Historisches Fensterglas – kulturell und ökologisch wertvoll

Flachglas in historischen Gebäuden ist kulturelles Zeugnis und punktet oft auch ökologisch, landet aber vielfach im Entsorgungshof. Die neue Publikation Glass in Architecture beleuchtet Glas und seinen vielschichtigen Wert für unsere gebaute Umwelt.

Text: Laura Hindelang 17. Mai 2024

Das Cover-Bild von Glass in Architecture zeigt die historische Ziehglas-Produktion. © Walter de Gruyter Verlag. Foto: © Patrimoine Glâne / Gaston de Jongh, Lausanne

«Ein ganzes Buch über Flachglas – ist das nicht ein bisschen, na ja, flach?» fragte mich ein Arbeitskollege, als er von unserem Vorhaben hörte, eine Tagung und eine Publikation zum Thema Glass in Architecture zu initiieren und umzusetzen. Vier Jahre später kann ich mit gutem Gewissen sagen: Nein, gar nicht. Vielmehr ist ein einzigartiges Nachschlagewerk entstanden, das die Bedeutung von Glas über die historische Produktion bis zum zeitgenössischen Recycling greifbar macht. Denn, wenn wir alte Fenster und Gläser wegwerfen, haben wir nicht nur kulturell, sondern auch energetisch viel zu verlieren.

Historisches Glas schwindet rasant

Was gab den Anstoss für unsere interdisziplinäre Kollaboration zu Glass in Architecture? In unseren unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen hatten wir beobachtet, dass historisches Flachglas über die letzten Jahrzehnte rasant aus historischen Gebäuden und ihren Fenstern, Türen und Wänden verschwand.

Wenn historische Bauwerke von besonderer kultureller Bedeutung saniert, also an heutige Bedürfnisse angepasst werden, legen Denkmalpfleger, Architektinnen, Handwerker und Restauratorinnen grundsätzlich Wert darauf, die historische Substanz der Gebäude zu erhalten. Beispielsweise wird ein Deckenbalken aus dem 18. Jahrhundert nicht ohne triftigen Grund entfernt.

Ganz anders bei Flachglas. Bei einer Sanierung sind die historischen Fenster, und insbesondere die Fenstergläser, häufig das Erste, was ersetzt wird. Diese werden als Schwachpunkte gesehen. Das Schlagwort heisst hier «energetische Ertüchtigung». Durch ihre Dämmung oder ihren Ersatz versprechen sich Hauseigentümerinnen oder Bewohner eine Senkung der Heizkosten und einen Komfortgewinn. Oftmals müssen die historischen Fenster neuen, isolierten, mehrfachverglasten Fenstern weichen. Bei denkmalgeschützten Gebäuden werden historische Fensterrahmen aus Holz teils erhalten und mit Isolierglas «ertüchtigt»; das historische Flachglas landet bei einer solchen Sanierung meist in der Baumulde.

Energetisch sanieren an der richtigen Stelle

Ganz klar: Energie sparen ist in Zeiten von Klimawandel und Inflation sehr wichtig. Und tatsächlich haben historische Bauwerke und ihre Fenster einen geringen ökologischen Fussabdruck: Wenn sie vor der fossilen Energiewende 1850 errichtet wurden, sodass ihre nicht-fossile Herstellung ohne Kohle, Erdgas und Erdöl ausgekommen ist. Zudem gehen in historischen Bauten in der Regel nur 10 Prozent der Wärmeenergie über die Fenster verloren, während der Grossteil über Wände, Decken, Böden und durch Lüftung verpufft.
Wir ertüchtigen also an den Bauten, die bereits ihr ganzes Leben energetisch auf kleinem Fuss gelebt haben. Und wir ertüchtigen oftmals an der falschen Stelle, indem wir hundertjährige Holz-Glas-Fenster mit Plastik-Glas-Fenstern ersetzen, die spätestens nach 20 bis 30 Jahren ersetzt werden müssen und schwer zu recyclen sind. Ist das energetisch nachhaltig? Wie schaut es mit der kulturellen Bedeutung von Flachglas aus, die hier verschwindet?

