung rollt bereits, bevor der Pilotversuch begonnen hat. Das ist die Schwierigkeit, dass die Prozesse parallel laufen, und wir aufpassen müssen, dass sie nicht gegeneinander laufen. Doch das lässt sich nur bedingt steuern.
Wie könnte es nun weitergehen? Könnte die historisch gewachsene, inkohärente Regulierung im Suchtbereich in bessere Lösungen münden?Sprecher: Beim Cannabis sieht es im Moment danach aus. Man darf aber nicht vergessen, dass Cannabis eine von vielen Substanzen ist. Sucht ist unendlich breit. Von den ganzen Verhaltenssüchten – etwa im Bereich Social Media oder auch Kaufsucht – haben wir noch gar nicht gesprochen, das sind wieder andere Baustellen. Wir haben jetzt beim Cannabis gute Entwicklungen, aber wir haben ganz viele Bereiche, die von der Gesellschaft und der Politik gar nicht wahr genommen werden. Wir sind nicht dabei, die Lösung der Suchtproblematik in der Gesellschaft zu finden.
Zum Abschluss: Wie gehen Sie persönlich mit dem Thema Rausch um, vielleicht auch mit Ihren Kindern? Was gilt bei Ihnen zu Hause in Bezug auf Rausch, auf potenziell süchtig machende Stoffe oder auch Medien?Sprecher: Ich glaube, Rausch ist ein Teil des Lebens und in Bezug auf Kinder haben wir eine grosse Verantwortung. Es ist wichtig, dass man sie aufklärt, und nicht einfach verbietet, das ist kontraproduktiv. Es gibt bereits für kleine Kinder gute Bücher. Als Eltern sollen wir Jugendliche eng begleiten, zuhören, nicht die Augen verschliessen, wach bleiben und für sie da sein.
Auer: Meine Kinder sind jetzt 5 und 8 Jahre alt. Es ist unsere Verantwortung als Erwachsene, der nächsten Generation ein Umfeld anzubieten, das problematischen Konsum nicht als normal und sogar «cool» deklariert, wie es in meiner Jugend beim Tabak der Fall war.
Magazin uniFOKUS
Jetzt kostenlos abonnieren
Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln.