«Energiewende geht nur mit der Bevölkerung»

Die Energiewende gelingt nur, wenn die lokale Bevölkerung mit einbezogen wird – sei es in der Schweiz oder in Afrika. Dies zeigt Tobias Haller, Sozialanthropologe der Universität Bern anhand von Mega-Infrastrukturprojekten auf der ganzen Welt.

Interview: Martina Huber 19. September 2024

Der Windpark auf der Halbinsel Fosen in Norwegen. Bild: Bettina Wyler
Sie haben einen Sammelband mit herausgegeben mit dem Titel «Entzauberte Modernitäten. Mega-Infrastrukturprojekte, sozio-ökologische Veränderungen und lokale Antworten.» Wie kamen Sie als Sozialwissenschaftler dazu, Mega-Infrastrukturprojekten ein Buch zu widmen?

Tobias Haller: Ich habe während längerer Zeit in Afrika geforscht und war dort mit verschiedenen Kontexten von sogenanntem Land Grabbing konfrontiert: grösseren Investitionen im Agrar- und Umweltschutzbereich, bei denen viel Land quasi entwendet worden ist, häufig ohne Einwilligung der lokalen Bevölkerung. Durch diese Forschung bin ich auch auf Mega-Infrastrukturprojekte aufmerksam geworden, wie zum Beispiel auf die sogenannte «Belt and Road-Initiative» oder «Neue Seidenstrasse»: ein von China initiiertes Projekt, das Asien, Europa und Afrika besser miteinander verbinden soll und in dessen Rahmen zum Beispiel Strassen, Bahnlinien, Brücken und Häfen, aber auch Kraftwerke errichtet werden. Wenn man zu solchen Projekten forscht, merkt man schnell, dass lange nicht alle Personen, die vor Ort leben und denen das Land und die Ressourcen – oft in Kollektiveigentum – gehören, eingewilligt haben. Und dass insbesondere grosse Strassenprojekte auch eine Sogwirkung für weitere Prozesse der Landentnahme haben, weil Regionen plötzlich für weitere Investitionen interessant werden. Deshalb wollten mein Co-Autor Samuel Weissman und ich uns solche Projekte genauer anschauen und vergleichen: Wie gehen Regierungen und Investoren vor, um Mega-Infrastrukturprojekte umzusetzen? Welche Auswirkungen hat das lokal – und wie reagiert die lokale Bevölkerung auf diese Prozesse?

Im Buch werden 16 Fallbeispiele aus allen Teilen der Welt vorgestellt: vom Bau eines riesigen Solarparks in der ägyptischen Wüste über ein Flusskraftwerk in Ecuador bis hin zum grössten Onshore-Windpark Europas in Norwegen ... Warum sind solche Projekte auch für uns in der Schweiz relevant?

Einerseits sollten sie uns interessieren, weil sie meist mit Hilfe ausländischer Investoren umgesetzt werden – oftmals auch mit Geldern aus Europa und der Schweiz, wo sie als «grüne, nachhaltige Investitionen» verkauft werden. Andererseits können wir daraus lernen: Wenn wir die Energiewende wollen, werden wir uns ins eigene Fleisch schneiden, wenn wir das auf gleiche Art und Weise angehen, wie dies derzeit oft global geschieht. Wenn wir also Projekte top-down realisieren wollen, mit Grossinvestorinnen und Grossinvestoren, ohne echte Mitsprache der lokalen Bevölkerung, und mit dem Gedanken «size matters» im Sinne von «je grösser, desto besser». Das wird in der Schweiz nicht funktionieren. Die Bevölkerung hat hier viele demokratische Rechte und das Eigentum ist besser geschützt als im globalen Süden. Hier ist mit massivem Widerstand gegen solche Grossprojekte zu rechnen.

Zur Person

Bild: zvg

Tobias Haller

ist seit 2014 ausserordentlicher Professor am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Er forscht schwerpunktmässig zu nachhaltigem lokalem Ressourcenmanagement, zu Kollektivgütern, zu Land-Grabbing im Zusammenhang mit Naturschutzgebieten und Agrar-Investitionen sowie zu den Umwelt- und Menschenrechtsproblemen, die mit dem Rohstoffabbau in Minen sowie mit dem Abbau von Erdöl verbunden sind.

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Um die sehr unterschiedlichen Projekte miteinander zu vergleichen, nehmen Sie theoretische Konzepte wie die «Verzauberung» und die «Anti-Politik-Maschine» zur Hilfe. Können Sie an einem konkreten Beispiel aufzeigen, was damit gemeint ist?

