Berner Reisende suchten ihr Heil in Afrika – mit fatalen Folgen

Tevodai Mambai untersucht in seiner Doktorarbeit, wie und warum bekannte Berner Reisende wie René Gardi oder Charlotte von Graffenried ein abwertendes und zugleich idealisierendes Bild von seinem Volk gezeichnet haben – und findet lange vermisste sakrale Objekte der Mafa in Schweizer Museen.

Text: Tevodai Mambai 29. Oktober 2024

Sem-dzai, ein Treffpunkt in Mokolo, der Geburtsstadt des Autors dieses Beitrags im Norden Kameruns mit rund 40‘000 Einwohnerinnen und Einwohnern. / Foto: Tevodai Mambai, 2024

Ich bin im Jahr 1981 in Mokolo geboren, als Angehöriger der Mafa, die in den Bergen von Nordkamerun und Nordostnigeria ansässig sind. Ich gehöre zur grösseren Gruppe der Vavi, der Bäuerinnen und Bauern. Unter ihnen wird der Biy, der Stammeschef, gewählt. Die kleinere Gruppe meines Volkes sind die Gwalda, deren Männer Erz zu Eisen verarbeiten und deren Frauen Töpferinnen, Heilerinnen und Hebammen sind.

«Barbarisch und wild», «natürlich und bescheiden»

Was ich hier schreibe, dürfte einigen Leserinnen und Lesern bekannt vorkommen: Während sechs Jahrzehnten, etwa zwischen 1940 und 2000, bereisten rund zwanzig Schweizerinnen und Schweizer unterschiedlicher Herkunft und Berufe – Missionarinnen, Filmemacher, Schriftstellerinnen und Ethnographen – das Mafa-Land und vermittelten dem deutschsprachigen Publikum ein einprägsames Bild meiner Ethnie. In ihren Reisetexten, Filmen, Missionsberichten und ethnographischen Schriften zeichneten sie ein kontroverses Bild der Mafa – mal barbarisch und wild, mal heil, natürlich und bescheiden. Ihre Berichte aus dem «unbekannten» Afrika stiessen beim Schweizer Publikum auf grosses Interesse.

Bauernhof der Mafa, die das Bergland von Nordkamerun und Nordostnigeria besiedeln. / Foto: Kaldadak Warda, 2020

Meine Vorfahren teilten ihren Alltag bereitwillig mit den Reisenden aus der Schweiz, sie halfen ihnen, sich zurechtzufinden, sie beantworteten ihre Fragen. Das Bild, das diese Schweizerinnen und Schweizer aus diesen Begegnungen konstruierten und verbreiteten, war ihnen jedoch unbekannt.

Entdeckung auf dem Marktplatz

Ich selber kam 1994 auf dem Marktplatz von Mokolo erstmals mit dem Bild in Berührung, das in der Schweiz über uns verbreitet wurde und wird. Ich war damals 13 Jahre alt und ging noch in die Grundschule, als mich in der Buchhandlung meines Bekannten Pierre Ndoumai das Foto auf einem Buchdeckel neugierig machte: ein hübsches Mädchen, offensichtlich aus meiner Gegend, mit einem Korb auf dem Kopf. Auf den Inhalt konnte ich jedoch nicht zugreifen, denn das Buch mit dem Titel Mandara war für mich zu teuer und auf Deutsch verfasst.

Das Cover von René Gardis Buch über das Volk des Autors, der es als 13-Jähriger in der Buchhandlung eines Bekannten entdeckte.

Germanistik studieren, um den Blick umzukehren

Im Jahr 2003, zu Beginn meines Philosophiestudiums, sah ich das Buch im Centre Culturelle Français in Yaoundé, der Hauptstadt Kameruns, wieder. Dank Alfred Tanadi, meinem Kommilitonen und Enkel von Daniel Kiligai, der den Schweizer Reisenden jahrzehntelang als Dolmetscher und Assistent gedient hatte, konnte ich den zum Buch gehörenden Film Mandara aus dem Jahr 1959 anschauen. Er löste sehr ambivalente Gefühle in mir aus. Ich traf die Entscheidung, das Studium der Philosophie 2005 mit jenem der deutschen Philologie zu ersetzen, um mehr über den Reiseschriftsteller René Gardi, den Autor von Mandara, und andere Schweizer Reisende erfahren zu können.

