Interkulturelles Wissen
Wie Bezeichnungen für Zugewanderte Vorurteile prägen
Im öffentlichen Diskurs werden zugewanderte Menschen abwechselnd als «Flüchtlinge», «Asylbewerber» oder «Migranten» bezeichnet. Eine internationale Studie unter Leitung der Uni Bern kommt zu neuen Erkenntnissen, wie diese Etikettierungen Vorurteile gegenüber zugewanderten Menschen beeinflussen.
Im Jahr 2022 erreichte die Zahl der Vertriebenen zum ersten Mal in der Geschichte 100 Millionen, ein dramatischer Meilenstein, der für Fachleute vor zehn Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Der beispiellose Zustrom von einwandernden Menschen nach Europa begann im Jahr 2015 und wurde von den Massenmedien als «Flüchtlingskrise» bezeichnet.
Mangelhafte Vergleichbarkeit bisheriger Erkenntnisse
Im öffentlichen Diskurs wurden Menschen, die seit 2015 nach Europa flüchteten, austauschbar als «Flüchtlinge», «Asylbewerber» oder «Migranten» bezeichnet. «Asylbewerber» und «Flüchtlinge» sind Menschen, die aus politischen Gründen aus ihrem Heimatland fliehen mussten, beispielsweise aufgrund von Kriegen oder als Verfolgte einer ethnischen Minderheit. Für den allgemeineren Begriff «Migranten» gibt es hingegen keine klare rechtliche Definition. Er umfasst nicht nur geflüchtete Menschen und Asylsuchende, sondern auch Personen, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben.
Politikerinnen, Entscheidungsträger und Journalistinnen wurden für die ungenaue Verwendung dieser Art Begriffe zur Beschreibung von Menschen auf der Flucht kritisiert. Die wissenschaftlichen Belege für die Auswirkungen solcher Begriffe auf die Einstellung der Bevölkerung gegenüber zugewanderten Menschen waren jedoch bislang nicht schlüssig. Dies ist darauf zurückzuführen, dass frühere Studien
-
- nur in einzelnen Ländern durchgeführt wurden (beispielsweise nur in Deutschland)
- verschiedene Gruppen von Begriffen verglichen (wie etwa «Flüchtlinge» mit «Asylbewerbern», während andere »Flüchtlinge» mit «Migranten» verglichen)
- die Auswirkungen von Begriffen auf unterschiedliche Ergebnisvariablen untersuchten: Einige Studien konzentrierten sich darauf, wie die Bezeichnungen für zugewanderte Menschen die Sympathie für (also Vorurteile gegen) die jeweiligen Gruppen beeinflussen, während andere die Auswirkungen auf die Wahrnehmung ihrer typischen Merkmale (also Stereotypen) oder die Solidarität mit diesen Gruppen (also Verhaltensabsichten zur Hilfe) untersuchten.
Folglich konnten die Ergebnisse nicht über verschiedene Länder, unterschiedliche Bezeichnungen und Aspekte der Einstellungen gegenüber zugewanderten Menschen verallgemeinert werden.
Innovatives Studiendesign
Um besser verallgemeinerbare Ergebnisse zur Bedeutung der Etikettierung zu erhalten, initiierten wir an der Universität Bern ein internationales Forschungsprojekt mit Kolleginnen und Kollegen aus acht europäischen Ländern sowie Australien. Zunächst analysierten wir den öffentlichen Diskurs in den beteiligten Ländern, um die am häufigsten verwendeten Bezeichnungen für zugewanderte Menschen in der «Flüchtlingskrise» zu ermitteln und zu vergleichen.
Anschliessend wurden knapp 3’000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Hilfe eines experimentellen Designs nach dem Zufallsprinzip einer von drei Gruppen zugeordnet. In der ersten Gruppe gaben die Teilnehmenden ihre Einstellung gegenüber «Flüchtlingen» an, in der zweiten gegenüber «Asylbewerbern» und in der dritten gegenüber «Migranten».
Wichtig ist, dass wir dabei verschiedene, positive wie negative Aspekte berücksichtigt haben, um die nuancierte Wirkung der verschiedenen Bezeichnungen zu erfassen. So gaben die Teilnehmenden an, ob sie «Flüchtlinge», «Asylbewerber» oder «Migranten» als Bedrohung für sich und ihr Land empfinden, wie es einige Studien zuvor getan haben.
Zusätzlich haben wir allerdings positive Aspekte in der Wahrnehmung der Zuwanderung berücksichtigt – und zwar die Vorteile, die «Flüchtlinge», «Asylbewerber» oder «Migranten» den Aufnahmeländern bringen können – hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, der kulturellen Bereicherung oder dem positiven Image des Landes.
