Hochenergiephysik
Energie ist entscheidend bei der Suche nach neuen Elementarteilchen
Die Hochenergiephysik macht in gigantischen Beschleunigern Jagd auf winzige Elementarteilchen – und liefert dabei wichtige Erkenntnisse für unser Verständnis des Universums. Doch wie funktioniert das, und warum braucht es mehr Kollisionsenergie für neue Erkenntnisse?
Eigentlich ist die Hochenergiephysik die Physik der winzig kleinen Energiemengen. So scheint es zumindest, wenn man die wichtigste Masseinheit für Energie in der Hochenergiephysik, das Elektronvolt, genauer betrachtet. Vergleicht man sie mit einer im Alltag geläufigeren (veralteten) Energieeinheit, der Kalorie, stellt man fest: Eine einzige Kalorie entspricht etwa 26 Trillionen (das ist eine Zahl mit 18 Nullen) Elektronvolt.
Natürlich hinkt dieser Vergleich. Aber er macht eines deutlich: In der Hochenergiephysik geht es um die winzige, die mikroskopische Welt. Dort kann man mit «wenig» Energie – auf einen kleinen Baustein der Materie angewendet – Grosses bewirken. Aber wie genau funktioniert das?
Auf der Spur der Elementarteilchen
Die Hochenergiephysik oder Teilchenphysik beschäftigt sich mit den fundamentalen Bausteinen der Materie und ihren Wechselwirkungen, die den Aufbau unseres Universums bestimmen. Aus diesen kleinsten Bausteinen, den Elementarteilchen, bestehen die Kerne und Elektronen in den Atomen. Atome bilden zusammen Moleküle, die wiederum zusammen Zellen bilden und so weiter.
Das gesamte Wissen über diese Elementarteilchen und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken, ist im so genannten Standardmodell der Teilchenphysik zusammengefasst – der «Weltformel» der kleinsten Bausteine der Materie. Die letzte grosse Aufregung um das Standardmodell gab es 2012, als die Europäische Organisation für Kernforschung CERN in Genf die Entdeckung des Higgs-Bosons bekannt gab. Mit dem sensationellen Nachweis eines neuen Elementarteilchens wurde eine grosse Lücke im Standardmodell der Teilchenphysik geschlossen.
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Doch so zuverlässig und genau das Standardmodell alles beschreibt, was uns umgibt, so klar ist auch, dass es leider unvollständig ist. In der Welt der Teilchenphysik gibt es noch grosse ungeklärte Fragen: Was genau ist die dunkle Materie? Warum haben sich Materie und Antimaterie nach dem Urknall nicht wieder gegenseitig ausgelöscht?
Auf diese Fragen hat das Standardmodell (noch) keine Antwort. Deshalb forscht die Hochenergiephysik unermüdlich weiter und sucht nach neuen Teilchen und Kräften, die Antworten auf diese Fragen liefern könnten. Sie könnten die Lücken des Standardmodells schliessen oder sogar eine ganz neue, bisher unbekannte Art der Physik eröffnen.
Wie geht das mit E=mc2?
Um neue Elementarteilchen zu finden, braucht man zunächst einen Teilchenbeschleuniger. In diesen riesigen Apparaturen, wie zum Beispiel dem Large Hadron Collider (LHC) am CERN, werden bereits bekannte Teilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und in entgegengesetzte Richtungen aufeinander geschossen. Beim Zusammenprall entstehen neue Teilchen, die dann mit Teilchendetektoren nachgewiesen und untersucht werden können. So geschehen bei der Entdeckung des Higgs-Teilchens: Es entsteht bei Teilchenkollisionen im LHC und konnte mit dem sogenannten ATLAS-Teilchendetektor nachgewiesen werden (siehe Box).
