Im Zeichen des Sankofa

Der dschibutische Schriftsteller Abdourahman Waberi blickt zurück auf sein Semester als Friedrich Dürrenmatt Gastprofessor für Weltliteratur in Bern. Mit seinen Studierenden blickte er voraus: Afrikanische Zukünfte? Waberi hat ein klares Bild davon, und das ist optimistisch. Dafür steht auch ein westafrikanisches Tiersymbol.

Abdourahman Waberi © Patrice Normand

Elegant stürzt sich der mythische Vogel Sankofa dem Unbekannten, dem Künftigen entgegen, dabei weist sein Kopf, sein Blick auf die Vergangenheit. Bei den Akan in Ghana und Côte d’Ivoire steht er für das unwiderstehliche Streben nach Wissen und mahnt, dass nichts Tragfähiges zustande bringt, wer das Fundament vernachlässigt.

Heute ziert Sankofa die Giebel vieler historischer Institute weltweit. Er nahm denselben Weg wie die Menschen, die sich «im Austausch mit dem Anderen verändern, ohne sich zu verlieren oder zu verfälschen», wie Édouard Glissant sagt. Sankofa blickt über die Schulter auf die zurückgelegte Strecke, um die Gegenwart zu kosten und dann umsichtig zu handeln. Er steht für das tiefe menschliche Bedürfnis, sich zu bilden, zu reisen, zu schaffen und zu träumen.

Als Lehrer bin ich glücklich, wenn meine Studierenden strahlen, weil eine Figur oder ein Werk der Vergangenheit sie anspricht. Der Mensch ist eine geschichtenverliebte Spezies, immer auf der Jagd nach unbekannten Namen, einzigartigen Ausdrücken, seltenen Aromen.

Zur Person

Abdourahman Waberi

lebt in Frankreich und brachte als Gastprofessor seinen Berner Studierenden den Afrofuturismus näher: Identitäten, Ausdrucksformen und Zukunftsentwürfe der afrikanischen Diaspora. Derzeit lehrt Waberi frankophone Literatur an der George Washington University.

Sehnsucht nach Afrika

Der Sankofa sass bei mir, als ich mit dem kongolesischen Schriftsteller Alain Mabanckou ein lustiges Wörterbuch verfasste, das auf Deutsch als Der Puls Afrikas: Eine Liebeserklärung von A bis Z erschien. Auch dessen Fortsetzung mit dem Titel Notre France noire: de A à Z möchte informieren und verzaubern, will Persönlichkeiten, Ereignisse und Orte dem Vergessen entreissen. So stillen wir ein Bedürfnis, das man wohl auch an der Staatsspitze verspürt hatte, als Präsident Macron ein Verzeichnis mit «300 bis 500 verdienten Einwanderern aus den Vorstädten» forderte, nach denen Strassen in Frankreich benannt werden könnten.

Der Sankofa-Vogel ist in einigen afrikanischen Regionen Symbol für eine bessere Zukunft, da er aus der Vergangenheit lernt.

Natürlich stiess ich bei meinen Studierenden an der Universität Bern auf dieselbe Sehnsucht, denselben Durst nach Afrika. Das ganze Semester wanderten wir mit wagemutigen Schriftstellerinnen, Philosophen, Filmemacherinnen und Künstlern, die uns radikale Werke geschenkt haben, über Krete und Bergrücken. Mehr als einmal taten wir mit Blick auf die afrikanischen Zukünfte einen Schritt beiseite, um einen eigenen Bedeutungsraum zu entwickeln, um Abstand zu halten von ethnologischen Kurzschlüssen und entwicklungspolitischen Imperativen internationaler Institutionen (Weltbank, IWF) mit ihrer mechanistisch-rationalen Logik, die die Welt nun drei-, vierhundert Jahre lang beherrscht hat. Einer Vernunft, die man zur Krone des Menschenmöglichen erhob. Einer Vernunft, die in den entscheidenden Kreisen von Wirtschaft und Politik noch common sense ist. In deren Gefolge begriff sich der Mensch als Herr und Meister der Natur, machte sich ein falsches Bild von seinem innersten Wesen, seiner Psyche und etablierte unbewusst eine Rangordnung: des Kurzfristigen über das Langfristige, der Quantität über die Qualität, der Einheitlichkeit über die Vielfalt, des Habens über das Sein, des Einzelnen über die Gemeinschaft und so weiter.

Die Wurzeln der ökologischen Krise dringen tief

Einfach war unser Vorhaben nicht. Cheikh Hamidou Kane, Amadou Hampâté Bâ, Nnedi Okorafor und Maryse Condé beschwören die Geister der Toten, die Manen aus ganz anderen raumzeitlichen Dimensionen. Die stehen über unseren gereizten, ungeduldigen Impulsen: Sie weisen uns die Richtung. Die globale Umweltkatastrophe und deren zahllose Ausprägungen zeigen die Grenzen des cartesianischen Modells auf, das die klare Trennung des Menschen von seinem Ebenbild (oder seiner Hülle) von der sogenannten Natur zu verantworten hat. Trennung vom Leben, deren Folge: Kommodifizierung der Welt.

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Wer mit derart hellsichtigen Köpfen unterwegs ist, verliert alle Zweifel daran, ob die ökologische Krise nicht noch viel tiefer geht. Ihre Wurzeln dringen – eine Diagnose, die zunehmend mehr Gehör, ja Akzeptanz erfährt – bis in die Ethik, Philosophie, Sitte und Spiritualität. Die im Fortschrittsstreben geformte technisch-materielle Zivilisation hat ihren moralischen Kompass und ihren Sinn für Prioritäten verloren.