Migranten» gegenüber «Flüchtlingen» und «Asylbewerbern» bevorzugt
Die Studie ergab, dass die Bezeichnungen «Flüchtlinge» und «Asylbewerber» in den neun Ländern die negativsten Einstellungen hervorrufen. Die Teilnehmenden waren weniger geneigt, «Flüchtlinge» und «Asylbewerber» als ihre Nachbarinnen, Kollegen oder Freundinnen zu akzeptieren, als dies bei «Migranten» der Fall war. Allerdings hatten die unterschiedlichen Bezeichnungen keinen Einfluss auf die Meinung der Teilnehmenden über die Einwanderungspolitik oder ihre Sympathie für zugewanderte Menschen.
Der Grund, aus dem die Teilnehmenden «Migranten» gegenüber «Flüchtlingen» und «Asylbewerbern» bevorzugten, war, dass sie glaubten, «Migranten» brächten ihren Ländern mehr Vorteile. Ihrer Ansicht nach haben «Migranten» «die Wirtschaft ihres Landes wettbewerbsfähiger gemacht», «die Kultur ihres Landes mit anderen Traditionen bereichert» und «das globale positive Image ihres Landes verbessert, weil es ihnen eine Bleibe bietet».
Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Aufnahmegesellschaften eher bereit sind, zugewanderte Menschen zu akzeptieren, die aus politischen Gründen gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen. Sie wurden gegenüber Menschen bevorzugt, die aus wirtschaftlichen Gründen geflüchtet sind. Dieser Befund steht im Widerspruch zu den Ergebnissen der aktuellen Studie, in der die Teilnehmenden «Migranten» – zu denen auch Personen mit wirtschaftlichen Gründen gehören – gegenüber «Flüchtlingen» und «Asylbewerbern» bevorzugten.
Der Grund, warum «Flüchtlinge» in der vorliegenden Untersuchung weniger bevorzugt wurden als «Migranten», sind wahrscheinlich Assoziationen, die nahelegen, dass «Flüchtlinge» keine Solidarität verdienen und zu einer negativen Bewertung des Begriffs führen. Begriffe wie «Wirtschaftsflüchtlinge», die vor allem in einwanderungsfeindlichen Diskursen verwendet werden, delegitimieren die Auswanderungsgründe dieser Menschen. Auf diese Weise treiben populistische Politikerinnen und Politiker ihre einwanderungsfeindliche Agenda voran, indem sie Flüchtlinge mit «unmoralischen» Zugewanderten gleichsetzen, die ihren Lebensstandard auf Kosten anderer verbessern wollen.
Schlussfolgerungen für die Kommunikation über Zugewanderte
Derzeit erleben die europäischen Länder eine zunehmende politische Radikalisierung und ideologische Polarisierung. Die Einwanderung ist eines der zentralen Themen, das Gesellschaften spaltet und so Demokratien untergraben kann. Die aktuelle Studie deutet darauf hin, dass die Bedeutung der Bezeichnungen für zugewanderte Menschen vom Kontext, in dem sie verwendet werden, beeinflusst wird – vor allem in negativer Hinsicht. Hieraus lassen sich Empfehlungen für die Kommunikation über zugewanderte Menschen ableiten: Eine praktikable Strategie gegen den Trend einer vermehrt negativ gefärbten Einstellung gegenüber zugewanderten Menschen ist eine präzise Kommunikation.
Wir schlagen vor, die im Diskurs über zugewanderte Menschen verwendeten Bezeichnungen zu erläutern, indem beispielsweise die Merkmale und Gründe für die Migration der jeweiligen Zuwanderungsgruppe angegeben werden. Eine weitere vielversprechende Möglichkeit, die Akzeptanz vonzugewanderten Menschen zu erhöhen, besteht unserer Ansicht nach darin, die Vorteile hervorzuheben, die die Zuwanderung den Aufnahmegesellschaften bietet, was der in vielen Gesellschaften vorherrschenden negativen Wahrnehmung von Zuwanderung entgegenwirken könnte.
Zur Studie
Publikation im European Journal of Social Psychology
Graf, S., Rubin, M., Assilamehou-Kunz, Y., Bianchi, M., Carnaghi, A, Fasoli, A., Finell, E., Gustafsson Sendén, M., Shamloo, S., Tocik, J., Lacko, D., & Sczesny, S. (2023). Migrants, asylum seekers, and refugees: Different labels for immigrants influence attitudes through perceived benefits in nine countries. European Journal of Social Psychology.
Soziale Neurowissenschaft und Sozialpsychologie
Über die Abteilung Soziale Neurowissenschaft und Sozialpsychologie
Die Abteilung ist am Institut für Psychologie der Universität Bern angesiedelt und beschäftigt sich mit dem menschlichen Verhalten und Erleben im sozialen Kontext. In ihrer Forschung bezieht sie neben der Vertiefung des Grundlagenwissens auch biologische Grundlagen des sozialen Erlebens und Verhaltens sowie die Anwendung verhaltens- ökonomischer Paradigmen mit ein. Der Forschungsansatz ist empirisch-quantitativ. Schwerpunkte sind: Soziale Neurowissenschaft, Neuroökonomie, Kooperation, soziale Konflikte, prosoziales Verhalten, Selbstregulatorische Fähigkeiten, Stereotype/Vorurteile.