Islamwissenschaft
«Morgen nach Kairo reisen? Jetzt kann ich das»
Der international renommierte Islamwissenschaftler Reinhard Schulze wird siebzig. Damit geht auch sein Pilotprojekt an der Universität Bern zu Ende. Der öffentlichen Debatte rund um Islam und Naher Osten wird der langjährige Professor aber erhalten bleiben. Eine Würdigung.
Reinhard Schulze ist am Zügeln. Kisten, Schnur und Abfallsäcke stehen in seinem Büro herum. Am 29. Januar 2023 wird der emeritierte Professor für Islamwissenschaft siebzig. Mit dem Erreichen der strukturellen Altersgrenze endet automatisch auch seine Tätigkeit als Leiter des Forums Islam und Naher Osten (FINO). Dieses einmalige Kompetenzzentrum hatte die Universität Bern zu Schulzes Emeritierung als Pilotprojekt eingerichtet, um akademisches Wissen verstärkt in die Öffentlichkeit zu tragen. Was aber trotz dessen Schliessung weitergeht, ist Reinhard Schulzes Auseinandersetzung mit dem Nahen Osten und dem Islam; sei es als Forscher oder als Experte, der Forschungsresultate für die öffentliche Debatte aufbereitet – so wie zuletzt mit dem FINO. «Wie sollte ich das denn aufgeben?», sagt er in einer Mischung aus Erstaunen und Empörung. Einerseits würden sowohl die politischen Ereignisse im Nahen Osten, derzeit etwa im Iran, als auch der Islam in der Schweiz die Öffentlichkeit weiter beschäftigen, und da brauche es entsprechende Expertise. Und andererseits werde er selbstverständlich selber weiter forschen. «Das ist mein Antrieb.»
Reinhard Schulze ist Wissenschaftler durch und durch – seit rund fünfzig Jahren. Von 1995 bis 2018 wirkte der gebürtige Deutsche als Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Er prägte sowohl die akademische als auch die öffentliche Debatte. In den neunziger Jahren hinterfragte er die damals unter Orientalistinnen und Orientalisten vorherrschende Meinung, wonach es in muslimischen Gesellschaften im Gegensatz zu jüdischen oder christlichen keine Aufklärung gegeben habe. Damit löste er die sogenannte «Aufklärungsdebatte» aus. Später setzte sich seine Sicht durch, dass es auch in der muslimischen Welt eine Art Aufklärung gab – und somit auch eine Moderne, die ähnliche Prozesse und Phänomene durchläuft wie etwa in Europa. «Damit trug er wesentlich dazu bei, dass sich die islamwissenschaftliche Forschung von einer eurozentristischen und stereotypen Perspektive lösen konnte», sagt Amir Dziri, Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft an der Universität Freiburg.
Für islamische Theologie an Universitäten
Ausserdem habe Reinhard Schulze grossen Anteil daran, dass die islamische Theologie an Universitäten in Deutschland und der Schweiz eingeführt wurde, weiss Amir Dziri. «Das war eine bemerkenswerte wissenschaftspolitische Entscheidung.» Und das kam so: In Deutschland setzte sich der Wissenschaftsrat ab 2007 mit der Weiterentwicklung des Theologiestudiums auseinander und sprach sich 2010 für die Einrichtung von Studiengängen zu islamischer Theologie aus. Reinhard Schulze beteiligte sich auf Einladung des Wissenschaftsrates an diesen Debatten. «Es wurde klar, dass die Theologien nur dann eine Rechtfertigung haben, wenn sie sich nicht nur auf die christlichen Konfessionen beziehen», sagt Schulze. Auch andere Konfessionen sollten den universitären Rahmen für Diskurse rund um Selbstauslegung und Selbstkritik nutzen können. Mittlerweile gibt es an rund einem Dutzend Universitäten im deutschsprachigen Raum islamisch-theologische Studiengänge – in der Schweiz, in Freiburg. Auch hierzulande wirkte Reinhard Schulze in der vorbereitenden Arbeitsgruppe mit.
Auch die öffentliche Debatte prägt Reinhard Schulze als renommierter Experte seit Jahrzehnten – oft kämpft er dabei gegen Stereotypen und falsche Vorstellungen. Etwa gegen den Irrtum, wonach die islamische Welt und damit auch die Musliminnen in Europa von irgendeiner Art ‹wahrem und ursprünglichem› Islam bestimmt würden. Oder gegen die Idee, so Schulze, «ein Muslim sei ein Koran auf zwei Beinen». Ein aussagekräftiges Sprachbild, wie es typisch ist für die arabische Welt. Auch Islamwissenschaftler Schulze spricht oft in Metaphern. «Wenn man sich fast fünfzig Jahre mit dem Nahen Osten beschäftigt, geht einem die nahöstliche Metaphorik ins Blut über.» In der Orientalistik habe er zudem gelernt, dass man ständig «übersetzen» müsse, etwa von der nahöstlichen Welt in die westliche. Das komme ihm zugute, wenn er das akademische Wissen für die Medien und die Öffentlichkeit «übersetze». In den letzten fünf Jahren widmete er sich mit dem Forum Islam und Naher Osten mehrheitlich dieser Aufgabe.
