Gastvorlesung
Edward Glaeser fragt, was macht Städte stark?
Der US-amerikanische Ökonom Edward L. Glaeser skizzierte an der Universität Bern, wie sich Städte besser für Herausforderungen wappnen können. Weil: Die Urbanisierung nimmt zu, es braucht genügend Wohnraum und eine leistungsfähige Infrastruktur.
Hierzulande diskutieren wir die Zehn-Millionen-Schweiz. Auch global wächst die Bevölkerung – und ballt sich vor allem in den Städten: Lebte 2008 noch die Hälfte der Menschen in Zentren, werden es 2050 voraussichtlich schon über zwei Drittel sein. Doch vielerorts halten Wohnungsbau und Infrastruktur nicht mit den steigenden Bedürfnissen Schritt. Über die möglichen Gründe für die Misere und ihre Folgen referierte am 6. Dezember der US-amerikanische Stadtökonom Edward L. Glaeser. Er ist Autor von 14 Sachbüchern und veröffentlicht pro Jahr mehrere wissenschaftliche Publikationen zum Thema.
Eingeladen hatte ihn das Volkswirtschaftliche Institut der Universität Bern. Der Harvard-Professor führte das Auditorium durch etliche Highlights seiner Forschungsprojekte und präsentierte – häufig mit einer Portion Humor – eine Reihe seiner Erkenntnisse.
US-Immobilienbranche: gehemmt und kleinteilig
Einen ersten Schwerpunkt widmete Glaeser dem Wohnungsbau in den USA, wo seit Jahrzehnten vieles im Argen liegt. Ein wichtiger Faktor, warum die Zahl neu erstellter Wohnimmobilien weit hinter der Nachfrage zurückliegt, ist laut Glaeser die Überregulierung. Dahinter stehe häufig der Unwille der politischen Behörden, überhaupt neuen Wohnraum zu schaffen. Die Gesetzesdichte verhindere, dass sich eine Branche entwickle, die so stark ist, dass sie dank der Anzahl neu gebauter Wohnungen die Kosten der Entstehung merklich senkt. Dabei könnten laut Glaeser gerade Staaten mit einer entwickelten Demokratie und verlässlichen Rechtsprechung einfacher auf Gesetze verzichten als instabile Schwellenländer, die anfälliger für Korruption sind. Dass eine liberale Politik den Wohnungsmarkt von selbst regelt, zeigt laut Glaeser das Beispiel der Stadt Houston, Texas, der einzigen Stadt der USA ohne Zonenplan: «Hier entspricht seit jeher das Angebot an Wohnraum stets der Nachfrage.»
«Wo grosse Player fehlen, werden auch selten grosse Projekte umgesetzt.»
Edward Glaeser
Ein Indiz dafür, dass die US-amerikanische Immobilienbranche auch technologisch rückständig ist, zeige ein Blick in die Statistik der Patenterteilung: Während bis in die Sechzigerjahre in den Bereichen Industrie und Bauwirtschaft die Zahl neuer Patente gleichmässig wuchs, öffnete sich Anfang der Siebzigerjahre eine Schere in der Entwicklung: Ab diesem Zeitpunkt meldete nur die Industrie weiter eine steigende Zahl von Patenten an, während die Bauwirtschaft stagnierte. Wie träge diese Branche in den USA ist, lässt sich laut Glaeser auch daran ablesen, dass sie extrem kleinteilig ist; der Löwenanteil entfällt auf Mikrounternehmen mit bis zu vier Mitarbeitenden. «Wo grosse Player fehlen, werden auch selten grosse Projekte umgesetzt.»
