Wiederaufbau der Ukraine mit russischem Geld?

Können die eingefrorenen russischen Vermögenswerte zum Wiederaufbau der Ukraine dienen? Einige plädieren in der aktuellen Debatte dafür – doch rechtlich ist der Weg dahin alles andere als geradlinig.

Text: Iryna Bogdanova 27. November 2023

Ein im russischen Krieg gegen die Ukraine zerstörter Gebäudekomplex. © pexels / Bild: алесь_усцінаў
Ein im russischen Krieg gegen die Ukraine zerstörter Gebäudekomplex. © pexels / Bild: алесь_усцінаў

411 Milliarden Dollar: Auf diese astronomische Summe schätzen die ukrainische Regierung, die Weltbankgruppe, die Europäische Kommission und die Vereinten Nationen in einem gemeinsamen Bericht die Kosten für den Wiederaufbau in der Ukraine. Eine verblüffende Zahl, aber entscheidend, um das Ausmass der Herausforderung zu verstehen.

Eingefrorene russische Reichtümer

In den ersten Tagen des Krieges wurde schnell reagiert: Etwa die Hälfte des Vermögens der russischen Zentralbank in Höhe von rund 300 Milliarden Dollar wurde eingefroren. Darüber hinaus wurden auch die Vermögenswerte von Privatpersonen, den so genannten Oligarchen, eingefroren, die sich auf insgesamt 58 Milliarden Dollar beliefen. Dieses kollektive Einfrieren von Vermögenswerten war eine rasche und substanzielle internationale Reaktion, um die finanziellen Möglichkeiten Russlands nach dem Einmarsch in die Ukraine einzuschränken. Den Kriegsschäden steht also ein beträchtliches Vermögen gegenüber.

Rechtlich komplexe Fragen

Diese Vermögen zugunsten des Wiederaufbaus zu beschlagnahmen, ist jedoch mit erheblichen rechtlichen Problemen verbunden – insbesondere beim Vermögen der russischen Zentralbank. Denn hier gilt der Grundsatz der Staatenimmunität, eine Regel im internationalen Recht, die besagt, dass ein Land nicht ohne Erlaubnis von einem anderen Land verklagt oder um seine Vermögenswerte gebracht werden kann. Dieser Mechanismus soll verhindern, dass Staaten vor den Gerichten anderer Länder mit rechtlichen Problemen konfrontiert werden. Heute debattieren Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler, ob angesichts des russischen Vorgehens Ausnahmen gemacht werden sollten.

5000 russische Rubel (Bildausschnitt aus einer Banknote). © wikicommons
5000 russische Rubel (Bildausschnitt aus einer Banknote). © wikicommons

Ebenfalls im Fokus ist das Privatvermögen der sanktionierten russischen Oligarchen. Doch auch dieses ist aufgrund rechtlicher Komplexität und internationaler Abkommen zum Schutz von Eigentumsrechten schwierig zu beschlagnahmen. Bei der Beschlagnahme von Privatvermögen, selbst im Zusammenhang mit Sanktionen, müssen die Grundsätze eines ordnungsgemässen Verfahrens, der Menschenrechte und des Völkerrechts beachtet werden. Die Rechtssysteme der verschiedenen Länder verlangen oft umfangreiche Beweise und rechtliche Begründungen für die Beschlagnahme von Vermögenswerten, und diese Verfahren können rechtlich angefochten werden.

Darüber hinaus können internationale Investitionsabkommen und das Völkergewohnheitsrecht Schutz vor willkürlicher Enteignung gewähren, so dass bei jedem Versuch, das Eigentum russischer Oligarchen zu beschlagnahmen, eine sorgfältige Prüfung und die Einhaltung rechtlicher Standards erforderlich sind.

UN-Aufruf zur Rechenschaftspflicht und Strategien der einzelnen Staaten

Die Vereinten Nationen erkannten in einem resoluten Beschluss vom November 2022 die Verantwortlichkeit Russlands an und schlugen vor, ein internationales Schadensregister zu schaffen – ein engagierter Versuch der Weltgemeinschaft, den Aggressor zur Verantwortung zu ziehen.

«Die eingezogenen Vermögenswerte dienen einem edlen Zweck»

Iryna Bogdanova

In der Folge hat der Europarat im Mai 2023 ein Register eingerichtet, in dem die von Russland verursachten Schäden innerhalb der ukrainischen Grenzen dokumentiert werden.

Kanada geht voran

Zudem ergreifen einzelne Länder auf nationaler Ebene Massnahmen, um eingefrorene Vermögenswerte im Namen der Gerechtigkeit einzusetzen. So hat im Sommer 2022 Kanada mit einem bahnbrechenden Gesetz, das die traditionellen rechtlichen Grenzen überschreitet, einen Präzedenzfall geschaffen. Dieses Gesetz ermächtigt zur Einziehung von Vermögenswerten, unabhängig davon, woher sie stammen, ob sie legal oder unrechtmässig erworben wurden.

Die eingezogenen Vermögenswerte dienen einem edlen Zweck – dem Wiederaufbau eines ausländischen Staates, der durch eine schwere Verletzung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit verwüstet wurde. Darüber hinaus können diese Vermögenswerte zur Wiederherstellung des Weltfriedens und zur Entschädigung der Opfer eklatanter Friedensbrüche, schwerer Menschenrechtsverletzungen oder erheblicher Korruption beitragen.

