Warum digitale Beziehungen rasch an Grenzen stossen

Musste man seine Liebsten früher noch zur vereinbarten Zeit am besagten Ort treffen, lassen sich soziale Kontakte heute mühelos online pflegen. Doch ohne Verankerung im realen Leben gelingen Freundschaften kaum.

Freundschaften und Liebesbeziehungen werden längst nicht nur in der physischen, sondern auch in der digitalen Welt gelebt. © Universität Bern / Bild: Dres Hubacher
Freundschaften und Liebesbeziehungen werden längst nicht nur in der physischen, sondern auch in der digitalen Welt gelebt. © Universität Bern / Bild: Dres Hubacher

Wann sind Sie zuletzt zu einer Verabredung erschienen, ohne sich zuvor per Textnachricht nochmals rückzuversichern? Genauso normal ist es, sich ständig mit Bekannten oder Geliebten auszutauschen, die sich in einer anderen Stadt, vielleicht sogar in einem anderen Land befinden. Freundschaften und Liebesbeziehungen werden längst nicht nur in der physischen, sondern auch in der digitalen Welt gelebt.

Die Möglichkeiten dazu haben sich in den vergangenen Jahren vervielfältigt und verändern sich laufend: «Neben dem klassischen Telefonieren stehen alle Arten der Interaktion über das Internet zur Verfügung; man kann Textnachrichten und Bilder anschauen und austauschen, Videos und Musik hochladen oder streamen und Beiträge anderer Personen kommentieren und bewerten», so Professorin Stefanie Schmidt, die am Institut für Psychologie unter anderem zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen forscht. Besonders die Anonymität und die Flexibilität würden online geschätzt, ebenso wie die Möglichkeit, Gruppen mit gleichen Interessen und Einstellungen beizutreten.

Onlinebeziehungen zu Unbekannten sind Ausnahmen

Die Optionen, anonym zu bleiben und mit bisher völlig unbekannten Personen zu kommunizieren, sind dabei kulturelle Neuerungen. Dass von ihnen auch Gebrauch gemacht wird, legen Daten aus einer Studie von Postdoktorandin Christina Heemskerk nahe. In einer Umfrage bei rund 400 Schülerinnen und Schülern aus der sechsten bis neunten Klasse gab fast die Hälfte an, dass sie online Kontakt mit fremden Personen hatte. 15 Prozent gaben gar an, Personen, die sie im Internet kennengelernt hatten, physisch getroffen zu haben. «Das ist durchaus bemerkenswert», sagt Heemskerk, die ebenfalls am Institut für Psychologie forscht.

Unklar ist, ob die angegebenen Kontakte bloss flüchtiger Natur sind oder länger anhalten. Auch, ob es sich bei den physisch getroffenen Onlinebekanntschaften um Gleichaltrige oder um Erwachsene handelt, geht aus der Studie nicht hervor. Und Stefanie Schmidt hält fest: «Die allermeisten substanziellen digitalen Interaktionen finden zwischen Personen statt, die sich bereits aus dem echten Leben kennen.»

«Die allermeisten substanziellen digitalen Interaktionen finden zwischen Personen statt, die sich bereits aus dem echten Leben kennen.»

Eine Begründung dafür ist, dass die digitale Kommunikation mit abnehmender Vertrautheit der Gesprächspartnerinnen schwieriger wird: «Onlineunterhaltungen sind viel minimalistischer als reale Kommunikation – man muss Dinge abkürzen und erhält nur fragmentarische Informationen», erklärt die Professorin, «gerade wenn auch die Mimik und die Gestik der Gesprächspartner nicht ersichtlich sind, versteht man sich rasch falsch.» Ist man mit einer Person bereits aus dem echten Leben vertraut, werden im digitalen Raum weniger Erklärungen benötigt: «Verstehe ich beispielsweise den Humor des Gegenübers im Voraus, muss ich weniger Interpretationsarbeit leisten und kann freier kommunizieren», so Schmidt.

Dass es auch beim Gesprächsinhalt Unterschiede gibt, zeigt Christina Heemskerks Umfrage: Die Jugendlichen gaben vermehrt an, reale Kontakte zu bevorzugen, wenn sie etwas beschäftigt. Geht es also um ernstere Angelegenheiten, wird der Onlinewelt die körperlich-reale Schulter vorgezogen, um sich auszuweinen. Der rein digitale Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen steht damit vor grundlegenden kommunikativen Hürden.

Die technologische Entwicklung könnte hier Abhilfe schaffen. Schliesslich lassen sich durch Videochats, Livestreams oder Verabredungen in der virtuellen Realität echte Gesprächssituationen immer realitätsgetreuer nachbilden. Und auch fremde Personen treffen wir längst nicht mehr nur in angestaubten Chatrooms, sondern von Angesicht zu Angesicht: Dienste wie Omegle ermöglichen zufällige Videocalls mit Menschen aus aller Welt. In den sozialen Medien sehen wir täglich neue Gesichter und hören neue Stimmen.