Forschungsergebnisse dank Uber-Fahrzeugen
Neben dem Hochbau untersuchte Glaeser auch den Strassenbau. In den USA fallen die Highways in die Kompetenz der Bundesregierung, entsprechend gut seien diese in Schuss. Ganz anders präsentiere sich die Situation bei den tieferklassierten Strassen: Deren Erneuerung liegt in der Verantwortung der Bundesstaaten oder Gemeinden, die häufig mit einem Investitionsstau zu kämpfen hätten. Und selbst wenn saniert wird, heisse das nicht, dass tatsächlich die marode Fahrbahn zuerst drankommt: «Unsere Untersuchung zeigte keine Korrelation von Erneuerungsbedarf und Priorisierung», erklärte Glaeser, was beim Publikum im vollbesetzten Hörsaal für Staunen sorgte.
Von Schlaglöchern übersäte Strassen sind nicht nur unangenehm, sondern verursachen auch Kosten: Wer wegen bröckelndem Asphalt ständig abbremsen muss, verliert Zeit, was in der Summe der Volkswirtschaft schade. Um diese Einbussen detailliert zu beziffern, befragte der Ökonom in einer Studie Autofahrerinnen und Autofahrer zu ihrem Bremsverhalten aufgrund einer unzureichenden Fahrbahn. Der daraus resultierende Betrag von täglich 1.30 Dollar pro Person mag klein erscheinen – doch das Phänomen tangiert riesige Pendlerströme. Erhoben haben die Forschungsteams die Schlaglochdichte übrigens mit Sensoren, die sie in Uber-Fahrzeugen installierten und so erfassten, wie rumpelig eine Piste ist.
Umständliche Ausschreibungen als Kostentreiber
Hart ging Glaeser auch mit der öffentlichen Beschaffung ins Gericht. Die zuständigen Behörden würden zu wenig auf pragmatische und damit günstige Lösungen setzen. Am Beispiel von Bussen wies er nach, dass US-amerikanische Städte im Durchschnitt viermal mehr bezahlen, als effektiv nötig wäre, um ein komfortables Fahrzeug zu beschaffen. Viele Städte erstellten eigene Kriterienkataloge und Anforderungsprofile. Die Anbieter legten wunschgemäss entsprechend angepasste Produkte vor, doch das Prozedere und die verlangten Finessen verteuerten den Kauf unnötig. «Das ist so, wie wenn wir zu einem Autobauer gingen und ihm unsere Wunschkarosse beschrieben, unabhängig davon, was dieser im Sortiment hat. Das läuft auf eine kostspielige Einzelanfertigung hinaus.» Würde sich hingegen die Bundesregierung um die Beschaffung der Linienbusse kümmern und diese international ausschreiben, wäre das gelieferte Produkt nicht schlechter, aber nur ein Bruchteil so teuer. «Die Städte dürften natürlich weiterhin über Farbe und Beschriftung entscheiden», witzelte Glaeser.
Infrastruktur hat Folgen für Gesundheit und Bildung
In einem Exkurs zu einem internationalen Forschungsprojekt zeigte der Referent auf, welche weitreichenden Folgen eine schlampig unterhaltene kommunale Infrastruktur haben kann. In Sambias Hauptstadt Lusaka nehmen aufgrund der notorischen Unterbrüche der Trinkwasserzufuhr nicht nur Infektionskrankheiten wie Durchfall zu. Es fallen auch immer mehr Familien in traditionelle Verhaltensmuster zurück, weil es an den Mädchen und jungen Frauen liegt, mit Kanistern an zentralen Zapfstellen Wasser zu holen. Diese mühselige Versorgung absorbiert mehrere Stunden täglich; Zeit, die den Mädchen zum Lernen fehlt, weshalb viele von ihnen den Anschluss in der Schule verpassen.
Ob schleppende Bereitstellung von Wohnraum, verfehlte oder verzögerte Sanierung von Strassen oder ineffiziente Ausschreibungen, für viele dieser Defizite machte der Harvard-Professor die unzulängliche Verwaltung verantwortlich. Auch in der Schweiz ist Kritik am Gesetzesdschungel und an der Normenflut allgegenwärtig. Zur Situation in der Schweiz mochte sich Glaeser zwar nicht direkt äussern. Aber es gebe durchaus Länder, die es punkto Städtebaus und Infrastruktur besser machten als die USA. Glaeser verwies auf Seoul und Tokio, wo es gelungen sei, auch für finanzschwache Bevölkerungsschichten Wohnraum bereitzustellen. «Und trotzdem sind diese Städte attraktiv für alle Einkommensklassen.»
