Chancengleichheit
«Wir Männer müssen etwas ändern»
Die «Leaders for Equality-Studie» zeigt: Während Schweizer Uni-Professoren meinen, genug für die Geschlechtergleichstellung zu tun, schätzen Professorinnen es ganz anders ein. Vizerektor Hugues Abriel hat teilgenommen – und schon selbst Kollegen auf fehlende Sensibilität fürs Thema hingewiesen.
Hugues Abriel, haben die Ergebnisse der Studie Sie überrascht?Hugues Abriel: Allerdings. Ich hätte nicht gedacht, dass Frauen und Männer eine solch unterschiedliche Wahrnehmung in Bezug auf das Gleichstellungs-Engagement von Professoren haben. Ich habe bei dieser Befragung selbst mitgemacht und glaubte, bisher bei der Genderthematik einiges richtig gemacht zu haben.
Wie erklären Sie sich diese grossen Differenzen?Ich könnte mir vorstellen, dass man Probleme anders wahrnimmt, wenn man direkt oder indirekt betroffen ist. Aber vermutlich können Soziologen und Psychologinnen diesen Unterschied besser erklären als ich.
Tatsache ist: Obwohl immer mehr Frauen studieren, stagniert die Quote von Vollzeitprofessuren für Frauen an Schweizer Universitäten in den letzten Jahren bei einem Viertel. Warum sind Frauen in ihrer beruflichen Entwicklung nach wie vor benachteiligt?Immerhin bei den neuen Anstellungen von Assistenzprofessuren, also von 2018 bis 2020, liegt die Uni Bern mit 67 Prozent Frauen deutlich über dem Schweizer Durchschnitt. Man sollte auch sehen, dass der Anteil der Frauen an den ordentlichen und ausserordentlichen Professuren im Jahr 2012 bei knapp 17 Prozent lag und im Jahr 2022 bei 26 Prozent. In der Schweiz haben wir nun einmal eher konservative Institutionen. Umso wichtiger ist, dass sich die Unileitung hier engagiert.
Um die Unterrepräsentation von Frauen bei Führungskräften zu beheben, sind männliche Führungskräfte in den Fokus gerückt. Warum schaffen es Frauen nicht an die Spitze ohne die Hilfe der Männer?Es ist natürlich nicht so, dass Frauen Hilfe brauchen, weil sie Probleme hätten. Das Problem liegt in den Strukturen und Kulturen. Es ist wichtig, dass wir Männer merken, dass ein Teil des Problems bei uns Männern liegt und dass wir etwas ändern müssen. Mehr Diversität ist ein Mehrwert. Dafür braucht es auch mehr Frauen in Führungsetagen. Manche Männer haben das schon verstanden, andere noch nicht.
«Wir Männer müssen uns bewusst sein, wie wir funktionieren. Dann müssen wir reagieren.»
Hugues Abriel
Was sollen Professoren und Dozenten im Universitätsalltag denn für die Gleichstellung tun?Wichtig ist, dass wir Männer uns bewusst werden, wie wir funktionieren – und dass wir entsprechend reagieren. Als ich vor einigen Jahren eine Tagung organisierte, realisierte ich, dass mir nur Männer einfielen. Ich fragte mich dann, warum dies so ist, denn eigentlich gab es durchaus valable Referentinnen. Vermutlich sind wir Männer so sozialisiert: Wir laden Menschen ein, die gleich aussehen und ticken wie wir, das ist einfacher und sicherer für uns.
Was wären folglich geeignete genderinklusive Führungspraktiken?Man kann für Tagungen festlegen, dass mindestens 50 Prozent Frauen eingeladen werden. Bei Anstellungen oder Berufungen von Professorinnen und Professoren kann man auch proaktiv Frauen zum Bewerbungsgespräch einladen, wenn man geeignete und interessierte Kolleginnen kennt.