Es ist eine Tatsache, dass wir Mafa uns unserer Kultur beraubt fühlen: Kolonialisierung, Christianisierung, Schulunterricht in der Sprache der ehemaligen Kolonialherren über ihre Geschichte und Kultur hinterlassen tiefe Spuren. Vor diesem Hintergrund wurde ich Mitgründer des Kulturvereins Ditsuma, dessen Motto «in deh a ma, a nga ngide diy-tsum nga» lautet: die Tradition wertschätzen und den Fortschritt suchen. Dafür sind wir jüngere Mafa auf ältere Menschen unseres Volks angewiesen, um Informationen über bestimmte Aspekte unserer Kultur zu erhalten.

Bei einem dieser Gespräche liess mich 2010 die Aussage meines Bekannten Douva aufhorchen: «A diy Mossieur Duc, nassara hiy ta shike te virziy gay, a ta tsokol skwiy diy tsum nga kumba. Aman skwiy dzham, a skwiy baba a je teva’a. Mejeb ta in lbaa a vena.» Auf Deutsch: In der Zeit von Duc (einem französischer Kolonialoffizier, der in den 1950er Jahren als Chef de Subdivision in Mokolo regierte) haben die Weissen unsere kulturellen Gegenstände mitgenommen. Darunter waren auch rituelle und sakrale Gegenstände. Die Seelen der Vorfahren sind damit verbunden. Diese Aussage hat mich natürlich irritiert, aber gleichzeitig inspiriert, nach den Spuren dieser Objekte in der Schweiz zu suchen.

Links: Vray, Seelenkrug: In ihm lebt die Seele der verstorbenen Eltern weiter. Rechts: Ged pats («Kopf-Sonne») symbolisiert einen persönlichen Geist, der für das persönliche Wohlergehen zuständig ist. Bilder: MKB Fotoarchiv, 2023, links Objekt III 25834, rechts III 12512, Paul Hinderling 1953

900 Objekte in Schweizer Museen gefunden

2015 gab es einen ersten Mailkontakt mit dem Museum der Kulturen Basel (MKB), ein Jahr später konnte ich in die Schweiz reisen. Bis zu diesem Punkt waren mir nur das Schweizer rote Taschenmesser und Nestlé-Milch aus der kleinen Dose vertraut. Meinen Flug haben ich und unser Kulturverein bezahlt. Mein damaliger und derzeitiger Aufenthalt in der Schweiz bot und bietet mir die Gelegenheit, zu erfahren, dass es im Museum der Kulturen Basel, im Bernischen Historischen Museum und im Schlossmuseum Burgdorf etwa 900 Mafa-Objekte gibt: Waffen, Musikinstrumente, Möbel, Gefässe, rituelle und sakrale Objekte. Die wichtigsten Sammler waren der Ethnologe Paul Hinderling und René Gardi.

Inzwischen bin ich mit der Aufarbeitung dieser Sammlung von Mafa-Kulturgut im MKB betraut worden. Im Rahmen dieser Aufarbeitung bin ich auf zwei der Objekte gestossen, von denen mir mein Bekannter erzählt hatte: die vri («Seelenkrüge») und ged pats («Kopf-Sonne», ein persönlicher Geist), die als rituelle Objekte gelten. Bernhard Gardi, der Sohn von René Gardi, gibt an, sein Vater habe diese vri bei einer Töpferin namens Waidam in Mokolo bestellt. Der ged pats aber trägt noch Spuren von Blut. Es handelt sich um kulturell sensible Gegenstände, die niemand freiwillig weggibt. Denn wer sie weggibt oder verkauft, würde befürchten, der Rache der Geister und Ahnen zum Opfer zu fallen.

Paul Hinderling traf ich 2016 in Saarbrücken gemeinsam mit Isabella Bozsa, der damaligen Kuratorin ad interim für die Afrika-Abteilung am MKB, um mich über die Erwerbumstände dieser Objekte zu erkundigen. Ich konnte aber wegen seines Alters – er war 92 – keine befriedigende Rückmeldung erhalten.

Tevodai Mambai zu Besuch bei Paul Hinderling im Jahr 2016. / Foto: Isabella Bozsa

Vertrauen missbraucht

Als Mafa erkenne ich heute, dass einige Schweizer Reisende das Vertrauen und die freundliche Offenheit der Mafa missbraucht haben, zumal sie in den Diensten einer rassistischen und kolonialen Ideologie und Selbstdarstellung standen.