Ein wegweisendes Kompetenzzentrum
Das FINO fungierte als transdisziplinäres Kompetenzzentrum für Dokumentation, Wissenstransfer und akademische Dienstleistungen im Bereich des Islam und des Nahen Ostens – und war als solches ein einzigartiges universitäres Projekt im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum. Die Universität Bern hatte das Pilotprojekt mit einer Anschubfinanzierung von zwei Jahren ausgestattet und wegen seines Erfolgs dann auf fünf Jahre verlängert. Das FINO beschäftigte sich mit einem wichtigen Auftrag der Universitäten – dem Wissenstransfer in die Öffentlichkeit –, für den aber oft die Ressourcen fehlen. Schulze legte mit seinen Mitarbeitenden eine Dokumentation zu islamwissenschaftlichen Veröffentlichungen an und pflegte ein gut ausgebautes Mediennetzwerk. «Wir überlegten uns gezielt, welche Forschungsresultate wir in die öffentliche Debatte einbringen können», erklärt Schulze. Beispielsweise sei eine Publikation des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer aus Münster unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stark wahrgenommen, das Potenzial für die Medien aber nicht erkannt worden. «Da haben wir ihm gesagt: ‹Schau, mit deiner Forschung können wir aufzeigen, welches öffentliche Fehlurteil über die Scharia existiert.›»
Mit dem siebzigsten Geburtstag von Reinhard Schulze wird das FINO in seiner jetzigen Form geschlossen. Ob Aufgabenbereiche davon an der Universität Bern oder anderswo weitergeführt würden, sei noch offen. Klar ist für Schulze: «Das FINO hat der Universität zurückgespiegelt, dass es sich lohnt, den Transfer von akademischem Know-how in die Medien zu stärken.»
Visionärer Einsatz als Dekan
Reinhard Schulze hat immer über sein Fach hinausgedacht. Heinzpeter Znoj, Direktor des Instituts für Sozialanthropologie an der Universität Bern, sagt es so: «Er hat den Blick und eine Vision für die Universität als Ganzes.» Besonders entscheidend sei sein Engagement als Dekan der Philosophisch-historischen Fakultät von 2003 bis 2007 gewesen, zu der Zeit, als die Bologna-Reform umgesetzt werden musste. Durch die steigenden Anforderungen waren kleine Fächer mit nur einer Professur gefährdet. «Es war Reinhard Schulzes Verdienst, eine starke Vision zu entwickeln und die Universitätsleitung davon zu überzeugen.» So konnte die Fächervielfalt an der Philosophisch-historischen Fakultät nicht nur behalten, sondern sogar gestärkt werden. Auch später hat Znoj den Islamwissenschaftler Schulze als «guten, witzigen, gescheiten, spannenden Kollegen» erlebt. An den gemeinsamen Essen nach den Fakultätssitzungen habe Schulze etwa erzählt, wie Reisende aus dem Orient in der Barockzeit nach Europa kamen und Reiseberichte über Bern schrieben. «Dieser umgekehrte Blick ist ungeheuer interessant.»
Er brachte sich selber Arabisch bei
Reinhard Schulzes Faszination für den Orient hat schon in seiner Jugend angefangen. Über die Sprache sei er dazu gekommen, erzählt er. Zunächst in Deutschland aufgewachsen, hatte er die Grundschule in Frankreich besucht. Als er mit zwölf zurück nach Deutschland kam, musste er wieder Deutsch lernen. Ihm wurde vor Augen geführt, wie wichtig Sprache ist. Die Fremdsprachen in der Schule verstärkten sein Interesse. Zuhause brachte er sich mit Lehrbüchern selbst Arabisch bei, so dass er erste Werke auf Arabisch lesen konnte. »Diese orientalischen Welten waren so viel spannender als die Schule», sagt er und lacht. «Und sie dienten mir als Ersatzwelten für den Hamburger Nieselregen.»
Bis heute ist Reinhard Schulzes Faszination für Bücher, für Wissen, für den Nahen Osten und muslimische Gesellschaften ungebrochen. Er nimmt zwei dicke Bücher aus dem Regal und zeigt darin Abbildungen von ägyptischen Hieroglyphen und anderen filigranen Schriftzeichen. «Das ist die assyrische Keilschrift», erklärt er. «Kann es einem da langweilig werden?», fragt er mit einem wachen und neugierigen Blick. Vorerst ist er ohnehin noch damit beschäftigt, die Auflösung des FINO abzuwickeln. Dann wird er klären, in welcher Form er sich weiter in die gesellschaftliche Debatte einbringen will. Auch ein neues Buch ist angedacht. Und dann ist da noch seine Geige, die in ihrem Kasten an einem Kleiderhaken an der Wand hängt. «Sie hängt da als ständige Ermahnung, sie endlich wieder hervorzunehmen», sagt Schulze und lacht. «Ich freue mich auf die grössere Freiheit, weil die institutionellen Verpflichtungen nun abnehmen», ergänzt er. «Wenn ich morgen nach Kairo reisen möchte, so ist das jetzt dann möglich.»
Reinhard Schulzes universitäre Karriere
- Studium der Islamwissenschaft, Semitistik, Linguistik und Romanistik in Bonn
- 1976 Diplom, 1981 Promotion, 1987 Habilitation
- 1987-1992 Professor für Orientalische Philologie, Ruhr-Universität Bochum
- 1992-1995 Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, Universität Bamberg
- 1995-2018 Ordentlicher Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie, Universität Bern
- 1995-2018 Direktor, Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie, Universität Bern
- 1998-2001 Planungschef der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern
- 2001-03 Vizedekan, 2003-2007 Dekan der Philosophisch-historischen Fakultät, Universität Bern
- 2018 bis 31.1.2023 Direktor, Forum Islam und Naher Osten, Universität Bern
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