Langjähriger Austausch mit der Universität Bern
Dass Glaeser in Bern auftrat, hat neben seiner am Samstag verliehenen Ehrendoktorwürde (vgl. Kasten) auch damit zu tun, dass das Institut für Volkswirtschaft schon länger einen intensiven Austausch mit ihm pflegt. Laut Maximilian von Ehrlich, Professor für Volkswirtschaftslehre, sind es vor allem die Regional- und Stadtökonomie, zu denen man sich mit Glaeser und seinem Institut austauscht – wobei sich die Universität Bern natürlich vielfach auf die Situation in der Schweiz konzentriere. «Die Feststellung, dass die US-Bauindustrie wenig innovativ ist, muss aber auch uns zu denken geben.» Denn die Branche sei international vernetzt, entsprechend machten sich Innovationsdefizite womöglich auch hierzulande bemerkbar. Zu diskutieren sei auch, ob die öffentliche Hand bei der Vergabe von Aufträgen noch effizienter werden könne.
«Ich mag die Freiheit, Hochhäuser zu bauen»
Glaeser gilt als Verfechter von Hochhäusern. Auf eine entsprechende Nachfrage präzisierte er: «Ich liebe nicht eigentlich Hochhäuser. Ich mag vor allem die Freiheit, Hochhäuser zu bauen.» Es müsse möglich bleiben, Städte so für die Zukunft zu verändern, dass sie die steigende Nachfrage nach Wohnraum befriedigen könnten. Aber, räumt Glaeser ein: «Zürich ist nicht Seoul.» Ohnehin hält er Abstand von der Idee, die Menschen von ihrem geliebten Eigenheim in der Peripherie in zentrale Wolkenkratzer zu zwingen. «Viel wichtiger ist es, Fehlanreize etwa bei den Subventionen abzubauen und so gewisse Entwicklungen zu fördern», sagte Glaeser. Als Beispiel nennt er die US-Gesetzgebung, die den Kauf eines Eigenheims gegenüber Mieten steuerlich favorisiert: «Das gehört abgeschafft.» Weiter werde der Strassenbau aus öffentlichen Mitteln gefördert, was dezentrales Wohnen unterstütze. «In Zeiten des Klimawandels ist es unsinnig, so dispers zu wohnen und Autobahnen zu fördern.»
Doch sind dicht gebaute Wohnanlagen tatsächlich attraktiv? «Ich traue den Investoren durchaus zu, sichere und wohnliche Hochhäuser zu bauen. Dysfunktionale Wohnanlagen entstehen nur dort, wo der Staat als Bauherr auftritt», sagte der Referent mit Blick auf die trostlosen, aus Osteuropa bekannten Trabantenstädte. Solche Plattenbauten sind für Glaeser Beleg dafür, dass seine tiefe Skepsis gegenüber dem Staat als Bauherrn durchaus begründet ist.
Ehrendoktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät
Zusammen mit sechs anderen Persönlichkeiten erhielt Edward L. Glaeser am Samstag die Ehrendoktorwürde der Universität. Glaeser wurde geehrt für seine wegweisenden Forschungsarbeiten in den Bereichen Stadt-, Regional- und politische Ökonomie, insbesondere für seine Analyse von Städten als Wachstums- und Innovationstreiber. Auch wurden seine inspirierenden und prägenden Anstösse für zahlreiche Wissenschaftler im Feld der Stadt und Regionalökonomie gewürdigt sowie sein jahrelanges Engagement als Editor führender Fachzeitzeitschriften.
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