Zu den Herausgeberinnen

Die Herausgeberinnen bilden ein interdisziplinäres Forschungsteam: Die Geologin-Mineralogin Sophie Wolf ist am Vitrocentre Romont tätig, dem Schweizerischen Forschungszentrum für Glasmalerei und Glaskunst. Laura Hindelang ist Professorin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern und lehrt und forscht im Schwerpunkt Architekturgeschichte und Denkmalpflege. Die Kunsthistorikerin Francine Giese ist Direktorin des Forschungszentrums Vitrocentre Romont und des Kunstmuseums Vitromusée Romont. Anne Krauter ist Professorin für Kunstgeschichte im Fachbereich Restaurierung und Konservierung an der Hochschule der Künste Bern.

Glas ist nicht gleich Glas

Viele der vor 1960 hergestellten Fenstergläser besitzen besondere charakteristische Merkmale wie Blaseneinschlüsse oder gewellte Oberflächen als Spuren ihrer Herstellung. Glasmacher haben über die Jahrhunderte unterschiedlichste Techniken entwickelt, darunter das Zylinderblasverfahren, das Schleuderverfahren sowie die Zieh- und Walzglastechnik. Immer mit dem Ziel, möglichst grosses, möglichst flaches, möglichst transparentes Glas herzustellen. Diese Arbeitsprozesse benötigten enorm viel Ressourcen: menschliche Arbeitskraft, besonderes technologisches und handwerkliches Wissen und grosse Mengen an Energie. Ein mittelalterliches Butzenglasfenster oder die Verglasung eines Barockschlosses kosteten daher ein Vermögen. Es galt: Je zahlreicher und je grösser die Fenster, desto reicher die Hauseigentümerschaft.

Blick durch ein historisches Fensterglas mit Blasen und Schlieren auf die Gassen der Altstadt von Rheinfelden, 2021. © Isabel Haupt

Heute wissen wir häufig nicht mehr, wie bestimmte historische Glasarten hergestellt wurden. Es gibt eindrückliche Abbildungen, wie Mondglas geschleudert wird, zum Beispiel in der Enzyklopädie (1765) von Diderot und d’Alembert. Aber im 21. Jahrhundert beherrscht niemand mehr diese Technik. Wenn bei einer energetischen Ertüchtigung ein solches Mondglas aus einem historischen Bauwerk entfernt wird, ist dieses Beweisstück einer einzigartigen technischen Expertise verloren.

«Fenster sind die Augen der Gebäude»

Flachglas in Fenstern, Türen und Wandflächen beeinflusst stark, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Heute erachten wir die makellos-transparente Sicht ohne die kleinste Verzerrung als selbstverständlich. Aber das war nicht immer so. Wenn Sie schon einmal durch ein solches gewelltes oder gebläseltes historisches Fensterglas geblickt haben, sehen Sie die Welt mit ganz anderen Augen – und die Welt Sie.
Die Denkmalpflege hat schon früh den baukulturellen Wert von historischem Flachglas erkannt, denn «Fenster sind die Augen der Gebäude». Glasproduzentinnen bieten mittlerweile Restaurierungsglas an, das heisst, nach alten Verfahren hergestelltes Flachglas oder Floatglas mit einer entsprechenden «historischen» Oberflächenbeschichtung. Die Herstellung solcher Gläser ist ein Nischenmarkt und im Vergleich zur industriellen Massenproduktion kostspielig. Daher: Sollten Sie in einem Haus wohnen oder arbeiten, das historisches Fensterglas besitzt, dann haben Sie zwar keinen Picasso, aber beherbergen ein wichtiges kulturelles Zeugnis. Schätzen Sie es!

Die Autorin dieses Artikels: Laura Hindelang. © Nicole Benz

Es begann mit einer interdisziplinären Tagung in Romont

Diese vielschichtige Bedeutung von Flachglas wollten wir genauer untersuchen und diskutieren. Ziel der Tagung und der Publikation war es, Forschende aus Theorie und Praxis zusammenzubringen und zudem eine Brücke zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu schlagen. Im November 2021 kamen über 100 Teilnehmende zur Konferenz ins Vitrocentre Romont, um über die Herstellung und Verwendung sowie den Erhalt und das Recycling von Flachglas zu diskutieren. Auf dieser Grundlage entstand die Publikation Glass in Architecture, die dieser Tage erscheint .

