«Afrotopien» – postkoloniale Perspektiven für den ganzen Planeten

Eine neue Generation Intellektueller entwickelt die postkoloniale Debatte weiter – aus afrikanischer Perspektive und aus Sicht der afrikanischen Diaspora. Dabei entstehen utopische Entwürfe für die Zukunft des afrikanischen Kontinents, aber auch weit über ihn hinaus.

Text: Patricia Purtschert 14. Oktober 2024

Bild einer Restaurantszene aus dem Buch «Afropäisch, Eine Reise durch das schwarze Europa» (2020) von Johnny Pitts.

2005 veröffentlichte die Autorin Taiye Selasi einen kurzen Text mit dem Titel «Bye-Bye Babar», der auf grosse Resonanz stiess, weil er das Lebensgefühl vieler gut situierter jüngerer Menschen der afrikanischen Diaspora auf den Punkt brachte. Selasi beschrieb ihr Dasein zwischen unterschiedlichen Kontinenten, Metropolen, Sprachen und Kulturen und stellte fest: «We are Afropolitans: not citizens, but Africans of the world.» (Wir sind Afropolitinnen: nicht Kosmopoliten oder Weltbürgerinnen, sondern Weltafrikaner.)

Afropolitisches Selbstbewusstsein

Selasi führt aus: «Vielleicht kennzeichnet das afropolitische Bewusstsein vor allem die Ablehnung allzu starker Vereinfachungen; das Bemühen, zu verstehen, was in Afrika alles falsch läuft, und zugleich der Wille, zu würdigen, was wunderbar und einzigartig ist.» Sie beschreibt damit das Selbstverständnis einer Generation, die sich selbstbewusst auf den enormen kulturellen und materiellen Reichtum Afrikas bezieht und sich gleichzeitig mit der gewaltvollen (Kolonial-)Geschichte und problembeladenen Gegenwart des Kontinents auseinandersetzt.

«Weltafrikanerin» zu sein, bedeutet demnach, aus einer afrikanischen Perspektive an der Moderne zu partizipieren. Vor dem Hintergrund kolonialer Afrikabilder ist das keine Selbstverständlichkeit: der Philosoph G. W. F. Hegel etwa siedelte Afrika ausserhalb der Geschichte im Bereich menschlicher Bedeutungslosigkeit an – ein rassistisches Denken, das bis in die Gegenwart hinein seine Kreise zieht.

«Weltafrikanerin zu sein, bedeutet demnach, aus einer afrikanischen Perspektive an der Moderne zu partizipieren.»

Patricia Purtschert

«Bye-Bye Babar» bricht unmissverständlich mit einer solchen Perspektive. Der Titel ist eine Referenz auf Eddie Murphys bekannte Textzeile im Spielfilm «Coming to America», die sich auf die Kinderbuchfigur Babar bezieht. Bücher wie diejenigen über Babar, im kolonialen Frankreich der 1930er-Jahre erfunden, machen rassistische Vorstellungen von afrikanischen Menschen noch immer zu einem integralen Bestandteil populärkultureller Bildung, die europäischen Menschen von Kindesbeinen an vermittelt wird. Mit der Verabschiedung von Babar ist darum auch Selasis «Ablehnung allzu starker Vereinfachungen» verbunden, welche die vielen kolonial geprägten Vorstellungen von Afrika kennzeichnen.

Ein Weltbild aus vervielfachten Geschichten

Nicht zufällig legt ein anderer Star der afropolitischen Szene den Finger auf diesen wunden Punkt: In ihrem viral gegangenen Ted-Talk «The Danger of a Single Story» erzählt die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, wie sie als Kind britische und US-amerikanische Bücher verschlang. Bald begann sie selbst, Geschichten zu schreiben: «Alle meine Figuren waren weiss und blauäugig, sie spielten im Schnee, sie assen Äpfel und sprachen viel über das Wetter […]. Ich war noch nie ausserhalb Nigerias gewesen. Bei uns gab es keinen Schnee, wir assen Mangos, und wir sprachen nie über das Wetter.»

Magazin uniFOKUS

«Afrika»

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Afrika»

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Aufgrund ihrer einseitigen Lektüreerfahrungen ging sie davon aus, so Adichie, dass Menschen in Büchern immer weit weg von den eigenen Erfahrungen situiert sein müssten. «Das änderte sich», fügte sie an, «als ich afrikanische Bücher entdeckte.» Durch diese stösst Adichie nicht nur auf Geschichten von Menschen, die ähnlich leben wie sie. Durch sie vervielfachen sich auch die Geschichten, die fortan ihr Weltbild formen. Sie entkommt damit der Gefahr, Menschen auf eine einzige Dimension menschlichen Daseins zu reduzieren.

Vermenschlichung und Entmenschlichung

Selasi und Adichie sind Teil einer neuen Generation afrikanischer Intellektueller, die eine postkoloniale Auseinandersetzung aus afrikanischer und afrodiasporischer Perspektive weiterentwickeln. Zu dieser weit ins späte 20. Jahrhundert zurückreichenden Tradition gehören die Arbeiten von Sylvia Wynter, die aufzeigt, wie moderne Konzeptionen des Menschen auf kolonialrassistischen Differenzen beruhen. Der damit verbundene zweiseitige Prozess der Vermenschlichung und Entmenschlichung führte zur Herausbildung eines Selbstverständnisses von Menschen der kolonialen Metropole als fortschrittlich und aufgeklärt auf der einen Seite; auf der anderen Seite zur kolonialen Ausbeutung und Versklavung von kolonialisierten Menschen.

