Einstein Lectures
Eine erfrischend menschliche Theorie der Menschheit
Zum Auftakt der diesjährigen Einstein Lectures an der Universität Bern nahm sich die Philosophin Susan Wolf keiner kleineren Frage an als der nach dem Wesen des Menschen. Und präsentierte überraschend einfache, genuin «menschliche» Antworten.
Auf der Leinwand in der Aula der Universität Bern prangt am Montagabend ein vertrautes Bild: eines der in der Stadt Bern wohlbekannten Einstein-Bänklein. Darauf sitzend zeigt die Aufnahme jedoch nicht wie üblich eine Touristin, sondern, scheinbar in eine Diskussion mit der Statue des grossen Physikers vertieft, die diesjährige Gastrednerin der Einstein Lectures: die weltweit renommierte Philosophin Susan R. Wolf. «Einstein hat nicht viel gesagt», scherzt die Amerikanerin, «ich musste die Unterhaltung alleine führen».
Auch was der echte Namensgeber der Vortragsreihe zu ihren philosophischen Positionen gesagt hätte, wisse sie nicht, so Wolf zu Beginn des ersten von drei Abenden, an denen sie an der Universität Bern zentrale Aspekte ihres Werkes vorstellt. Dass ihr Vortrag den Geist Einsteins weiterführt, hofft Wolf aber ausdrücklich. Als humanistisch orientierter Wissenschaftler hat nämlich auch der Begründer der Relativitätstheorie grosses Interesse am heutigen Thema gezeigt – der Frage nach dem Wesen des Menschen.
Eine alte Frage, neu gedacht
Dass sich der Mensch ganz allgemein häufig am liebsten mit sich selbst beschäftigt, dürfte bekannt sein. Oft mag dies bloss Selbstliebe ausdrücken. Ebenso oft zeugt es aber von aufrichtiger intellektueller Neugier. Denn die Frage danach, was den Menschen auszeichnet, ist eine der ältesten und zentralsten der Ideengeschichte. Besonders praktische Philosophinnen und Philosophen wie Susan Wolf selbst, die untersuchen, wie wir als menschliche Wesen leben, handeln und miteinander umgehen sollten, brauchen für ihre Arbeit einen klaren Begriff davon, was es bedeutet, Mensch zu sein.
In den letzten Jahren finde jedoch eine grundlegende Wende statt, erklärt Wolf gleich zum Auftakt. Während man früher hauptsächlich versuchte, den Menschen von anderen Geschöpfen abzuheben, sei man heute zunehmend bemüht, das zu betonen, was er mit Tieren oder gar Maschinen gemeinsam hat. «Ich bin deshalb etwas verlegen, gegen den Strom zu schwimmen und das Pendel zurückzuschieben», so die vielfach ausgezeichnete Philosophin. Dass es Wolf aber keineswegs darum geht, wie dereinst die Überlegenheit der menschlichen Spezies zu behaupten, wird sofort klar. Man merkt, dass sie ihre Motivation, die Besonderheit des Menschen erneut zu betonen, vielmehr aus einer aufrichtigen Faszination für die Einzigartigkeit der menschlichen Erfahrung zieht.
Menschen aus zwischenmenschlicher Perspektive betrachten
Der Fokus auf menschliches Alltagserleben prägt auch Wolfs Methode, die sich am britischen Philosophen P. F. Strawson orientiert. Dieser hatte bekräftigt, dass man bei der Untersuchung ethischer Fragestellungen keine philosophisch-losgelöste, «objektive» Perspektive auf den Menschen einnehmen, sondern jederzeit vor Augen haben sollte, wie es sich anfühlt, an tatsächlichen zwischenmenschlichen Beziehungen teilzuhaben. Echten Menschen gegenüber nehmen wir nämlich Haltungen an, die bei den üblichen Forschungsgegenständen fehl am Platz wären (etwa Dankbarkeit, Unmut, Vergebung, Liebe oder Kränkung) und wir gehen Verhältnisse mit ihnen ein, die mit anderen Dingen undenkbar wären. Dass das Zwischenmenschliche für unser Dasein zentral ist, wusste auch Albert Einstein. In seinem Werk «Mein Weltbild» schrieb er: «Für einen kurzen Besuch ist jeder da. Er weiß nicht wofür, aber manchmal glaubt er, es zu fühlen. Vom Standpunkt des täglichen Lebens ohne tiefere Reflexion weiß man aber: man ist da für die anderen Menschen.»