Warum aber entstehen bei solchen Kollisionen völlig neue Teilchen? Um das zu verstehen, nehmen wir Einstein und einen weiteren Physiker zu Hilfe. Einsteins berühmte Formel E = mc2 besagt vereinfacht, dass Energie und Masse ineinander umgewandelt werden können. «Genau das geschieht bei einer Kollision im Teilchenbeschleuniger», erklärt Michele Weber, Professor für Teilchenphysik der Universität Bern. Die Elementarteilchen haben im Ruhezustand als Energie nur ihre Masse. «Wenn sie nun sehr stark beschleunigt werden, kommt zu dieser ‘Ruheenergie’ eine enorme Beschleunigungsenergie dazu. Beim Aufprall wird diese schlagartig freigesetzt und es entstehen komplett neue Teilchen, deren Masse von der Menge der freigesetzten Energie abhängt», erklärt Weber.
«Beim Aufprall wird Energie schlagartig freigesetzt und es entstehen neue Teilchen.»
Michele Weber
Um zu verstehen, welch wahnsinnige Beschleunigungsenergie nötig ist, um neue Teilchen zu erzeugen, soll ein Beispiel dienen, bei dem das Elektronvolt wieder zum Einsatz kommt. Ein Proton (ein subatomares Teilchen) hat eine sogenannte Ruheenergie von 938 Millionen Elektronvolt. Im LHC-Beschleuniger am CERN wird jedes Proton auf eine maximale Energie von sieben Billionen Elektronvolt ( 7 Tera-Elektronvolt TeV) beschleunigt. Wer gut in Grössenordnungen rechnen kann, erkennt: Das entspricht dem 7’500-fachen seiner Ruheenergie! Die Kollisionsenergie von zwei Protonen summiert sich dann auf bis zu 14 Billionen Elektronvolt, die in Masse umgerechnet neue Teilchen formen können.
Mehr Energie = neue Teilchen?
Der LHC ist eine «Entdeckungsmaschine», wie Michele Weber sagt. Das bedeutet, dass im LHC aufgrund der technischen Eigenschaften bei einer Kollision verschiedene mögliche Ergebnisse auftreten, die im Detail nicht genau vorherbestimmt werden können. Das ist hilfreich bei der Suche nach neuen Teilchen und hat im Fall des Higgs-Bosons gut funktioniert. Da aber eine grosse Palette an verschiedenen Teilchen entsteht, ist der LHC nicht gut geeignet, um das Higgs-Boson gezielt zu untersuchen. Nach Ansicht vieler Physikerinnen und Physiker bietet aber eine genauere Untersuchung gerade dieses Teilchens die beste Chance, Ungereimtheiten im Standardmodell aufzudecken.
Dass es nach dem Higgs-Boson keine weiteren spektakulären Entdeckungen am LHC gab, liegt auch an der Energie. Mit den 14 Tera-Elektronvolt (TeV) ist das Maximum an Kollisionsenergie, das mit dem LHC technisch zu erreichen ist, ausgeschöpft. Mehr geht nicht. Im LHC können daher keine Teilchen direkt produziert werden, die schwerer sind als die Masse, die bei einer Kollision mit diesen 14 TeV entstehen kann. Da das Standardmodell aber immer noch unvollständig ist, lautet die Schlussfolgerung: Die fehlenden Teilchen müssen entweder sehr schwach mit anderen Teilchen wechselwirken, was eine höhere Empfindlichkeit der Detektoren erfordern würde. Oder sie sind schwerer und daher im höheren Energiebereich zu finden.
Der Future Circular Collider
Um in höhere Energie-Sphären vorzustossen, gibt es bereits eine Machbarkeitsstudie für einen neuen, grösseren Teilchenbeschleuniger. Unter dem Namen «Future Circular Collider» (FCC) möchte das CERN einen Beschleuniger bauen, der den LHC bei weitem in den Schatten stellt. Herzstück des gewaltigen Bauwerks soll ein Ringtunnel mit einem Umfang von 90 Kilometern 200 Meter unter der Erdoberfläche werden. Als Vergleich: Der LHC hat einen Umfang von 27 Kilometern. Der grösste Teil des Tunnels soll unter französischem, der kleinere unter Schweizer Boden verlaufen, und ein Teil sogar unterhalb des Genfer Sees.