Einladung zur Buchvernissage

Über 25 Autorinnen und Autoren haben auf Deutsch, Englisch oder Französisch Aufsätze für den Sammelband geschrieben. Ihre Beiträge befassen sich mit der Herstellung in vorindustriellen Zeiten oder mit der Nutzung und Bedeutung von Flachglas für die Architekturgeschichte, bis hin zu Fragen von Erhalt, Reparatur und Recycling von Fensterglas. Entstanden ist ein mehrsprachiges Nachschlagewerk für Wissenschaftlerinnen, Praktiker und eine interessierte Öffentlichkeit, das im «open access» kostenlos heruntergeladen werden kann.
Für uns als Herausgeberinnen ein voller Erfolg! Mit Glass in Architecture können wir für das faszinierende Kulturgut Flachglas, seine Einzigartigkeit und die Herausforderung seiner Erhaltung sensibilisieren. Wir finden daher, dass die Veröffentlichung und der Abschluss der erfolgreichen vierjährigen Zusammenarbeit zwischen drei Schweizer Institutionen und zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Grund zum Feiern sind.


Am Freitag, 24. Mai 2024 laden wir zur Buchvernissage im Rahmen der Veranstaltungsreihe Freitagsforum Denkmalpflege ein. Im Hauptgebäude der Universität Bern werden drei Fachpersonen kurze Inputvorträge zu Flachglas halten, und dann geht es zur Buchpräsentation mit Apéro über. Sie sind herzlich eingeladen, dabei zu sein!
Sie können sich für die Teilnahme vor Ort oder via Zoom bis 23. Mai 2024 hier anmelden.

 

Über die Publikation

Glass in Architecture

Glass in Architecture from the Pre- to the Post-Industrial Era: Production, Use and Conservation. Herausgegeben von Sophie Wolf, Laura Hindelang, Francine Giese und Anne Krauter. Es erscheint im Mai 2024 in Berlin und Boston im Verlag Walter De Gruyter. Das E-Book kann kostenlos im Open Access heruntergeladen oder als gedrucktes Exemplar bestellt werden.

Mehr Informationen

Über das Freitagsforum Denkmalpflege

Das Freitagsforum Denkmalpflege ist eine Plattform für den regelmässigen Austausch zwischen Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen im Bereich der Architekturgeschichte, Bauforschung, Restaurierung und Denkmalpflege in der Schweiz. 2024 ist das Jahresthema «Einfach Material» mit vier Veranstaltungen zum Thema Putz, Glas, Holz und Kunststoff. Das Freitagsforum Denkmalpflege findet vier- bis sechsmal jährlich an einem Freitagsnachmittag statt und ist kostenlos und öffentlich zugänglich. Die Veranstaltungen werden in der Regel auch online übertragen. Die Abteilung Architekturgeschichte und Denkmalpflege organisiert das Freitagsforum zusammen mit dem Lehrstuhl für Konstruktionserbe und Denkmalpflege der ETH Zürich und in Kooperation mit zahlreichen Fachverbänden.

Zur Autorin

Laura Hindelang

Prof. Dr. Laura Hindelang ist Assistenzprofessorin für Architekturgeschichte und Denkmalpflege am Institut für Kunstgeschichte und leitet die dazugehörige Abteilung und das Studienprogramm Master Kunstgeschichte mit Spezialisierung in Denkmalpflege und Monumentenmanagement. Sie ist Co-Veranstalterin des Freitagsforum Denkmalpflege und Mitherausgeberin von Glass in Architecture from the Pre- to the Post-Industrial Era.

Kontakt: Prof. Dr. Laura Hindelang, laura.hindelang@unibe.ch

uniAKTUELL-Newsletter abonnieren

Entdecken Sie Geschichten rund um die Forschung an der Universität Bern und die Menschen dahinter.

Oben