Medizin
Traumata könnten langfristig vererbt werden
Äussere Einflüsse wie Ernährung oder Stress beeinflussen unseren Körper stärker als bisher gedacht: Forschende der Universität Bern weisen nach, dass über lange Zeiträume selbst die Gene dadurch verändert werden könnten.
Im letzten Winter des Zweiten Weltkrieges kam es in den Niederlanden zu einer Hungersnot. Kinder, die in dieser Zeit geboren wurden, waren häufig untergewichtig und litten Studien zufolge später im Leben deutlich häufiger an Diabetes, Übergewicht und Herz- und Kreislauferkrankungen.
Auch ihre Nachkommen waren bei Geburt oft kleiner als andere Babys – obwohl ihre Mütter während der Schwangerschaft nicht an Nahrungsmangel litten. Die erlebte Hungersnot hatte also generationenübergreifende Auswirkungen. Dasselbe trifft auch auf andere Traumata zu: Vergewaltigungen, Unfälle oder Kriegseinsätze. Sie alle können auch bei späteren Generationen bleibende Spuren hinterlassen.
Zusätzlich zur Genetik
Dabei kommt die sogenannte Epigenetik ins Spiel. Der Begriff Epigenetik kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt «zusätzlich zur Genetik». Epigenetik gilt als das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen. Umweltbedingungen wie Ernährung oder Stress bewirken, dass gewisse Moleküle an Gene angehängt oder entfernt werden. Dadurch bestimmen diese sogenannten epigenetischen Markierungen mit, welche Gene aktiv sind und welche nicht.
Doch welche Rolle spielt die Epigenetik bei langfristigen Veränderungen; also in der Evolution?
Erst epigenetische, dann genetische Veränderungen
Mit dieser Frage beschäftigt sich Irene Adrian-Kalchhauser, Direktorin des Instituts für Fisch- und Wildtiermedizin (FIWI) der Universität Bern. Zu diesem Zweck führt sie gemeinsam mit ihrem Team Versuche an Fischen durch. «Fische sind einerseits Wirbeltiere und damit Menschen relativ ähnlich. Dadurch sind auf ihnen basierende Studienergebnisse auch für Menschen entsprechend relevant. Andererseits legen Fische Eier und kümmern sich oft kaum um ihre Jungtiere. Daher fallen zusätzliche Einflüsse der Eltern weg – etwa durch Plazenta, Milch und Brutpflege –, was die Studienergebnisse aussagekräftiger werden lässt», erklärt Adrian-Kalchhauser.
Um zu verstehen, ob epigenetische Informationen auch langfristig weitervererbt werden können, untersuchte das Forschungsteam in einer Studie den Zusammenhang zwischen der genetischen Vielfalt und einer bestimmten epigenetischen Markierung – der sogenannten DNA-Methylierung – bei freilebenden Fischpopulationen. «Dabei fanden wir heraus, dass es bei den beobachteten Stichlingen zuerst epigenetische Anpassungen an Umwelteinflüsse gibt und dass danach an der gleichen Stelle in der DNA genetische Anpassungen stattfinden», so Adrian-Kalchhauser.
Umweltbedingte Veränderungen, die während der Lebenszeit eines Organismus geschehen, können also an nächste Generationen weitervererbt werden – und zwar nicht nur epigenetisch, sondern auch genetisch. Das heisst: Epigenetische Veränderungen können in der Folge auch die Gene selbst verändern und so bleibende Anpassungen erwirken.
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Ein Fenster in die genetische Zukunft
Die Studienergebnisse, die in der Fachzeitschrift Molecular Biology and Evolution veröffentlicht wurden, legen ausserdem nahe: Untersucht man die Stellen im Erbgut, wo umweltsensitive DNA-Methylierungsmarker vorkommen, könnte man vorhersagen, an welcher Stelle sich die DNA langfristig verändert – vorausgesetzt, dass die Umweltbedingungen gleichbleiben.
Diese Erkenntnis könnte laut den Forschenden unter anderem helfen, zukünftige genetische Veränderungen bei Arten vorherzusagen, die beispielsweise von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind. «Diese epigenetischen Veränderungen sind also wie kleine Fenster in die Zukunft der genetischen Evolution der beobachteten Population», sagt James Ord, Forscher am FIWI und Hauptverantwortlicher der Studie.
Die Ergebnisse der Studie von Adrian-Kalchhauser und ihrem Team basieren zwar auf Fischen. Doch ihre Ergebnisse sind auch für Menschen relevant: «Was für Stichlinge gilt, gilt am Ende auch für uns: Wir reagieren mit bestimmten epigenetischen Veränderungen auf Umweltsignale und geben diese Veränderungen weiter», erklärt Adrian-Kalchhauser.
Erlebte Traumata könnten sich also nicht nur auf die nächste oder übernächste Generation auswirken, sondern könnten zu permanenten Bestandteilen der DNA werden.
Angaben zur Publikation
High nucleotide diversity accompanies differential DNA methylation in naturally diverging populations, James Ord, Toni I. Gossmann & Irene Adrian-Kalchhauser, Molecular Biology and Evolution, 2023
Über das Institut für Fisch- und Wildtiergesundheit
Das FIWI arbeitet zu infektiösen und nicht-infektiösen Krankheiten von Fischen und Wildtieren im Spannungsfeld von Veterinärmedizin, Epidemiologie, Ökologie und Evolutionsbiologie. Dabei verfolgt es konsequent einen One-Health-Ansatz und vernetzen Wissen aus verschiedenen Disziplinen und Gesellschaftsgruppen. Ein weiterer Fokus ist die Diagnostik und die Verbesserung und Weiterentwicklung von Methoden zur raschen Erregerdetektion. Das übergeordnete Ziel ist es, die nächste Generation von Wildtierexperten in der Schweiz und international auszubilden.