Familie, Liebe und Freundschaft – über die Kraft der Bindung

Wie wir lieben und uns freundschaftlich verbandeln, hat viel mit der Familie zu tun, in der wir gross wurden. Wie prägt uns ihr Gefüge, was bringt uns das fürs Leben, und wie lassen sich Bindungsmuster überwinden? Entwicklungspsychologin und Familientherapeutin Pasqualina Perrig-Chiello weiss Antwort.

Welchen Rat würden Sie einem jungen Menschen geben, dem die erste Liebe noch bevorsteht?

Pasqualina Perrig-Chiello: Geniess es, koste die Liebe, sie ist etwas Wunderbares, eine riesige Kraft, die vieles bewirken kann. Eigentlich möchte ich aber gar keinen Rat geben, Ratschläge sind auch Schläge. Deshalb würde ich auch nicht sagen, dass es später ein b-Moll geben kann.

Warum sind nahe zwischenmenschliche Beziehungen eigentlich von so elementarer Bedeutung für uns? In der Psychologie gelten sie als ein Grundbedürfnis.

Wir sind soziale Wesen, kurzum. Allein können wir nicht überleben, als Kleinkinder sowieso nicht. Familiale Bindungen haben seit je unser Fortbestehen garantiert. Bindung und Fürsorge sind wichtig, vor allem das Bedürfnis, dazuzugehören – einen «sense of belonging» zu spüren, wie es in der Fachliteratur bezeichnet wird.

Was ist eine Familie aus entwicklungspsychologischer Sicht?

Eine Familie ist eine Schicksalsgemeinschaft mit nachhaltiger Wirkung für die individuelle Entwicklung. Wir können sie nicht auswählen, wir werden in ihre sozialen Umstände hineingeboren und von ihr geprägt – unabhängig von unserer genetischen Ausstattung, die rund 30 Prozent ausmacht. Die Familie gibt die Werthaltungen und Verhaltensweisen vor. Von ihr lernen die Kinder, was richtig und was falsch ist, und auch, was Liebe ist.

Was kennzeichnet eine glückliche Familie?

Das Vertrauen ineinander. Wenn ein Kind den Eltern vertrauen kann und die Eltern dem Kind, ist das schon die halbe Miete für das weitere Leben. Und natürlich positive Emotionen, insbesondere Liebe. Liebe ist ein weiter Begriff und umfasst Zuwendung, Fürsorglichkeit, ein warmes Klima des Verständnisses, des Sichzuhörens und Sichkümmerns. Drittens Reziprozität und Verbindlichkeit, also ein Geben-und-nehmen-Können. Zu wissen, dass etwas zurückkommt, wenn ich etwas gebe, und was ich dafür erwarten kann. Letztlich auch ein ausgewogenes Verhältnis von gegenseitiger Förderung und Forderung und dabei Freiräume zur persönlichen Entfaltung zu haben.

Wie zahlt sich das aus?

Kinder mit sicheren, also mit starken, verlässlichen und vertrauensvollen Bindungen zu ihren Eltern oder anderen primären Bezugspersonen weisen als Erwachsene in der Regel ein besseres Wohlbefinden und eine bessere Gesundheit auf. Sogar ihre Lebenserwartung ist im Mittel höher als bei Menschen, die als Kinder keine sichere Bindung entwickeln konnten. Forschungsarbeiten zeigen jedenfalls, dass die Mehrheit der Kinder – rund 60 Prozent – zum Glück sicher gebunden ist.

Zur Person

Pasqualina Perrig-Chiello

war von 2003 bis zu ihrer Emeritierung 2016 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne und familiale Generationenbeziehungen. Pasqualina Perrig-Chiello wurde 2012 ins AcademiaNet gewählt und war von 2017 bis 2022 Präsidentin der Seniorenuniversität Bern, der sie nun als Vizepräsidentin dient. Die ausgebildete Familientherapeutin ist eine gefragte Interviewpartnerin deutschsprachiger Leitmedien und schreibt zurzeit an einem Buch über die grossen Übergänge im Leben.

