«Divers zusammengesetzte Teams sind produktiver und kreativer»

Vier Jahre haben Forscher*innen in ganz Europa geforscht und Massnahmen entwickelt, um Geschlechtervielfalt in der Arbeitswelt zu fördern. Initiiert und koordiniert hat das Projekt Sabine Sczesny von der Universität Bern.

Sabine Sczesny ist Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Bern und hat das Forschungsgrossprojekt «G-VERSITY» koordiniert, das nun mit einer dreitägigen Konferenz in Bern zum Abschluss kam. © Universität Bern / Bild: Adrian Moser
Sabine Sczesny, heute wird nach einer dreitägigen Konferenz in Bern das internationale Forschungsprojekt «G-VERSITY» abgeschlossen. Was zeichnet dieses Projekt zur Geschlechtervielfalt aus?

Sabine Sczesny: Zum einen sicherlich die Zusammenarbeit zwischen den fünfzehn Forschungsteams, die an neun europäischen Universitäten angegliedert sind, unter anderem auch in Bern. Sehr schnell hat sich eine gute Zusammenarbeit etabliert: unter den Universitäten, zwischen den verschiedenen Disziplinen – Psychologie, Pädagogik, Management, Betriebswirtschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaften –, und mit den Partnerorganisationen wie beispielsweise einer Stadtverwaltung, einem öffentlich-rechtlichen Rundfunksender und verschiedenen NGOs. Gemeinsam haben wir umsetzungsorientierte Lösungen erarbeitet und auf den Bedarf ausgerichtet.
Im Rahmen der einzelnen Forschungsprojekte wurden fünfzehn Doktorierende zu Gender-Diversity-Expert*innen und versierten Wissenschaftler*innen ausgebildet. G-VERSITY gilt als Prototyp für eine innovative Doktorand*innenausbildung und wurde deshalb vom Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Union finanziert. Das Programm fördert die internationale Mobilität. Unsere Doktorierenden kommen aus den unterschiedlichsten Ländern, darunter Indien, China, Australien, Kanada, Ungarn, den USA und der Schweiz. Unsere Forschung und die Ausbildung der Doktorierenden profitieren sehr vom interdisziplinären Austausch und der engen europaweiten Vernetzung.

Die Forschenden haben den Einfluss des Geschlechts auf den Bildungs- und Berufsweg untersucht. Mit welchen neuen Erkenntnissen?

Mit vielen! Eine Längsschnittstudie von eineinhalb Jahren zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz hat zum Beispiel gezeigt: Wenn sich belästigte Frauen selbst die Schuld geben, glauben sie in der Folge weniger daran, Kontrolle über ihren Arbeitsalltag und ihre Karriere zu haben. Dies führt dazu, dass sie ihren Arbeitgeber wechseln möchten und sich in ihrem Job weniger motiviert fühlen.
Eine andere experimentelle Studie hat strukturelle Barrieren aufgezeigt, welche Männer überwinden müssen, wenn sie in der Kinderbetreuung arbeiten möchten. Denn es ist nicht so, dass sich keine Männer für solche Berufe interessieren, doch der niedrige soziale Status, die geringe Bezahlung oder das Stereotyp, das ihnen die Kompetenz in diesem Bereich abspricht, schrecken viele ab.
Eine weitere Studie hat den Mythos widerlegt, dass Frauen sich – ganz im Gegensatz zu Männern – nur dann auf eine Stelle bewerben, wenn sie alle Kriterien erfüllen. Wir fanden heraus: Wenn Menschen nicht alle Kriterien erfüllen, bewerben sich vor allem diejenigen mit einer hohen Selbstwirksamkeit, dies ist unabhängig vom Geschlecht.

© Universität Bern / Bild: Adrian Moser
Sind auch Studien zu den Laufbahnen von non-binären oder trans Personen gemacht worden?

Ja, unser Team in England hat Interviews mit queeren Führungskräften geführt, mehrheitlich mit non-binären oder trans Personen. Dabei hat sich gezeigt, dass es für diese sehr herausfordernd ist, in ihren Führungsrollen authentisch zu sein. Sie stehen regelmässig vor der Frage, wann und wie sie ihre Identität offenlegen. Sie verspüren den Druck, dies auf eine Art zu tun, die am Arbeitsplatz akzeptiert wird. Gleichzeitig sind sie mit der Erwartung konfrontiert, als non-binäre oder trans Führungskraft sichtbar zu sein, um die gesellschaftliche Akzeptanz zu verbessern. Sie sind also aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit einem zusätzlichen Stress ausgesetzt.

«Für non-binäre oder trans Führungskräfte ist es sehr herausfordernd, in ihren Führungsrollen authentisch zu sein. Sie stehen regelmässig vor der Frage, wann und wie sie ihre Identität offenlegen.»

Sabine Sczesny

Welche Unterschiede haben Sie zwischen den europäischen Ländern festgestellt?

Die horizontale und die vertikale Segregation der Geschlechter – also die Trennung nach Berufsgruppen oder Hierarchiestufen – sind europaweit vorhanden. In den skandinavischen Ländern, allen voran Schweden, gibt es weniger strukturelle Diskriminierungen, aber auch dort berichten Frauen von geringerer Teilhabe an Entscheidungen oder von sexueller Belästigung. Die Schweiz fällt europaweit auf, weil ein hoher Anteil der Frauen Teilzeit arbeitet. Das wird in der Wissenschaft als «Teilzeitfalle» bezeichnet, die zu Altersarmut oder geringeren Aufstiegschancen beiträgt.