Pioniere waren das Berner Missionarsehepaar Gertrud und Hans Eichenberger, die ich als Jugendlicher kennengelernt hatte. Sie liessen sich 1948 in Souledé unweit von Mokolo nieder und bauten ihre Mission auf. Sie waren Mitglieder des Schweizer Zweiges der Vereinigten Sudan Mission. Sie kamen mit der angeblichen Motivation, die Mafa zu «erlösen» und ihnen Heil zu bringen. Gertrud arbeitete in einer kleinen Gesundheitsstation, während Hans ein Prediger und Lehrer war. Gertrud und Hans bildeten dann wichtige Kontaktpersonen für andere Schweizer Reisende. 1949 kam das Berner Ehepaar Mirjam und Gottfried Wildermuth-Holzer hinzu. Sie verbrachten ihre Aufenthalte im Dorf Souledé. 1953 besuchte der Berner Reisende und Schriftsteller René Gardi unsere Eltern. Begleiter von Gardi war der gebürtige Solothurner Paul Hinderling. Ihre dreimonatige ethnographische Forschung fokussierte sich vor allem auf die Eisengewinnung und Töpferei der Mafa.

René Gardi beim Filmen im Mafa-Land. Der Berner hatte auch die Eltern des Autors besucht. Bild: Still aus dem Film African Mirror

Der Kontakt mit Hinderling ermöglichte mir 2016, auch von Charlotte von Graffenried zu erfahren. Sie verbrachte im Rahmen ihrer Feldforschung während der 1970er und 1980er Jahre insgesamt 15 Monate unter den Bäuerinnen und Bauern in unseren Bergen. Ich kannte sie nicht persönlich. 2022 traf ich in Bern ihren Sohn, den Fotografen Michael von Graffenried, der auch mehrmals bei uns zu Besuch war.

Motive der Berner: Eheprobleme, Diskriminierung, Verurteilung wegen Pädophilie

Ich kann hier nicht alle Schweizer oder Berner Reisenden auflisten, aber wenn ich ihre Biografien und Reiseschriften genauer betrachte, stelle ich fest, dass ihre Reisemotivation sich nicht von der unterscheidet, die junge Afrikanerinnen und Afrikaner heute nach Europa führt: Die Gründe sind nicht nur Neugierde und Entdeckungsdrang, sondern oft auch Unzufriedenheit mit dem Alltag, familiäre und soziale Spannungen und Diskriminierung.

So durften die Missionarsleute, Eichenbergers und Wildermuth-Holzers, in ihrer Heimat wegen ihrer angeblich geringen intellektuellen Fähigkeiten kein Gymnasium besuchen. Charlotte von Graffenried erlebte, nachdem sie drei Kinder zur Welt gebracht hatte, Eheprobleme. Wie der Dokumentarfilm African Mirror von Mischa Hedinger 2019 aufdeckte, wurde Gardi 1945 der Pädophilie schuldig gesprochen und vom Berner Obergericht zu einer bedingten Gefängnisstrafe und einem zehnjährigen Berufsverbot verurteilt.

Könnte es sein, dass diese Reisenden, Missionare und Forschenden aus diesen persönlichen Gründen nach Alternativen, nach ihrem Heil im fernen Afrika suchten?

«Entdeckungsdrang, aber auch Unzufriedenheit mit dem Alltag, familiäre und soziale Spannungen und Diskriminierung liessen die Schweizer nach Afrika reisen.»

Das Echo auf Gardis Berichte über die Mafa war in seiner Heimat denn auch positiv, so dass seine Ehre rehabilitiert wurde. Die Universität Bern verlieh Gardi für sein Werk «Mandara» 1967 die Ehrendoktorwürde in Ethnologie. Die Universität Bern prüfte im Jahr 2020 den Entzug der Ehrendoktorwürde, kam aber zum Schluss, dass dies rechtlich nicht möglich ist: Da eine tote Person nicht mehr Träger eines Titels ist, kann ein solcher auch nicht entzogen werden. Im Jahr 2004 wurde in Bern zudem eine Strasse nach René Gardi benannt, die jedoch später wieder in Wankdorfstrasse umbenannt wurde.