Kontakt 

Prof. em. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello
pasqualina.perrigchiello@unibe.ch

Wie prägt die Herkunftsfamilie die eigenen Beziehungen im späteren Leben?

In der Familie üben wir von klein auf unser Bindungsverhalten ein. Die Eltern leben uns dieses vor, sowohl beim Umgang mit uns als Kindern sowie mit sich als Paar. Diese Bindungsmuster werden nachweislich in der Regel an die nächste Generation weitergegeben. Die Forschung zeigt zudem eindrücklich, dass die negativen Vorbilder stärker und nachhaltiger wirken als die positiven. Menschen, die als Kinder unsicher gebunden waren, haben später mit grosser Wahrscheinlichkeit mehr Mühe in Liebesbeziehungen als sicher gebundene. Und Kinder, deren Eltern eine schlechte Beziehung hatten und sich scheiden liessen, haben ein grösseres Scheidungsrisiko. Leider ist aber der Umkehrschluss nicht zulässig: Kinder aus Nichtscheidungsehen haben keine Garantie, dass sie eine lange, glückliche Ehe führen können.

Lassen sich denn keine Veränderungen im Bindungsverhalten über die Lebensspanne hinweg beobachten?

Die Lebenslaufforschung zeigt, dass wir die in der Kindheit erlernten Bindungsmuster mitnehmen, als Schemata, wie Beziehungen funktionieren. Sie prägen unsere sozialen Beziehungen im beruflichen und im privaten Leben – unsere berufliche Laufbahn, unsere Freundschaften, unsere Partnerschaften und unser Verhalten gegenüber den eigenen Kindern. Aus der Forschung, insbesondere aus Langzeitstudien – etwa der Entwicklungspsychologin und Resilienzforscherin Emmy Werner – wissen wir aber auch, dass es Ausnahmen gibt, und vor allem auch, dass spätere Korrekturen möglich sind.

«Negative Vorbilder wirken stärker und nachhaltiger als positive.»

Würden Sie den Satz unterschreiben, dass es nie zu spät für eine glückliche Kindheit sei?

Als Vertreterin der Positiven Psychologie bin ich geneigt zu sagen: Ja! Allerdings muss ich gleich beifügen: Es ist nicht einfach. Ein Mensch mit schlechten Startbedingungen muss schon ein gutes Umfeld antreffen und emotional so intelligent sein, dass er mögliche Angebote aus dem Umfeld zur eigenen Entfaltung nutzen kann. Die psychische Widerstandskraft ist nicht angeboren, sondern entsteht aus der Wechselwirkung von persönlichen Stärken und Angeboten von aussen: etwa in Gestalt einer Lehrerin oder Hausärztin, die merkt, dass in der Familie etwas falsch läuft und etwas dagegen unternimmt.

Was braucht es, damit ein Erwachsener die Prägungen aus der Kindheit überwinden kann?

Er braucht zum einen eine tragende soziale Umgebung, eine Partnerin oder einen Partner, Freundinnen und Freunde. Weiter braucht es eine Gesellschaft, die wie die Schweiz die Rahmenbedingungen dafür bietet. Wer in einem Kriegsgebiet aufwächst, hat wenig Chancen. Und es braucht – und das ist das Entscheidende – ein selbstverantwortliches Wesen. Menschen sind kein Spielball des Schicksals oder der Umstände, sondern können ihre Entwicklung weitgehend selbst gestalten. Dazu braucht es den Glauben an die Selbstwirksamkeit, und diese kann man erlernen, selbst wenn sie in der Kindheit nicht erfahren werden konnte.

Erklären Sie das bitte ausführlicher.

