Psychologie
«Aus einem sensiblen Menschen wird wohl nie ein harter Knochen»
Wann ist ein Trauma ein Trauma? Und warum leiden manche Menschen mehr unter psychischen Erschütterungen als andere? Yvonne Egenolf klärt auf. Die Co-Leiterin der Psychotherapeutischen Praxisstelle der Universität Bern unterstützt Menschen nach belastenden Ereignissen.
Frau Egenolf, welches Ereignis hat Sie persönlich zuletzt erschüttert?Ganz persönlich erschüttert hat mich vor einiger Zeit ein Ereignis auf dem Nachhauseweg, als mich ein junger Mann mit einem Schlag vor die Brust niederschlug.
Was hat das mit Ihnen gemacht?Ich hatte die Situation nicht als bedrohlich eingeschätzt und musste nach dem Vorfall mein gefühltes Wissen darüber, wie die Welt funktioniert, anpassen. Ein paar Wochen lang war ich innerlich wachsamer und vorsichtiger als sonst.
Können Sie als Psychologin besser mit belastenden Ereignissen umgehen als andere Menschen?Als Psychotherapeutin verfüge ich möglicherweise über ein etwas stärker trainiertes emotionales Skillset. Das erleichtert es mir vielleicht manchmal, mein eigenes Erleben wahrzunehmen, in Worte zu fassen und dadurch zu reflektieren.
Heutzutage sind anscheinend alle ab und zu «depressiv», werden «getriggert», haben einen «Narzisst» zum Chef und leiden unter einem «Trauma». In Ihrer Praxis behandeln Sie Menschen, die tatsächlich an psychischen Störungen erkrankt sind. Ärgern Sie sich darüber, dass diese Begriffe im Alltag fast schon inflationär verwendet werden?Tatsächlich bedaure ich, wie wenig differenzierte Worte wir in der Alltagssprache verwenden, um unser emotionales und psychisches Befinden zu beschreiben. Ich glaube, es lohnt sich, hier etwas genauer in sich hineinzuspüren und nach passenden Worten für das eigene Erleben zu suchen. Wenn man eine pathologisierende Sprache verwendet, um ein zwar emotional unangenehmes, aber nicht pathologisches Erleben zu beschreiben, dann hat das etwas Entwertendes – vor allem für die Person selbst. Es macht sie zum Opfer ihres Erlebens, anstatt auch die eigene Möglichkeit hervorzuheben, Einfluss zu nehmen. Das finde ich schade.
Sollten wir solche Begriffe im Alltag gar nicht mehr verwenden?Ich möchte weniger vor dem Gebrauch dieser Worte warnen, als vielmehr dazu ermutigen, sich dem eigenen Erleben mit etwas mehr Neugier zuzuwenden, anstatt es vorschnell zu labeln. Wenn wir unserem Befinden mehr Raum und Achtsamkeit geben, merken wir vielleicht, dass wir nicht depressiv sind, sondern vielmehr traurig, niedergeschlagen, enttäuscht, verletzt, erschöpft, überfordert, kritisiert, missverstanden oder entmutigt. So kann uns unser Gefühl dann etwas darüber sagen, was wir in der Situation brauchen.
Ab wann sprechen Sie von einem psychischen Trauma?Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde oder Verletzung. In der Psychologie bezeichnet es eine schwere psychische Erschütterung, die durch sehr unterschiedliche Erlebnisse hervorgerufen werden kann. Wir sprechen von einem psychischen Trauma, wenn eine Person mit einem bedrohlichen oder als bedrohlich erlebten Ereignis konfrontiert ist und es ihre individuellen Möglichkeiten übersteigt, das Erleben zu verarbeiten. Typischerweise geht es mit Gefühlen der Ohnmacht, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins einher.
Welche Ereignisse können bei Menschen zu Traumata führen?Es gibt viele potenziell traumatisierende Ereignisse wie Naturkatastrophen, Unfälle, Krieg und Folter, sexualisierte und physische Gewalt oder mitzuerleben, wie ein Mensch gewaltsam stirbt. Aber auch Ereignisse, die auf den ersten Blick weniger heftig scheinen, wie Mobbing, emotionale Vernachlässigung oder eine schwierige Geburt, können traumatisch erlebt werden.
«Auch auf den ersten Blick weniger heftige Ereignisse wie Mobbing, emotionale Vernachlässigung oder eine schwierige Geburt können traumatisch erlebt werden.»