Atem schöpfen, Uhren anhalten

Der Sankofa als Symbol hat Vorzüge gegenüber dem Zeitstrahl, der die Zeit als einen Stoff darstellt, der immer in die gleiche Richtung abfliesst. Das Symbol Sankofa bedeutet, Atem zu schöpfen, die Zeit der Uhren anzuhalten, die dichotomische Leidenschaft des Westens zu hinterfragen sowie deren systematische, manichäische Trennung von Geist und Materie, Alt und Neu, Männlich und Weiblich, Geschriebenem und Erzähltem, Tradition und Moderne.

«Sankofa steht für das tiefe menschliche Bedürfnis, sich zu bilden, zu reisen und zu träumen.»

Abdourahman Waberi

In Afrika ist die westliche Vernunft kein Fremdkörper, den man bekämpfen könnte, sie ist längst verwachsen mit den Sinnfeldern, von denen sich die kollektive Vorstellungskraft des Kontinents nährt. Sie spielt ihren Part in den Bemühungen, die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Es gilt, die ökonomischen Probleme anzupacken – nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel, die Menschheit nicht als Singularität, sondern als ubuntu in vielfältigen Solidarbanden zu erhalten (Ubuntu ist ein lebensphilosophisches Konzept aus dem südlichen Afrika und wird sinngemäss übersetzt mit «Ich bin, weil wir sind»; Anm. d. Red.). Genauso lebten die alten Völker vor Beginn des zerstörerischen Menschenwerks, das für unsere Vorfahren in der afrikanischen Savanne, in den Schweizer Bergen, in der sibirischen Steppe unvorstellbar und unannehmbar gewesen wäre. Würde ein (über-)menschliches Wesen ihnen zuflüstern, dass wir uns wochenlang die Köpfe heissreden, ob man Wasser, Saaten und bedrohte Arten schützen solle oder nicht … sie würden sich im Grabe umdrehen.

Unbezahlbarer Frieden

Mit dieser kognitiven Kluft, dem Schiffbruch einer ganzen Zivilisation, besteht das Risiko, die Weltgesellschaft noch stärker zu destabilisieren – durch Grenzkonflikte, mörderische Kriege, atomares Wettrüsten. Als einziger Kontinent verfügt Afrika über die moralische Glaubwürdigkeit, den Rest der Welt zur allgemeinen Abrüstung zu bewegen: Von hier (aus Niger etwa) stammt ein Teil des Urans, das die Killerindustrien benötigen. In der Vergangenheit haben zwei westliche Grossmächte Atomtests in Afrika durchgeführt, denn Frankreich machte seine ersten Versuche von 1960 bis 1966 in der algerischen Sahara, und Israel hat seine Tests wohl zu Zeiten der Apartheid auf der Prinz-Edward-Insel, einem kleinen Archipel im Indischen Ozean, veranstaltet. Afrika kennt das nukleare Feuer auf eigenem Grund und Boden, profitiert hat es davon nicht. Aber zwei afrikanische Staaten (Libyen, Südafrika) haben ihr Atomprogramm freiwillig beendet. Zählt man diese vier Punkte zusammen, verfügt der ökonomisch ärmste Kontinent auf moralischer Ebene über einen klaren Standortvorteil. Frieden ist unbezahlbar.

Magazin uniFOKUS

«Afrika»

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Afrika»

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Ein afrikanischer Ansatz für die Geisteswissenschaften

Für die Geisteswissenschaften bestünde ein afrikanischer Ansatz darin, den Boden für andere Formen des Zusammenlebens zu bereiten, weniger geläufige Felder zu durchmessen und die Beziehungen zwischen den symbolischen Sphären (den sozialen, politischen, ökonomischen, spirituellen Ordnungen) neu zu gestalten. In unserer chaotischen Ära braucht es eine solche Ambition unbedingt. Resultieren müsste sie aus der Erforschung einer nicht schon geschriebenen Zukunft, die stattdessen Erbe und Erfindungsgeist, Mut und Geduld, Versuche und Vorstösse kombiniert, ausgehend von unseren hiesigen Grenzen, hin zum anders Möglichen. Diese Ambition erfordert eine Doppelbewegung, wie sie der Zaubervogel der Akan vollführt, der das alte Archiv erschliesst und neue Horizonte eröffnet.

In die dichten Wälder der Afrofuturistinnen

Wenn Erschöpfung und Entmutigung meine Studierenden ergriffen, wenn die vernetzten Kassandras mit ihren stacheldrahtenen Träumen die Schönheit der Welt verstellten, tauchten wir in die dichten Wälder der Afrofuturistinnen ab. Dort warteten wir auf die Eule der Minerva, in der griechischen Mythologie treue Begleiterin der Weisheitsgöttin Athene, warteten auf ihr Signal, uns wieder zu zeigen. Wir nahmen uns die Zeit, auf einer Lichtung zu Atem zu kommen, bevor wir uns bewusst in Bewegung setzten. Über unseren Köpfen zwei Vögel, ein ganz ausgezeichnetes Paar. Einerseits die Eule der Minerva. Andererseits die prägnante Silhouette ihres afrikanischen Vetters Sankofa.

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