Dazu gehört auch Valentin Y. Mudimbes «The Invention of Africa». Darin zeigt er auf, wie die Vorstellung eines zusammenhängenden, kulturell einheitlichen Kontinents aus einer kolonialen Warte entwickelt wurde. Mudimbes Analyse weist grosse Ähnlichkeit mit Edward Saids viel bekannterem «Orientalismus» auf, der die Entstehung eines einheitlichen «Orients» auf eurozentrische Wissenschaften zurückführt.

Dazu gehören die Arbeiten von Audre Lorde, die – lange bevor mit den «Affect Studies» ein neues und trendiges Forschungsfeld eingeführt wurde – beschreibt, wie Wut aus der Erfahrung von Unterdrückung etwa durch Rassismus, Sexismus oder Homophobie entstehen kann. Und wie diese oftmals verpönte Emotion zu einem Ansatzpunkt für Praktiken wird, die alternatives Wissen und soziale Veränderungen hervorbringen.

Zur Person

Fotografie: Dres Hubacher

Patricia Purtschert

ist Philosophin, Professorin für Gender Studies und Co-Leiterin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung an der Universität Bern. Sie arbeitet unter anderem zur postkolonialen Geschichte und Gegenwart der Schweiz. Während ihres Studiums hat sie ein Semester an der University of Ghana Philosophie und Geschichte studiert.

Kontakt

Dazu gehört auch das Buch «The Black Atlantic» von Paul Gilroy. Er thematisiert darin die Entstehung einer Schwarzen Diaspora durch die gewaltsame Verschleppung und Versklavung afrikanischer Menschen und zeigt auf, wie grundlegend dies für die Entwicklung einer modernen Welt war.

Dazu gehört das Werk «Invention of Women» von Oyèrónkẹ́ Oyéwùmí. Sie beschreibt darin, wie viele scheinbar «natürliche» Vorstellungen von Männern, Frauen und Familie europäische Normen widerspiegeln, die historisch gewachsen sind. Afrikanischen Gesellschaften wurden solche Normen durch koloniale Herrschaftsverhältnisse aufgezwungen. Sie überlagerten und zerstörten bestehende soziale Arrangements, in denen Geschlecht eine andere und manchmal (wie sie am Beispiel der Yoruba im heutigen Nigeria diskutiert) gegenüber anderen sozialen Faktoren, wie dem sozialen Alter, eine untergeordnete Rolle spielte.

Dazu gehört auch die Arbeit von Achille Mbembe. Er beschreibt mit dem Begriff «Nekropolitik», wie koloniale Regierungsweisen zwischen Menschen unterscheiden, deren Leben von Bedeutung ist, und solchen, deren Tod in Kauf genommen wird. Solche Analysen haben, wie ein Blick auf das Sterbenlassen im Mittelmeer zeigt, nichts an Aktualität eingebüsst: Denn die tödlichen Grenzregimes für Menschen aus Afrika und Asien, die aufgrund sozialer, politischer, ökonomischer und ökologischer Krisen auf gefährlichen Routen den Weg nach Europa suchen, werden von europäischen Staaten weitgehend in Kauf genommen.

Eine andere Zukunft imaginieren

Vor dem Hintergrund solcher profunden und zugleich schonungslosen Analysen einer eurozentrisch ausgerichteten Moderne und ihrer Folgen für Afrika formieren sich zurzeit neue Denkansätze. Sie bringen sich aus einer afrikanischen und afrodiasporischen Perspektive in globale Diskussionen ein und imaginieren eine andere Zukunft für den Kontinent.

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«Es geht darum», schreibt Felwine Sarr, «sich nicht länger zu rechtfertigen, nicht länger auf die Aufforderungen anderer zu reagieren.» Er legt mit dem Begriff der Afrotopie eine Utopie vor, «die es sich zur Aufgabe macht, die gewaltigen Möglichkeitsräume innerhalb der afrikanischen Wirklichkeit aufzustöbern und sie fruchtbar werden zu lassen». Sarr fokussiert insbesondere auf die Umgestaltung der Ökonomie, die in westlich dominierten Kontexten viel zu übermächtig geworden und einseitig auf den Profit von einzelnen Individuen ausgerichtet sei. In der Afrotopie soll sie sich stärker mit kulturellen und spirituellen Lebensformen verschränken und damit nicht nur nachhaltigere Bedingungen für die Menschen schaffen, die in dieser Wirtschaftsordnung leben, sondern auch für die ökologischen Systeme, denen wir alle angehören.

Afrotopien werden zu Planetopien

Auf ähnliche Weise betont Sylvia Tamale die Bedeutung afrikanischen Wissens für die rapide Veränderung und Zerstörung ökologischer Grundlagen. Afrikanerinnen und Afrikaner, so Tamale, weisen aufgrund ihres durchschnittlich sehr niedrigen Ressourcenverbrauchs den weltweit tiefsten ökologischen Fussabdruck auf. Die UNO schätzt, dass nur zwei bis drei Prozent der globalen Emissionen auf Afrika zurückgeführt werden können. Gleichzeitig fehlen aufgrund der Folgen von Versklavungshandel, Kolonialismus und Neukolonialismus vielerorts die benötigten Mittel, sowohl im Alltag der Menschen als auch auf staatlicher Ebene, um sich vor klimabedingten Veränderungen schützen oder von ebensolchen Katastrophen erholen zu können. Afrika, so Tamale, sei damit der Kontinent, der gegenüber den Effekten des Klimawandels am verletzlichsten ist.

Insbesondere in der Verbindung von dekolonialem Feminismus, Umweltpolitik und indigenem Wissen durch den afrikanischen Ökofeminismus sieht Tamale das Potenzial, einen schmalen Grat zwischen Nutzung und Schutz natürlicher Ressourcen ausmachen zu können. Damit wird auch deutlich, dass Afrotopien über den Kontinent hinaus von Bedeutung sind, da sie zugleich «Planetopien», Utopien für den Planeten, sind.

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