Unvermittelte Begegnungen bleiben zentral

Doch: «Selbst wenn soziale Beziehungen im digitalen Raum entstehen, sind für ihr Fortdauern und ihre Vertiefung im Verlauf meist auch analoge Treffen nötig», sagt die Psychologieprofessorin. Grund dafür sei das menschliche Bedürfnis, ein möglichst vollständiges Bild einer Person zu erhalten, mit der man sich sozial einlässt: «Es braucht etwa den unvermittelten Gesichtsausdruck oder die Gelegenheit, das Gegenüber in den Arm zu nehmen, um Eindrücke zusammenführen und die Beziehung vertiefen zu können.»

«Onlineunterhaltungen sind viel minimalistischer als reale Kommunikation – man muss Dinge abkürzen und erhält nur fragmentarische Informationen.»

Die digitalen Medien bieten jedoch nur bedingt Nährboden für die Entstehung neuer Beziehungen. Dazu passen laut Schmidt die Studienergebnisse, dass Menschen, die im echten Leben Mühe mit zwischenmenschlichen Beziehungen haben, sich häufig auch online eher schwertun. Dies spricht gegen die verbreitete Vorstellung, dass Menschen, denen es an realen Freundschaften mangelt, diese vollständig online kompensieren können.

Digitaler Raum als Testfeld für unsichere Menschen

Personen mit vergleichsweise geringen sozialen Kompetenzen profitierten jedoch auf anderem Weg vom digitalen Raum. Dieser könne nämlich als ein Testfeld für den Erwerb zwischenmenschlicher Fertigkeiten dienen. «Gerade schüchterne Jugendliche haben oft Schwierigkeiten, sich zu offenbaren und authentisch zu sein», erläutert Schmidt, «sie können die Anonymität des Internets als Chance nutzen, um etwas preiszugeben, mehr Selbstvertrauen zu bekommen und sich danach auch im echten Leben mehr zu trauen.» Die Unverbindlichkeit der Onlinekommunikation erlaubt es also, soziale Interaktionen zu üben und die erlernten Soft Skills in der echten Welt umzusetzen.

Auch für Menschen, die einer Minderheit angehören und weniger gut am sozialen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können, stellen digitale Medien eine grosse Bereicherung dar. Sie erhalten online die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, sich mit Gleichgesinnten oder anderen Minderheiten zu vernetzen und Gemeinschaften aufzubauen, die auch im realen Leben wirksam sind.

Schliesslich können Personen, die aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung oder wegen ihres Alters häuslich gebunden sind, dank den digitalen Medien sozialen Ereignissen auch dann beiwohnen, wenn sie physisch nicht teilnehmen könnten. Auch über grosse Distanzen hinweg können sie heutzutage in unmittelbaren Kontakt mit ihren Angehörigen treten. Reale Beziehungen werden dann nicht durch Onlinebeziehungen kompensiert, sondern in die digitale Sphäre verlagert.

Wer nicht online ist, fühlt sich schnell ausgeschlossen

Die Digitalisierung sozialer Interaktionen hat aber ihre Kehrseite: Digitale Analphabeten – also Menschen, die technisch oder intellektuell nicht fähig sind, digitale Medien zu nutzen oder dies etwa aus Datenschutzbedenken nicht wollen – drohen den Anschluss zu verlieren.

«Es gibt Studien, die den Trend zeigen, dass reale Interaktionen im Durchschnitt abnehmen, die Onlineinteraktion aber zunimmt», erläutert Stefanie Schmidt. Zwar sei nicht geklärt, ob zwischen diesen Tendenzen ein kausaler Zusammenhang bestehe. «Aber wenn es so wäre, dass ein Teil der realen Kommunikation in den Onlinebereich verlagert wird, dann könnte das dazu führen, dass Menschen nicht mehr auf dem Laufenden sind, sich zunehmend ausgeschlossen fühlen und soziale Kontakte verlieren.»

«Bei jüngeren Leuten ist es die Norm und die Erwartung, dass man vernetzt ist.»

Gerade ältere Menschen, denen digitale Medien eigentlich eine Chance zur Aufrechterhaltung ihrer Beziehungen bieten würden, sind oft digitale Analphabeten. Und besonders bei jungen Menschen ist der Druck hoch, alle angesagten Medien aktiv zu nutzen. Tun sie dies nicht, stehen sie aussen vor, wenn soziale Aktivitäten online geplant, Urlaubsbilder gepostet oder Memes in Gruppenchats geteilt werden. «Bei jüngeren Leuten ist es die Norm und die Erwartung, dass man vernetzt ist», sagt Stefanie Schmidt. Auch die Daten von Christina Heemskerk bestätigen das: Zwischen der sechsten und der neunten Klasse nimmt die Zahl der Jugendlichen, die angeben, sich regelmässig online mit Freunden zu treffen, rasant zu.

Für die Forschung ist deshalb klar: Die digitale Medienkompetenz muss früh gefördert werden, um soziale Ausgrenzung zu verhindern und um diversen Gefahren der Mediennutzung vorzubeugen. Denn für zukünftige Generationen, die als Digital Natives aufwachsen, wird es selbstverständlich sein, dass Liebe und Freundschaft immer auch eine digitale Komponente haben.

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