Zur Person
Michele Weber
ist ordentlicher Professor für experimentelle Teilchenphysik und Direktor des Laboratoriums für Hochenergiephysik (LHEP). Das LHEP ist eine Abteilung des Physikalischen Instituts und Teil des Albert Einstein Center for Fundamental Physics der Universität Bern.
Im Tunnel würden nacheinander zwei Teilchenbeschleuniger installiert, die mehrere der angesprochenen Probleme lösen. Zuerst ein Beschleuniger, der exakt spezifische Massen produziert. So insbesondere das Higgs Boson und andere leichtere und schwach wechselwirkende Teilchen, die in grosser Anzahl genau studiert werden können. Danach ein Teilchenbeschleuniger als neue Entdeckungsmaschine, die auf der Infrastruktur des ersten aufbaut und eine weit höhere Energie als der LHC bereitstellt. Die Kollisionsenergie würde von den 14 TeV beim LHC auf 100 TeV angehoben, um deutlich schwerere neue Teilchen zu finden. Der Betrieb des ersten Beschleunigers könnte Mitte der 2040er-Jahre aufgenommen werden.
Grundlagenforschung: Investition in die Zukunft
Natürlich gibt es auch Kritik am Projekt. Die hohen Kosten, die auf rund 15 Milliarden Schweizer Franken geschätzt werden, oder der enorme Stromverbrauch sind ein Thema. Lohnt sich diese Investition in Zeiten der Klimakrise? Zweifel gibt es nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter Physikerinnen und Physikern. Denn eine Garantie, dass man mit dem FCC tatsächlich neue Teilchen findet, gibt es nicht.
«Ich halte es für wichtig, dass wir uns in der Grundlagenforschung solchen Fragen stellen», sagt Michele Weber. Er selbst engagiert sich als Mitglied der Dachorganisation der Schweizer Teilchenphysik-Forschenden für den FCC und koordiniert die Interessen der Schweizer Universitäten im Projekt. Man könne die aktuelle Situation in der Teilchenphysik mit Memory spielen vergleichen: «Wir haben vor uns ganz viele Kärtchen und wissen nicht, was wir auf der Rückseite finden. Ich werde das Spiel nie gewinnen, wenn ich die unbekannten Kärtchen nicht aufdecke und dabei auch Paare finde, die nicht zusammengehören. Ist das ein Grund, um aufzuhören?»
Für Michele Weber ist die Antwort klar. Obwohl man es der Teilchenphysik nicht unbedingt zutraue, arbeite sie sehr interdisziplinär: «Für die Machbarkeitsstudie des FCC mussten nicht nur physikalische und technische Fragen geklärt, sondern auch ökologische und soziale Aspekte berücksichtigt werden.» Gerade bei solch schwierigen Forschungsvorhaben brauche es innovative Lösungen und alternative Ideen, um zum Ziel zu kommen. «Wir gehen das Projekt so verantwortungsvoll wie möglich an und glauben, dass es Sinn macht.»
Mit dem Bau des LHC habe sich in der Vergangenheit schon einmal gezeigt, dass der Schlüssel zur Vervollständigung des Standardmodells in der nächsthöheren Energieordnung liegt. «Die Energie ist entscheidend», sagt Michele Weber. Sie bringt uns dem Urknall und der Entstehung des Universums ein bisschen näher.
Hochenergiephysik
Berner Spitzenforschung
In Bern wird Spitzenforschung im Bereich Teilchenphysik betrieben. Die Universität Bern war Gründungsmitglied des ATLAS-Detektors im «Large Hadron Collider» des CERN. Bei der Entdeckung des Higgs-Teilchens im Jahr 2012 leisteten Berner Forschende des Albert Einstein Centers (AEC) und des Laboratoriums für Hochenergiephysik (LHEP) massgebliche Beiträge zur Auswahl der Kollisions-Ereignisse, zu deren Aufzeichnung und Analyse. Die Entdeckung des Higgs-Bosons wurde 2013 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.
Magazin uniFOKUS
«Menschen brauchen Energie»
Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Menschen brauchen Energie»
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