Strawsons (und Einsteins) Position weise darauf hin, erklärt Wolf, dass wir Menschen nicht als blosse Untersuchungsobjekte betrachten können, sondern diese verstehen müssen «als Wesen, mit denen wir uns auf eine besonders reichhaltige Weise identifizieren können und mit denen wir Gemeinschaften schliessen». Zu fragen, was es bedeutet, Mensch zu sein, ist Wolf deshalb überzeugt, heisse in erster Linie zu fragen, was es bedeutet, «selves like us» zu sein – Identitäten, in denen wir uns als Menschen wiedererkennen und mit denen wir innige Beziehungen einzugehen imstande sind.
Vernunft allein ist nicht alles
Entsprechend greife auch die traditionelle Vorstellung vom Menschen als «vernunftbegabten Tier» zu kurz, meint Wolf. Und sie argumentiert, vielleicht noch überraschender, dass auch der von der gegenwärtigen Ethik vielbemühte Begriff der Person vom Konzept des Menschen unterschieden werden müsse: «Der Personenbegriff verweist auf rationale, selbstbewusste Akteure. Dies kann Tiere, Ausserirdische, aber auch künstliche Intelligenzen oder gar Unternehmen und Staaten miteinschliessen. Aber es wäre höchst aussergewöhnlich, letztere als ‹selves like us› zu betrachten», so die Philosophin.
Was aber ist es, dass «selves like us» ausmacht? Für die Beantwortung dieser Frage wendet Wolf den Grossteil der verbleibenden Zeit auf. Was folgt, ist eine leidenschaftliche Auflistung unserer besonderen Eigenschaften – ein Loblied auf die Menschlichkeit und die Vielfalt menschlicher Fähigkeiten. Den Vergleich zu Tieren und Maschinen zieht Wolf dabei immer wieder. Diese könnten zwar einiges mit «selves like us» gemeinsam haben, doch niemals die ganze Fülle des menschlichen Wesens teilen. «Selves like us», so Wolf, sind bewusst, intelligent, sprachbegabt, und emotional. Sie sind fähig, sich in andere hineinzuversetzen, ihre eigenen Werte und Wünsche zu reflektieren, und eine einzigartige Perspektive auf die Welt zu bilden. Darüber hinaus verfügen sie über Wertschätzung für Schönheit, Humor und Philosophie sowie über einen individuellen Charakter und die Willenskraft, über sich selbst hinauszuwachsen.
«Wer sonst soll einen Begriff der Menschheit schaffen, wenn nicht der Mensch selbst?»
Susan Wolf
All dies überrascht und erfrischt durch seine Deutlichkeit. Schliesslich sind die genannten Merkmale uns allen aus eigener Erfahrung bekannt. Vielleicht scheinen Wolfs Antworten auch deshalb manchen Zuhörenden fast zu einfach: In der abschliessenden Fragerunde wird gleich mehrmals bezweifelt, ob nicht eine Art Zirkelschluss vorliege, wenn sich der Mensch mit Verweis auf das menschliche Erleben selbst definiere. Wolf aber hält dagegen. «Wer sonst soll einen Begriff der Menschheit schaffen, wenn nicht der Mensch selbst?», fragt sie. An den nächsten Abenden der Einstein Lectures will Wolf ausgewählte Aspekte der Menschheit näher beleuchten: darunter unsere Handlungsfähigkeit und die Frage, ob wir wirklich frei sind.
Über Susan R. Wolf
Die US-Amerikanerin ist eine der renommiertesten Philosophinnen unserer Zeit. Mit vielbeachteten Beiträgen auf dem Gebiet der Praktischen Philosophie liefert sie Grundlagen für eine genuin menschliche Perspektive auf Moral, Ethik, Werte und Handlungen. Bis zu ihrer Emeritierung 2022 war Wolf Inhaberin der angesehenen Edna J. Koury Professur für Philosophie an der University of North Carolina at Chapel Hill. Davor lehrte sie an der Johns Hopkins University in Baltimore, an der University of Maryland und an der Harvard University. Nebst diversen anderen Ehrungen wurde sie 2004 mit dem Andrew W. Mellon Distinguished Achievement Award in the Humanities ausgezeichnet. 2022 erhielt Wolf in Bern den internationalen Lauener Preis der Lauener-Stiftung für herausragende Arbeiten in analytischer Philosophie.
EINSTEIN LECTURES 2024
Im Andenken an das Werk von Albert Einstein widmen sich die Einstein Lectures abwechselnd Themen aus der Philosophie, Mathematik sowie der Physik und Astronomie. Die Einstein Lectures sind eine Kooperation zwischen der Albert Einstein Gesellschaft und der Universität Bern und finden seit 2009 jährlich statt.
Weitere Vorträge:
Dienstag, 12. November 2024, 17:15 Uhr – Character and Agency
Mittwoch, 13. Dezember 2024, 19.30 Uhr – Freedom for Humans
Die Einstein Lectures finden im Hauptgebäude der Universität Bern statt. Sie sind öffentlich und kostenlos. Vortragssprache ist Englisch.