Aufgewertete Berner, abgewertete Mafa

Bei der intensiven Dokumentation unserer Lebensformen ging es den Schweizer Afrikareisenden nicht um eine präzise und vorurteilsfreie Beschreibung. Das verbreitete Bild ist Teil des kolonialen und rassistischen Diskurses, der die Reisenden als «weise» Herren, als Patrone positioniert und die vermeintliche Überlegenheit der Europäerinnen und Europäer verstärkt. Die Mafa wiederum werden als lautlose und primitive Figuren konstruiert. Die meisten Charaktere sind negativ gezeichnet. Dabei wurden sie auch sehr oft mit Schweizerinnen und Schweizern aus den Kantonen Uri, Wallis und anderen Alpenkantonen verglichen, mit jenen Schweizerinnen und Schweizern, die ich heute für meine Schwestern und Brüder halten könnte, zumal Gardi in seinen Reisetexten sie uns als wild, barbarisch und primitiv näherbringt.

Meine Vorfahren als Gastgeberinnen und Gastgeber der Schweizer Reisenden wussten nichts über diese abwertende Konstruktion. Sie haben sie alle mit offenem Herzen empfangen, ihnen auch Land abgetreten, um ihre Mission aufzubauen. Denn die Tradition der Mafa schreibt vor, dass man einen Fremden freundlich empfängt. Abwehrend reagierten sie nur, wenn sie ihre Kultur bedroht sahen und wenn Frauen vergewaltigt wurden.

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Problematisch ist nicht nur der damalige Vertrauensbruch bei den Begegnungen zwischen Mafa und den Schweizer Reisenden, sondern auch die heutige Aktualisierung und Verstärkung der damals in die Welt gesetzten Bilder. Mich beunruhigt, dass der bereits erwähnte Dokumentarfilm «African Mirror» von meinem Freund Mischa Hedinger die Filmsequenzen und Bilder Gardis unkommentiert und ohne Bezug auf die Entstehungszeit einfach reproduzierte und damit in der Schweizer Öffentlichkeit ein positives Echo auslöste. Dass er das Bild von hungernden, nackten und kranken Schwarzen vermittelte, wurde nicht nur von der Kritik verharmlost, der Film wurde auch mehrfach ausgezeichnet.

Begegnungen gehen weiter

Doch Afrika ist eine Wiege der Menschheit und der menschlichen Werte. Aus den hier beschriebenen Begegnungen sind konkrete Kontakte entstanden, Menschen haben sich gegenseitig beeinflusst. Die Bernerinnen und Berner haben im Mafa-Land ihre Weltanschauung verändert. Davon zeugen nicht nur das Einbürgerungsgesuch der Familie Eichenberger in Kamerun, ihr und Gardis Wunsch, bei den Mafa zu sterben und begraben zu werden, sondern auch ihre Werke – Schulgebäude, Kapellen und Gesundheitsstationen im Land der Mafa –, die heute noch zu sehen sind. Auch haben die Reisenden Gegenstände aus der Mafa-Kultur persönlich wertgeschätzt – noch heute entdecke in den Schweizer Häusern ihrer Familien Körbe, Steine, Stoffe, Krüge, Eisenwaren bis hin zu Heilkräutern.

Ausstellungen in Basel und Solothurn

Dass diese Begegnung weitergeht und gepflegt wird, zeigen Elisabeth und Paul Stulz, die in den 1980er Jahren im Mafa-Gebirge Projekte betreuten und seither regelmässig dorthin zurückgekehrt sind. Sie gelten bei den Mafa als Adoptiveltern einer Mafa-Frau namens Mbafai, die heute mit einem Schweizer verheiratet ist. Sie haben mir auch die Tür zur Schweiz für mein Forschungsprojekt geöffnet.

Dass vom Kontakt zwischen Mafa und Schweizer Reisenden etwas Substanzielles geblieben ist, zeigt auch das grosse Interesse der Besucherinnen und Besucher der laufenden Ausstellung «Alles lebt» im MKB am Stand der Mafa-Seelenkrüge.

Die Ausstellung inspirierte beispielsweise die Basler Künstlerin Regula Hurten im September 2024 zur Fotoausstellung «Körper im Raum – Körper als Raum» in Solothurn: Eine Ausstellung, in der Mafa-Vray als Zentralkonzept gilt, denn der vray bietet für die Seele einer verstorbenen Person einen Raum und verleiht ihr dadurch gleichsam wieder eine irdische Präsenz.

Tevodai Mambai

doktoriert am Institut für Germanistik der Universität Bern zum Thema «Repräsentation der Bergbewohnerinnen und Bergbewohner in ausgewählten postkolonialen deutschsprachigen Reiseberichten über Nordkamerun und Nordostnigeria» bei Melanie Rohner.

Kontakt: tevodai.mambai@students.unibe.ch

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«Afrika»

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