Wie bedeutend sind Rollenmodelle?Sie sind sehr wichtig. Die Universität Bern wird im August 2024 mit Virginia Richter zum ersten Mal eine Rektorin bekommen. So sieht die junge Generation, dass auch Frauen hervorragend sind in ihrem Job.
Aus der Studie geht hervor, dass Frauen öfter abwertenden Bemerkungen ausgesetzt sind als Männer. Jede zweite Frau gibt zudem an, bei Besprechungen häufiger als andere unterbrochen zu werden. Warum machen Männer Frauen schlecht oder unterbrechen sie?Ich weiss nicht, warum das so ist. Aber immer wieder ertappe auch ich mich beim sogenannten Mansplaining, obwohl ich eigentlich eine Person bin, die gern zuhört und versucht, andere nicht zu unterbrechen. Wenn wir Männer uns vergegenwärtigen, dass wir so handeln, ist das schon ein erster Schritt, damit aufzuhören. Auch ich brauchte etwas Zeit, um zu verstehen, dass wir Männer Teil des Problems sind.
Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass Männer ihr gesellschaftliches Engagement überschätzen. Ist es einfach nur menschlich, dass man sich sozialer, umweltbewusster und genderfreundlicher einschätzt, als man tatsächlich ist?Möglich. Aber vielleicht ist es auch eine Überinterpretation der Studie, wenn wir nun sagen, dass Männer ihr Engagement überschätzen. Bestimmt gibt es eine Diskrepanz in der Wahrnehmung. Auf jeden Fall sollte die Studie Anlass geben, über unser Gleichstellungsengagement zu diskutieren.
«Auch ich brauchte etwas Zeit, um zu verstehen, dass wir Männer Teil des Problems sind.»
Hugues Abriel
Wer soll diesen Dialog führen?Alle. Auf jeder Ebene. Dazu müssen wir uns mit den Betroffenen austauschen und sie befragen, was sie von den Massnahmen halten. Es gibt zum Beispiel Workshops oder Mentoringprogramme nur für Frauen. Einige Kolleginnen empfinden es als herabsetzend, wenn wir solche Angebote nur für Frauen anbieten. Was gut gedacht war, kann auch als diskriminierend empfunden werden.
Können Sie Beispiele nennen?Es gibt viele Beispiele, denn wir müssen die Chancengleichheit nicht nur zwischen Mann und Frau verbessern, sondern auch andere Ungleichheiten einbeziehen. Ich denke hier an die ethnische Herkunft, an Menschen mit Behinderungen oder an die Geschlechtsidentität. Am Beispiel WC zeigt sich dieses Dilemma: Manche finden, Toiletten an der Uni müssten genderneutral sein. Andere Frauen und Männer hätten lieber einen Safe Space.
Müssen Frauen nach wie vor besser sein als ihre Kollegen, um gleich erfolgreich zu sein?Ja, das erlebe ich auch so. Kürzlich meinte eine Expertin für Genderfragen zu mir, dass wir Gendergleichheit erst dann erreicht hätten, wenn auch mittelmässige Frauen Führungspositionen innehätten – wie das bei den Männern schon immer der Fall sei. Der Missstand hat seine Wurzeln in unseren patriarchalen Strukturen.
Männer bleiben also gern unter sich. Haben Männer auch Angst, dass es von Frauen falsch verstanden werden könnte, wenn sie sie auffordern, zum Feierabendbier hinzuzustossen?Das kann durchaus sein. Ich denke, es ist eine eindeutige soziale Tatsache, dass wir dazu neigen, uns an diejenigen zu halten, die uns ähnlich sind. Das scheint für uns Männer wichtig zu sein.
«Männer und Frauen müssen sich gemeinsam vernetzen.»
Hugues Abriel
Kann es auch sein, dass viele Professorinnen und Dozentinnen einfach direkt nach Hause müssen, weil sie dort eben doch noch mehr Haushaltspflichten erwarten als die Professoren?Ich glaube schon, dass bei den meisten Professorinnen der Care-Aspekt zu berücksichtigen ist. Aber es geht eher in die Richtung, dass Männer anders miteinander interagieren. Sie fühlen sich, wie erwähnt, sicherer, wenn sie Männer um sich haben.
