Literaturwissenschaft
Humboldts unveröffentlichtes Buch
Ein von Alexander von Humboldt entworfenes, aber nicht mehr veröffentlichtes Werk wird an der Universität Bern herausgegeben. Es enthält eine wegweisende Studie zu globalen Meeresströmungen, die angesichts des versiegenden Golfstroms aktueller denn je ist.
Wie wäre es, wenn sich Beethovens zehnte Symphonie vollenden liesse? Wenn Stanley Kubricks «Napoleon», der berühmteste nie verwirklichte Film, in die Kinos käme? Wenn ein Gebäude nach nicht ausgeführten Plänen von Le Corbusier errichtet würde? Eine solche Gelegenheit bietet sich, wenn Literaturwissenschaftler der Universität Bern ein unveröffentlichtes Buch Alexander von Humboldts herausgeben.
Detektivarbeit
Gegen Ende seines Lebens fasste Alexander von Humboldt (1769–1859) den Plan, eine Sammlung seiner bedeutendsten Arbeiten in zwei Bänden herauszubringen: Kleinere Schriften. Geognostische und physikalische Erinnerungen. Der erste Band erschien 1853, der zweite blieb unveröffentlicht. In Humboldts Nachlass in Berlin und in Krakau sowie im Archiv des Cotta-Verlags in Marbach sind jedoch Entwürfe erhalten, überarbeitete Handschriften und korrigierte Druckfahnen, zusammen mit Briefen und weiteren Materialien zur geplanten Veröffentlichung. Aus ihnen lässt sich in einer Detektivarbeit, die durch drei Länder führt, das vollständige Werk nach Humboldts Plänen zusammenstellen.
Wir erfassen die Manuskripte und Druckvorlagen mit Humboldts handschriftlichen Korrekturen, um eine textgetreue Lesefassung herzustellen, sie mit Kommentaren und einer Einführung zu versehen und als Buch zu veröffentlichen – mehr als 170 Jahre nachdem es eigentlich hätte erscheinen sollen. Alexander von Humboldt ist der seltene Fall eines Autors, bei dem trotz seiner grossen Bedeutung noch viel zu entdecken ist.
Zur Person
Oliver Lubrich
ist Verfasser der Monographie Humboldt oder Wie das Reisen das Denken verändert (Matthes & Seitz, Berlin 2022).
Ein Schatz im Archiv
Humboldt wählte Aufsätze aus, die ihm besonders am Herzen lagen und von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse waren, zum Beispiel den Bericht seines berühmten Aufstiegs auf den Chimborazo, einen Essay über indigene Mythen auf der Hochebene von Bogotá und eine Studie über die nächtliche Verstärkung des Schalls, die heute als «Humboldt-Effekt» bekannt ist.
Für den zweiten Band hatte er Beiträge über die globale Verteilung der Temperatur, vergleichende Gebirgsforschung und Vulkanismus vorgesehen. Ergänzt wird die Sammlung durch den Bildatlas Umrisse von Vulkanen aus den Cordilleren von Quito und Mexiko (1853). Er enthält zwölf Tafeln, darunter die letzte Zeichnung des Architekten Karl Friedrich Schinkel, eine Darstellung des Andenvulkans El Altar nach einer Skizze von Humboldt.
Im Herbstsemester 2024 findet an der Universität Bern ein Projektseminar statt, in dem Studierende die Möglichkeit erhalten, den Editionsprozess kennen zu lernen und das Material bei einer Exkursion ins Deutsche Literaturarchiv Marbach im Original einzusehen. Humboldts unveröffentlichtes Buch lässt sich dort aus korrigierten Druckfahnen und handschriftlichen Vorlagen rekonstruieren.
Zur Person
Thomas Nehrlich
promovierte mit der Arbeit Alexander von Humboldt Berlin 1830–1835. Eine Publikationsbiographie (Aisthesis, Bielefeld 2021). 2023 gab er Humboldts «Schriften zum Klima» heraus.
Was wusste Humboldt vom Versiegen des Golfstroms?
Im Zentrum des nicht verwirklichten zweiten Bandes steht eine umfassende Studie «Über Meeresströmungen», an der Humboldt jahrzehntelang gearbeitet hatte, ohne sie am Ende in den Druck geben zu können. Dabei handelt es sich um eine Pionierforschung der Meeresökologie. Seit wir wissen, dass der menschengemachte Klimawandel den Golfstrom gefährdet, erhält Humboldts fächerübergreifende Analyse eine unheimliche Bedeutung. Humboldt erforscht den – später nach ihm benannten und von Max Ernst gemalten – pazifischen Strom vor der Westküste Südamerikas im Vergleich mit dem atlantischen Golfstrom, um die Funktion der Meeresströmungen für das Weltklima zu begreifen. Sein Naturverständnis hat Humboldt in drei Worten zusammengefasst: «Alles ist Wechselwirkung.»
Im Austausch mit Naturwissenschaftlerinnen vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven soll Humboldts Studie über Meeresströmungen nun auch ökologisch erschlossen werden. Denn Alexander von Humboldt macht Zusammenhänge deutlich, deren Tragweite wir erst heute erkennen können.