Auch wenn zumeist eine gewisse Verletzlichkeit bleibt, können wir Charakterstärken entwickeln, welche die negativen Erfahrungen aus der Kindheit wettmachen können – etwa Selbstvertrauen, Dankbarkeit, Hoffnung, Weitsicht, Mitgefühl, Spiritualität oder Humor. Der springende Punkt ist die Selbsterkenntnis und damit das Wissen um diese Vulnerabilität. Die Krisen in unserem Leben bieten uns die Chance dazu: Sie lehren uns, wo wir verletzlich sind, aber auch, was unsere Stärken sind und wie wir Hoffnung schöpfen können. Im besten Fall lernen wir dabei eine bessere Selbststeuerung. Diese ermöglicht es uns, alte Muster zu überwinden und neue zu erlernen. Aus der Forschung wissen wir, dass mit zunehmendem Alter die Selbststeuerung besser wird. Wir werden im besten Fall immer besser bei der Bewältigung von Krisen.

Die klassische Familie aus Vater, Mutter, Kind steht heute einer Vielfalt moderner Familienformen wie Patchwork-, Eineltern- oder Regenbogenfamilien gegenüber. Würden Sie eine Vorhersage wagen, wie sich diese Entwicklung auf uns auswirkt?

Schauen Sie, Familien gab es schon immer in den verschiedensten Formen und Schattierungen. Und Patchworkfamilien gab es häufiger als heute, weil viele Mütter früh verstarben und die Väter wieder heirateten. In welcher Form auch immer sich Familien zusammensetzen, ist es interessant, dass der Mensch immer wieder dasselbe sucht: Verlässlichkeit und Fürsorge durch Bindung. Die Grundbedürfnisse ändern sich ja nicht über die Jahrtausende.

Wo aber sehen Sie Veränderungen?

Eine positive Entwicklung sehe ich darin, dass es keinen normativen Zwang mehr bezüglich Familiengründung und Familienform gibt. Viele bleiben bewusst kinderlos oder Single. Wir leben in einer Gesellschaft, die nicht nur zunehmend individualisiert, sondern auch singularisiert ist – haben dafür aber Wahlfamilien, enge Beziehungen zu nicht blutsverwandten Bezugspersonen. Die grössere Wahlfreiheit wird Wahlverwandtschaften wichtiger werden lassen. Die Rechtsetzung zieht hier schon mit: Pflegende Angehörige sind heute nicht mehr nur Ehepartner und Kinder, sondern vermehrt auch Lebensgefährten ohne Eheschein, gute Freundinnen oder Nachbarn.

Ist die konventionelle Familie ein aussterbendes Modell?

Ich sehe kein Ende der Familie, sondern ein Revival. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir neben einer grösseren Vielfalt an Familienformen auch zunehmend viele Menschen, die wieder in einer traditionellen Familie leben wollen. Dieser wissenschaftlich bestätigte Trend spiegelt sich auch in den Daten des Bundesamtes für Statistik wider. Viele Frauen in der Schweiz reduzieren ihr Arbeitspensum oder verzichten ganz auf Erwerbsarbeit, wenn sie Mutter werden, um sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Die Männer haben zwar nachweislich zunächst die Absicht, sich vermehrt in Familie und Haushalt einzubringen, wenn sie Vater werden. Zumeist bleibt es aber bei den guten Vorsätzen. Vielleicht liegt es an den Arbeitsbedingungen – ich weiss es auch nicht.

«Selbsterkenntnis ist der Schlüssel zur Überwindung alter Muster.»

Die Retraditionalisierung zeigt sich auch beim Heiratsverhalten. Neben Paaren, die ganz aufs Heiraten verzichten, gibt es solche, die Verlobung und Heirat sehr traditionell zelebrieren. Eine Entwicklung, die für meine Generation, die sich von diesen Traditionen trennte, nicht nachvollziehbar ist.

Sind wir denn hinsichtlich der Geschlechterrollen nicht flexibler geworden? Auch die neue Sichtbarkeit der LGBTQI*-Community trägt doch dazu bei. Und junge Menschen scheinen sich weniger über die Kategorie Geschlecht zu identifizieren.