Dann sollten sich Frauen besser untereinander vernetzen?Nein. Ich glaube, Männer und Frauen müssen sich gemeinsam vernetzen.
Wird man es irgendwann schaffen, Wissenschaft nicht nur vor allem als «männlich» zu betrachten?Während meiner Tätigkeit im Ausland, etwa in der Ukraine oder in Russland, gab es sogar mehr Wissenschaftlerinnen oder zumindest Parität zwischen den Geschlechtern.
Hinkt die Schweiz hier hinterher?Es liegt wohl tatsächlich an den bestehenden Mechanismen und an den patriarchalen Strukturen in der Schweiz. Doch einfach loslegen und die Gruppierungen, die wir gleichstellen wollen, nicht einbinden, geht nicht. Mitwirkung ist zentral – ob es sich um ein Antirassismusprogramm oder ein Mentoringprogramm für Frauen handelt. Wir brauchen mehr Diversität: Gender ist nur einer der Aspekte, wie eine Universität diverser werden kann.
Ein anderes Ergebnis der Studie weist darauf hin, dass nach Selbsteinschätzung der Männer drei Viertel auf gleich lange Redebeiträge achten. Doch nur für einen Fünftel ihrer Kolleginnen im akademischen Betrieb ist dies erkennbar. Wäre es sinnvoll, so etwas genau zu messen?Fakten helfen sicher, um Männer und Frauen aufzuzeigen, wo es ein Problem gibt. Wir WissenschaftlerInnen lieben Zahlen und lassen uns von Zahlen überzeugen!
Erleben Sie bereits, dass Genderdiskussionen und -massnahmen Frauen und Männer gegeneinander aufbringen?Ich arbeite in vielen Gremien mit, in denen wir versuchen, mehr Diversität zu schaffen, also mehr jüngere, nicht weisse, nicht männliche Menschen einzubinden. Ich habe deshalb regelmässig schwierige Reaktionen von «alten weissen Männern» erhalten, die sich unfair behandelt fühlen. Ein Nobelpreisträger aus Zürich etwa hielt nicht wie geplant einen wissenschaftlichen Vortrag, sondern nutzte diesen Rahmen, um sich zu beklagen, wie unwohl er sich fühle und wie er diskriminiert werde.
Mussten Sie selbst schon Privilegien zugunsten einer Kollegin abgeben?Nein, ich hatte viel Glück, weil ich meist in das gewünschte Stellenprofil gepasst habe. Ich war auch sonst privilegiert: Obwohl ich aus einer Arbeiterfamilie komme, habe ich dank Stipendien an den besten Unis studiert; ich wuchs in Genf auf und, eben: Ich bin als Mann geboren.
Reden Sie mit anderen Männern über die Genderthematik?Das mache ich. Einmal machte ich mich unbeliebt, als ich einen Kollegen unterbrach und ihm sagte, er liege mit seiner Meinung völlig daneben. Er hatte sich beklagt, dass die Diversitätsmassnahmen in seiner Wissenschaftszeitschrift der Qualität und Exzellenz der Wissenschaft abträglich seien. Ich musste ihm erklären, er habe da etwas grundsätzlich nicht verstanden.
Zur Person
Prof. Dr. Hugues Abriel
ist Vizerektor Forschung an der Universität Bern und Professor für molekulare Medizin am Institut für Biochemie und Molekulare Medizin.
Forschungsprojekt «Leaders for Equality»
Die Universität St. Gallen (HSG) führte unter der Leitung von Prof. Dr. Julia Nentwich eine Umfrage zum Gleichstellungsengagement männlicher Professoren und Dozenten durch. Die Studie war von IDEAS in Auftrag gegeben worden, dem Verein der Gleichstellungsbeauftragten der Schweizer Unis und Hochschulen.
Die Resultate sind hier publiziert.
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