G-VERSITY ist praxisorientiert ausgerichtet. Welche Massnahmen sind entwickelt worden, um die Diversität im Arbeitsleben zu fördern?

Eine ganze Palette! Zuerst geht es immer darum, das Bewusstsein für das Thema zu erhöhen, sei das via Medien oder direkt in Schulen oder Organisationen. Wichtig ist es aufzuzeigen, wohin die Kategorisierung nach Geschlecht führt: einerseits arbeiten Frauen und Männer überwiegend in getrennten Berufsfeldern, andererseits sind mehrheitlich Männer in Führungspositionen tätig. Die negativen Konsequenzen sind vielfältig und reichen von sexueller Belästigung, dem geschlechtsspezifischen Lohngefälle bis zur Altersarmut von Frauen. Weiter sollten stereotype Vorstellungen, wie eine Frau oder ein Mann zu sein haben, abgebaut werden. Am wirkungsvollsten ist es, diesen Stereotypen schon im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule entgegenzuwirken. Zwar haben wir Menschen das Bedürfnis nach Kategorisierung, doch die Kategorien Frau und Mann haben zu strukturellen Diskriminierungen geführt, die es abzubauen gilt. Ziel in modernen Gesellschaften ist es daher, Vorurteile zu reflektieren und jeden Menschen als Individuum wahrzunehmen, unabhängig von dessen Geschlecht.

«Zwar haben wir Menschen das Bedürfnis nach Kategorisierung, doch die Kategorien Frau und Mann haben zu strukturellen Diskriminierungen geführt, die es abzubauen gilt.»

Sabine Sczesny

Können Sie ein paar konkrete Beispiele nennen?

Wirkungsvolle Massnahmen für mehr Geschlechtervielfalt, die wir im Rahmen von G-VERSITY untersucht haben, wären zum Beispiel, dass Kinderbetreuung professionalisiert und das Stereotyp der «Mütterlichkeit» als Voraussetzung für diesen Beruf abgebaut wird. Hilfreich ist auch, wenn Unternehmen bei Stellenausschreibungen hervorheben, wie wichtig die berufliche Qualifikation ist – damit sich Frauen und Männer für einen geschlechtsuntypischen Beruf interessieren, bewerben und als Rollenmodell für andere dienen können. Unser Fazit: Für die Förderung von Geschlechtervielfalt ist es effektiver und nachhaltiger, das jeweilige System genau zu analysieren und Interventions- und Präventionsmassnahmen darauf abzustimmen. Ausserdem braucht es eine Kombination von Massnahmen, die bei den strukturellen Problemen wie etwa dem Organisationsklima oder den Regelungen für Beförderungen ansetzen. Denn es handelt sich um strukturelle Diskriminierung, nicht um individuelle Schwierigkeiten.

Was tut G-VERSITY, damit diese Massnahmen den Weg in die Öffentlichkeit und die Praxis finden?

Einerseits stellen wir auf unserer Onlineplattform gversity-solutions.org Leitfäden mit Lösungsansätzen für die Praxis vor. Diese stehen allen zur Verfügung, die Vielfalt und Inklusion vorantreiben möchten, etwa Schulen, Arbeitgeber*innen, Gleichstellungsbeauftragten oder Politiker*innen. Es gibt beispielsweise Leitfäden zum Thema, wie Unternehmen Geschlechtervielfalt wirkungsvoller kommunizieren können, wie man die Inklusion unterrepräsentierter Gruppen fördern kann oder wie man Schulungen zu Geschlechtervielfalt effektiv umsetzen kann. Zusätzlich wird dieses Wissen über klassische oder soziale Medien oder über Vorträge in Firmen und Organisationen weiterverbreitet, europaweit. Alle Doktorierenden haben Medientrainings erhalten und haben den Stand der aktuellen Forschung mehrfach der breiten Öffentlichkeit vermittelt.

«Divers zusammengesetzte Teams sind nachweislich produktiver und kreativer, sie kommunizieren effektiver, finden tragfähigere Lösungen für Probleme und lernen, mit Konflikten besser umzugehen.»

Sabine Sczesny

Was bringt es Arbeitgeber*innen, wenn sie sich für Geschlechtervielfalt engagieren?

Divers zusammengesetzte Teams sind nachweislich produktiver und kreativer, sie kommunizieren effektiver, finden tragfähigere Lösungen für Probleme und lernen, mit Konflikten besser umzugehen. Es gibt also überzeugende Gründe, Geschlechtervielfalt erreichen zu wollen! Ein weiterer ist der, dass Kündigungen von Beschäftigten die Arbeitgeber*innen teuer zu stehen kommen. Deshalb lohnt es sich für Unternehmen finanziell, dafür zu sorgen, dass sich am Arbeitsplatz alle respektiert und sicher fühlen, unabhängig ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung.

Zur Person

Sabine Sczesny

ist Professorin für Sozialpsychologie in der Abteilung Soziale Neurowissenschaft und Sozialpsychologie am Institut für Psychologie an der Universität Bern. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Diversität und der Abbau von Stereotypen, Vorurteilen und sozialer Diskriminierung. 

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