Nehmen wir das Beispiel des Windparks in Norwegen. Die Verzauberung kam vor allem von Seiten des Staates und der Investoren und lautete wie folgt: «Da gibt es eine Region mit viel Wind, die bisher praktisch nicht genutzt ist. Hier können wir grosse Mengen grüner Energie produzieren und einen Schritt machen in Richtung Energiewende und Ausstieg aus fossiler Energie, einen Schritt in eine nachhaltige Zukunft. Und es ist eine sehr entlegene Region, in der die Bevölkerung fast nichts hat, also ist das Projekt auch für sie von Vorteil, wenn wir Entwicklung dorthin bringen. Es ist eine Win-Win-Situation.»

«Entwicklungsprojekte funktionieren oft wie Maschinen, die dahinterliegende politische und ökonomische Interessen vernebeln.»

Tobias Haller

Und was ist die Anti-Politik-Maschine?

Die Anti-Politik-Maschine ist ein Konzept des US-Amerikanischen Sozialanthropologen James Ferguson. Es besagt, dass sogenannte Entwicklungsprojekte oft wie Maschinen funktionieren, die dahinterliegende politische und ökonomische Interessen sowie asymmetrischen Machtbeziehungen vernebeln oder verdecken. Teil davon ist die Verzauberung: Dass man nur über mögliche Vorteile spricht, über Entwicklung, oder eben darüber, wie viele Gigawattstunden Strom ein angedachter Windpark produzieren und wie viel CO2 man dadurch künftig einsparen wird. Was damit verschleiert wurde: Das Land auf der norwegischen Halbinsel Fosen, auf dem am Ende 80 Windturbinen und 60 Kilometer neuer Strassen errichtet wurden, war nicht ungenutzt und leer!

Rentiere in Norwegen. Bild: Bettina Wyler
Es waren Rentier-Weidegebiete der lokalen Sami-Bevölkerung ...

Genau. Und die indigene Sami-Bevölkerung, für die Rentierzucht wichtiger Teil ihrer Identität ist, hat sich von Anfang an gegen die Errichtung von Windkraftanlagen gewehrt, auch mit rechtlichen Mitteln. Wie die Soziallanthropologin Bettina Wyler in ihrem Text im Buch aufzeigt, haben sie durch den Windpark ein Drittel ihrer Winterweidegebiete verloren. Vor zwei Jahren hat das oberste Gericht Norwegens ihnen Recht gegeben und den Windpark für illegal erklärt, weil er gegen Indigene Rechte verstösst und die Rentierzucht gefährdet. Doch die Windräder drehen bis heute weiter. Diese Gebiete waren zwar nicht ganzjährig genutzt, aber die Rentierzucht ist davon abhängig, dass über den Jahresverlauf unterschiedliche Weiden zur Verfügung stehen. Das ist, wie wenn man hier in der Schweiz ein Maiensäss oder eine Alp komplett blockieren würde. Solche extensiven, teilweise seit Jahrhunderten bestehenden Nutzungen sollten uns auch im Zusammenhang mit der Biodiversität interessieren: Sie haben oft erst die lokal vorherrschende Vielfalt an Tieren und Pflanzen hervorgebracht. Das ist in der Schweiz genauso wie in Norwegen oder auch in Afrika oder Lateinamerika. Auch dieser Aspekt wird meist komplett ausgeblendet, wenn Grossinvestitionen nur als Entwicklungschance für sogenannte Randregionen verkauft werden.

Gibt es auch Fälle, in denen die lokale Bevölkerung zunächst auch «verzaubert» wird durch die Versprechen von Regierungen und Investoren?

In fast allen untersuchten Beispielen ist die Verzauberung sehr schnell der Entzauberung gewichen. In ein paar Fällen, etwa bei grossen Strassenprojekten in Indien, hatten die Menschen anfangs noch das Gefühl, das Projekt werde für sie neue Jobs schaffen und sie würden für Land- und Ressourcenverluste kompensiert. Aber sie merkten schnell, dass diese Versprechen nicht eingelöst wurden und dass das Projekt für sie nur Verlust bedeutet. In vielen Fällen hatten die Leute von Anfang an kein Vertrauen in den Staat und dementsprechend das Gefühl, die Versprechen seien nur Propaganda – und wurden dann in ihren Zweifeln bestätigt.

Fischerboot bei Lamu, Kenia. Bild: Flurina Werthmüller
Wo zum Beispiel?