Bezüglich der Definition der Geschlechteridentität ist bei jungen Leuten vieles im Umbruch. Anders als in früheren Generationen wird das binäre Geschlecht – Mann oder Frau – vermehrt infrage gestellt und öffentlich thematisiert. Das ist begrüssenswert, denn das enttabuisiert ein Thema, das eine Community betrifft, die es schon immer gab und die schon immer diskriminiert wurde – auch heute noch. Die Liberalisierung des Diskurses hat dazu geführt, dass immer mehr Jugendliche ärztliche Hilfe aufsuchen, weil sie bezüglich ihrer Geschlechtsidentität unsicher sind. Allerdings muss hier beigefügt werden, dass das Oszillieren zwischen den Geschlechtern und sexuellen Orientierungen oder das Ausloten der Grenzen während des Übergangs ins Erwachsenenalter völlig normal ist, nur wurde das bislang tabuisiert.

Und wie entwickelt sich die Geschlechteridentität später im Leben?

Fakt ist, dass sich das Geschlechterrollenverständnis auch im weiteren Lebensverlauf verändert. So werden beispielsweise im mittleren Lebensalter Geschlechterrollen vermehrt infrage gestellt. Frauen wie Männer brechen aus gewissen Zwängen und dem Geschlechtsrollenstress aus, die Interpretation von «männlich» und «weiblich» wird breiter. Tatsächlich können wir viele Coming-outs im mittleren Lebensalter beobachten.

Halten Sie es für möglich, dass sich die Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter irgendwann erübrigen wird?

Nein. Die Polarität männlich versus weiblich hat die Menschheit über Jahrtausende fasziniert und wird sie weiter faszinieren, mit allen Facetten.

«Im mittleren Lebensalter brechen Frauen wie Männer aus dem Geschlechtsrollenstress aus, die Interpretation von ‹männlich› und ‹weiblich› wird breiter.»

Eine ganz andere Frage: Wie lassen sich Liebe und Freundschaft eigentlich voneinander abgrenzen?

Freundschaft zeichnet sich durch eine enge zwischenmenschliche Beziehung aus, die auf Sympathie, gemeinsamen Interessen und Gegenseitigkeit beruht. Bei der Liebe kommen romantische Gefühle, Verliebtheit, Leidenschaft und der Wunsch nach Verbindlichkeit hinzu. Die Liebe verändert sich aber mit den Jahren. Wenn sich aus der Verliebtheit Vertrauen entwickelt und Beständigkeit und gegenseitige Unterstützung hinzukommen, kann sich das dem annähern, was wir unter Freundschaft verstehen. So etwa im höheren Alter, wenn die Sexualität keine zentrale Rolle mehr spielt, aber ein Paar füreinander da ist.

Die Abgrenzung ist also nicht immer so klar?

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Grenzen zwischen Liebesbeziehung und Freundschaft tatsächlich auflösen. So etwa beim Modell «Freundschaft plus», das Freundschaft und ein sexuelles Verhältnis einschliesst. Dieses Modell scheint mir unverbindlicher zu sein. Wir Menschen sind aber psychologisch gesehen nicht für Unverbindlichkeit geschaffen. Das kann eine Zeit lang funktionieren, wenn es uns gut geht. Aber wenn es uns schlecht geht, kann aus der Unverbindlichkeit eine Ambivalenz werden – was sind wir denn füreinander? –, und die möchten wir dann vielleicht nicht aushalten.

Heisst das im Umkehrschluss, dass uns Liebe verpflichtet?

Im psychologischen Sinne, ja. Mir wird oft die Frage gestellt, ob wir unseren Eltern etwas schuldig seien. Meine Überzeugung ist, dass wir unseren Eltern im Grunde genommen gar nichts schuldig sind. Wir wurden ja nicht gefragt, als wir in die Familie hineingeboren wurden. Dennoch verpflichtet uns die Liebe, aber nicht im moralisch-ethischen Sinn, sondern im Sinne eines psychischen Bedürfnisses: Ich muss nicht, aber ich möchte etwas zurückgeben. Wenn ich gar nichts muss, bin ich eigentlich noch viel stärker gefordert. Denn dann habe ich die Freiheit und kann mich einbringen. Und wenn ich mich einbringen möchte, tue ich das, weil ich liebe.

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