Yvonne Egenolf
Nach seelischen Erschütterungen können Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen entstehen – oder sich intensivieren. Als Reaktion auf ein schwieriges Lebensereignis kann es auch zu Anpassungsstörungen kommen. Wie zeigt sich diese Erkrankung?Von einer Anpassungsstörung sprechen wir, wenn eine Person – kurz nach Einsetzen des Ereignisses und nicht länger als sechs Monate nach Beendigung des Stressors – an einer depressiven oder ängstlichen Stimmung leidet, und wenn die Symptome das Wohlbefinden und das soziale und berufliche Funktionieren deutlich und unverhältnismässig beeinträchtigen. Betroffene fühlen sich meist deutlich belastet und sind damit überfordert, das Ereignis in ihr Leben zu integrieren. Übrigens stellen auch ganz normative Lebensereignisse, also vorhersehbare Übergänge von einer Lebensphase in die nächste – etwa der Beginn der Elternschaft, der Eintritt ins Berufsleben oder ins Rentenalter – hohe Anforderungen an unsere Anpassungsfähigkeit; auch sie können zu Anpassungsstörungen führen.
Wie helfen Sie einem Menschen, der an einer Anpassungsstörung leidet?In der Psychotherapie ergründen wir zunächst gemeinsam mit den Betroffenen, welche Faktoren der Anpassung im Wege stehen. Oft stossen wir dabei auf negative Annahmen über das Selbst, die in der Therapie hinterfragt werden können. Manchmal sind auch bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen nicht hinreichend entwickelt, etwa die Fähigkeit zur Selbststeuerung und Emotionsregulation, oder die sozialen Kompetenzen sind eingeschränkt. Dann stehen der Ausbau und das Training dieser spezifischen Kompetenzen im Vordergrund der therapeutischen Arbeit. Ein weiterer Fokus richtet sich meist darauf, brachliegende Ressourcen wie soziale Beziehungen oder wohltuende Aktivitäten zu aktivieren.
Zur Person
Yvonne Egenolf
ist seit 2018 leitende Psychologin der Psychotherapeutischen Praxisstelle am Institut für Psychologie der Universität Bern. Sie ist spezialisiert auf emotionsfokussierte Therapie und führt auch eine eigene psychotherapeutische Praxis in Bern.
Kontakt: yvonne.egenolf@unibe.ch
Betroffene leiden häufig unter wiederkehrenden, verstörenden Erinnerungen. Sie handeln und fühlen, als würde das Ereignis erneut passieren, das heisst, sie haben sogenannte Flashbacks: Wenn sie durch ein Geräusch, einen Geruch oder ein Körpergefühl etwa an eine Vergewaltigung erinnert werden, verspüren sie intensiven Stress. Menschen mit PTBS vermeiden Gedanken und Situationen, häufig auch Orte, Aktivitäten und Menschen, die Erinnerungen an das Ereignis auslösen könnten, und ziehen sich entsprechend zurück. Sie erleben eine deutliche Beeinträchtigung ihrer Stimmung und ihres Denkens. Daneben leiden Betroffene häufig unter Schlafstörungen, Albträumen, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Reizbarkeit und Hypervigilanz, also einer Art erhöhter Wachsamkeit.
Neben der einfachen PTBS gibt es auch die komplexe PTBS. Sie entwickelt sich als Folge von schweren anhaltenden oder wiederholten Traumatisierungen.Menschen mit komplexer PTBS leiden neben den oben erwähnten Symptomen zusätzlich an einer bedeutsamen Störung der Emotionsregulation und des Selbstbilds. Sie fühlen sich oft minderwertig und haben grosse Mühe, sich anderen nahe zu fühlen oder Beziehungen mit ihren Mitmenschen aufrechtzuerhalten.
Wie können Sie Menschen helfen, die an einer PTBS leiden?Die Behandlung der PTBS sowie die der komplexen PTBS ähneln sich in Teilen, aber es gibt auch bedeutsame Unterschiede. Grundsätzlich lassen sie sich in drei Phasen unterscheiden: Stabilisierung und Aufbau innerer und äusserer Sicherheit, Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse sowie Reintegration und Neuausrichtung.
Was kann passieren, wenn ein Mensch mit einem Trauma keine Hilfe bekommt?Die Symptome bestehen fort, und die Betroffenen entwickeln häufig eher dysfunktionale Strategien. Es kommt zum Konsum von Alkohol und Drogen, zur emotionalen Vermeidung, zu Taubheit, zu sozialem Rückzug oder auch zu Selbstverletzungen, um dem so schmerzhaften Erleben zu entfliehen. Dies wiederum kann ein Nährboden für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen sein, und das Befinden der Betroffenen verschlechtert sich weiter.