Sehr deutlich war es etwa beim sogenannten LAPSSET-Korridor in Afrika, über den Flurina Werthmüller geforscht und ein Buchkapitel beigesteuert hat. Neue Ölpipelines, Strassen und Eisenbahnlinien sollen dabei Südsudan und Äthiopien mit der kenianischen Küstenstadt Lamu verbinden, wo wiederum ein gigantischer internationaler Seehafen errichtet wird. Einmal mehr wurde wirtschaftliche Entwicklung versprochen. Aber in Lamu lebten die meisten Leute von der Fischerei, und diese ist mit Errichtung des Hafens eingebrochen. Das ist tragisch, da haben ganz viele Menschen ihre Lebensgrundlage verloren. Sie stehen vor dem Nichts, und die versprochenen Jobs gehen alle an gut ausgebildete Leute aus Nairobi, nicht an lokale Leute, die oftmals nicht die nötige Ausbildung mitbringen. Anstatt wie versprochen die Armut zu reduzieren, hat dieses Projekt die Armut vor Ort noch verstärkt.

Beobachten Sie auch hier in der Schweiz eine «Verzauberung» und eine «Anti-Politik-Maschine»?

Ja, ich denke schon. Es ist eine Art negativer Verzauberung, die mit Druck arbeitet, im Sinne von: «Wir haben ein riesiges Problem. Wegen des Klimawandels müssen wir jetzt sofort die erneuerbaren Energien ausbauen. Und Grossanlagen sind die einzige Lösung, sonst erreichen wir unsere Klimaziele nicht.» Und wenn lokale Kollektiveigentümer- oder Umweltverbände Einsprache gegen einen Solar- oder Windpark einreichen, werden sie als Verhinderer der Energiewende dargestellt.

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Aber es ist tatsächlich eine Herausforderung, von fossilen Energien und Atomenergie wegkommen, wenn wir gleichzeitig mehr Strom brauchen werden, beispielsweise für Elektroautos.

Schon. Aber das ist eben noch kein Argument, um zu sagen: Wir errichten jetzt sofort grosse Anlagen. Vielmehr müsste man breiter mit der Lokalbevölkerung diskutieren: Wo können wir etwas machen? Hättet ihr Ideen, welche erneuerbaren Energien bei euch wo Sinn machen? Wie können wir euch da unterstützen? Das wäre eigentlich sehr schweizerisch und viel nachhaltiger. Und es wäre sicher auch viel schneller umsetzbar als diese riesigen Projekte, die viel Widerstand wecken, die Bevölkerung spalten – und abgesehen davon auch unglaublich viel kosten.

«Wenn die Menschen die Projekte mitentwickeln, haben sie auch das Gefühl: Das ist unsere Energiewende. Und werden sie mit Stolz mittragen.»

Tobias Haller

Wird eine erfolgreiche Energiewende also nicht allein eine Frage der Technik sein?

Nein. Wir sagen nicht, Infrastrukturprojekte sind einfach nur schlecht. Aber wenn lokales Wissen, lokale kollektive Landrechte und lokale Ressourcenkontexte nicht berücksichtigt werden, werden die Projekte nicht akzeptiert. Und man riskiert, die ganzen Investitionen in den Sand zu setzen.

Die vergleichende sozialanthropologische Forschung zeigt: Je dezentraler solche Projekte diskutiert und angepasst werden an lokale Bedingungen, je besser sie eingebunden werden in lokale wirtschaftliche Kontexte, desto besser werden sie von der lokalen Bevölkerung mitgetragen. Und lokal sind durchaus Ideen und Initiativen vorhanden, wie die Nutzung grosser Dachflächen durch Solargenossenschaften oder die Errichtung dezentraler Holzschnitzelheizungen in Wäldern, die in Besitz von Bürgergemeinden und Kooperationen sind. Solche kollektiven Lösungen können im Energiebereich einen wichtigen Beitrag leisten. Die Zeit, die für partizipative Projekte benötigt wird, ist gut investiert. Denn wenn die Menschen die Projekte mitentwickeln, haben sie auch das Gefühl: Das ist unsere Energiewende. Und werden sie mit Stolz mittragen.

Zum Buch «Entzauberte Modernitäten»

Das Buch zeigt anhand von 16 Fallstudien, dass das Versprechen einer nachhaltigen modernen Entwicklung durch Mega-Infrastrukturprojekte viele lokale Nutzer enttäuscht. Das Buch beschreibt die Strategien von Staaten und Unternehmen sowie die lokalen Reaktionen in Asien, Afrika, Amerika und Europa.

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