Im Dezember 2022 unternahm Kanada einen ersten Schritt zur Durchsetzung dieser Rechtsvorschriften, indem es das Verfahren zur Beschlagnahme und Einziehung von Vermögenswerten der Granite Capital Holdings Ltd. einleitete, einem Unternehmen, das einem sanktionierten russischen Oligarchen gehört. Als Zeichen ihrer Entschlossenheit zum Handeln ordnete die kanadische Regierung ausserdem die Beschlagnahmung eines in Russland registrierten Frachtflugzeugs an, das vermutlich einer Tochtergesellschaft von zwei sanktionierten russischen Unternehmen gehört.

Das kanadische Parlament berät seit Oktober 2023 aktiv über den Gesetzentwurf S-278. Im Falle seiner Verabschiedung würde dieses Gesetz die Beschlagnahme von Vermögenswerten der russischen Zentralbank ohne gerichtliche Aufsicht ermöglichen. Die dynamischen gesetzgeberischen Schritte Kanadas unterstreichen das entschlossene Bestreben, eingefrorene Vermögenswerte als Mittel zum Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen.

Die Vereinigten Staaten werden ebenfalls aktiv

Auch die Vereinigten Staaten haben Schritte unternommen, um eingefrorene Vermögenswerte beschlagnahmen zu können. Im Mai 2023 kündigten die USA die Übergabe konfiszierter Vermögenswerte eines russischen Oligarchen an, der beschuldigt wird, gegen die US-Sanktionen verstossen zu haben. Generalstaatsanwalt Merrick Garland betonte, dass es sich bei diesem Transfer nicht um ein einmaliges Ereignis handelt, sondern um den Beginn einer Reihe von Massnahmen.

Darüber hinaus erwägen die Vereinigten Staaten einen bedeutenden gesetzgeberischen Schritt – die Einführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des wirtschaftlichen Wohlstands und der Chancen für die Ukrainer (Rebuilding Economic Prosperity and Opportunity for Ukrainians Act). Sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, würde es die Konfiszierung russischer Staatsgelder und deren anschliessende Übertragung an die Ukraine ermöglichen.

Auch UK und EU ergreifen Massnahmen

Vor der Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine im Jahr 2023 kündigte die britische Regierung ein neues Gesetz an, mit dem sie ihre juristischen Muskeln spielen lässt. Dieses Gesetz ermächtigt das Vereinigte Königreich, die Sanktionen aufrechtzuerhalten, bis eine Entschädigung an die Ukraine gezahlt wird. Es enthält auch eine einzigartige Bestimmung, die es sanktionierten Personen ermöglicht, ihr eingefrorenes Vermögen freiwillig für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen.

In der Europäischen Union haben sich zwei parallele Initiativen entwickelt. Die Europäische Union steht an der Spitze einer Initiative zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten derjenigen, die gegen ihre Sanktionen verstossen haben. Dieses Vorhaben unterstreicht das unerschütterliche Engagement der EU für die Aufrechterhaltung der Unantastbarkeit ihres Sanktionsrahmens und die Gewährleistung der Rechenschaftspflicht für diejenigen, die sich über ihre Vorschriften hinwegsetzen. Die zweite Initiative sah ursprünglich vor, die Vermögenswerte der russischen Zentralbank zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine zu nutzen. Diese Strategie entwickelte sich zu der Idee, die erzielten Einnahmen zu besteuern und direkt in die Ukraine zu leiten.

Iryna Bogdanova ist Postdoc am World Trade Institute WTI der Universität Bern. © zvg
Iryna Bogdanova ist Postdoc am World Trade Institute WTI der Universität Bern. © zvg

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ganze Diskussion über die Verwendung eingefrorener russischer Gelder für den Wiederaufbau der Ukraine wie ein grosses Puzzle aus Gesetzen, globaler Politik und Bemühungen um Gerechtigkeit ist. Es ist kein leichter Weg! Aber von den grossen Entscheidungen der Vereinten Nationen bis hin zu den mutigen Schritten Kanadas versuchen die verschiedenen Staaten den besten Weg zu finden, um der Ukraine wieder auf die Beine zu helfen. Die eingefrorenen Vermögenswerte stehen nun im Rampenlicht und könnten prägen, wie die Welt künftig auf schwierige Situationen dieser Art reagiert. Die grosse Frage aber bleibt vorerst: Lassen sich diese Gelder in einen Neuanfang für die Ukraine verwandeln? Die Zeit wird es zeigen, aber die Weltgemeinschaft ist auf jeden Fall dabei herauszufinden, ob und wie man das schaffen kann.

Über das World Trade Institute WTI

Das World Trade Institute (WTI) der Universität Bern ist eine führende akademische Einrichtung, die sich mit Stu¬dien-, Forschungs- und Öffentlichkeitsarbeit auf internationaler Ebene zu internationalen Han¬delsregulierungen und -investitionen befasst. Als Kompetenzzentrum an der Universität Bern untersuchen wir die Zusammenhänge zwischen den Bereichen Recht, Wirtschaft und Politik¬wissenschaft.

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