Magazin uniFOKUS
«Erschütterungen»
Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Erschütterungen»
Weitere Beiträge aus dieser Ausgabe uniFOKUS als Magazin abonnierenDer Begriff Resilienz stammt ursprünglich aus der Materialforschung, in der man nach flexibel belastbarem Material sucht, das auch nach starker Einwirkung durch Druck, Hitze oder Reibung wieder in seinen Ursprungszustand zurückfindet. Resilienz bezeichnet also eigentlich die Toleranz eines Systems gegenüber Störungen. Übertragen auf menschliches Erleben beschreibt es die Fähigkeit eines Menschen, sich trotz störenden Einflüssen und der Konfrontation mit unterschiedlichen Stressoren anzupassen und wieder zu erholen. Wir werden alle in sehr unterschiedliche Lebenswelten hineingeboren und unterschiedlich geprägt in unserem Selbstbild, unseren Kompetenz- und Selbstwirksamkeitserwartungen. Darüber hinaus spielen bei der Resilienz auch genetische Faktoren eine Rolle. Aus diesen Gründen sind manche Menschen deutlich vulnerabler – ohne dies jemals gewählt oder durch eigene Versäumnisse verschuldet zu haben.
Kann man lernen, widerstandsfähiger zu werden?Ich denke nicht, dass aus einem eher vulnerablen und sensiblen Menschen je ein harter Knochen werden wird und werden sollte. Aber Menschen können durchaus lernen, mit sich selbst besser in Kontakt zu sein, sich selbst besser zu unterstützen und Möglichkeiten zu eigener Einflussnahme besser wahrzunehmen und sozial kompetenter zu nutzen. Sie erfahren dabei, dass sie Schwierigkeiten gut und aus eigener Kraft meistern können. Das erhöht ihre Toleranz gegenüber Unsicherheiten, und sie können flexibler auf belastende Situationen reagieren.
Manche herausfordernden Ereignisse sind vorhersehbar. Wie kann man sich auf solche Ereignisse vorbereiten, um sie gut zu meistern?Wenn etwas, das uns wichtig ist, verloren geht oder endet, ist es wichtig, sich den Raum zu geben und dies zu betrauern. Ich denke, da gibt es keine Abkürzung. Natürlich muss dieser Prozess, zum Beispiel bei der Pensionierung, nicht erst an meinem letzten Arbeitstag beginnen. Ich kann schon einige Jahre vorher damit anfangen, meine Freizeitaktivitäten und die sozialen Kontakte ausserhalb der Arbeit auszubauen. Bei dem unvermeidlich bevorstehenden Tod eines geliebten Menschen kann ich vielleicht Freunde und Familie etwas näher holen, um nicht allein trauern zu müssen.
Posttraumatisches Wachstum bedeutet, dass Menschen nach einer tiefgreifenden Krise langfristig zufriedener und stärker werden können. Gemäss einer Studie von George Bonanno an der Columbia-Universität sind positive Traumafolgen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Können Sie dies auch beobachten?Zu mir in die Praxis kommen natürlich gerade die Menschen, deren psychisches Befinden nach dem traumatischen Ereignis stark belastet ist und die in diesem Erleben feststecken. Aber ja, nach einem erfolgreichen therapeutischen Prozess und der Reintegration der traumatischen Erlebnisse in der Therapie durfte ich immer wieder Zeugin bedeutsamer und wachstumsorientierter Veränderungen im Leben meiner Patientinnen und Patienten werden.
Können Sie ein Beispiel nennen?Ja, ich erinnere mich an einen erfolgreichen Geschäftsmann, der ein lebensbedrohliches Ereignis knapp überlebt hatte und im Verlauf der Therapie begann, seine Prioritäten zu hinterfragen. Er gab seine berufliche Tätigkeit auf, begann, sich sozial zu engagieren, und veränderte seine Lebensweise stark. Schliesslich bemühte er sich, die Beziehung zu seinen Kindern wieder zu vertiefen. Aber nicht immer wird posttraumatisches Wachstum von aussen so sichtbar wie in diesem Fall. Oft erleben Patienten und Patientinnen auch eine neue und als wohltuend erlebte Bescheidenheit und Achtsamkeit gegenüber dem Leben. Oder sie empfinden in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen eine tiefe Dankbarkeit über die nun erlebte Sicherheit oder sind bereit, den nächsten Entwicklungsschritt in ihrem Leben anzugehen.
Wie ist es, wenn eine Therapie abgeschlossen wird?Meist bin ich sehr zuversichtlich, dass die Person bereit ist, ihren Prozess eigenständig weiterzuführen. Es sind oft sehr persönliche und intime Prozesse, bei denen ich sie in der gemeinsamen therapeutischen Arbeit unterstützen durfte: Ein Stück weit trage ich all die Menschen, mit denen ich arbeiten durfte, im Herzen.
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