«Eine Gesellschaft lässt sich an ihren Schutzräumen ablesen»

Was haben die Schweizerinnen, Kim Kardashian und Donald Trump gemeinsam? Einen Bunker als Zufluchtsort. Doch taugt der Untergrund wirklich zur Krisenbewältigung? Ein Gespräch mit der Geschichtsprofessorin Silvia Berger über Vergangenheit und Zukunft eines Schweizer Symbolortes.

Heile Welt, gut beschützt: Coverbild der Zeitschrift «Zivilschutz», 1971.
Heile Welt, gut beschützt: Coverbild der Zeitschrift «Zivilschutz», 1971.
Frau Berger, Sie scheinen ein gutes Gespür für die Erschütterungen unserer Zeit zu haben. Sie haben sowohl zur Geschichte von Infektionskrankheiten als auch zur Geschichte der Bunker in der Schweiz geforscht. Worin besteht die Verbindung zwischen Bazillen und Bunkern?

Silvia Berger: Bunker und Bakterien haben, zumindest auf den ersten Blick, eine simple Struktur – beide sind gleichsam Einzeller. Und doch haben sich beide tief ins kollektive Bewusstsein der Menschen eingegraben. Bunker und Bazillen sind mit massiven Ängsten und oft unsichtbaren Bedrohungen verknüpft, die potenziell die ganze Menschheit treffen, wie Pandemien oder ein Atomkrieg.

«Im Bunker sollten fügsame Bürgerinnen und Bürger erzogen und der soziale Wandel gleichsam eingefroren werden.»

Silvia Berger Ziauddin

Beide stellen Fragen nach Tod und Leben sowie der Bewältigung von Ausnahmezuständen durch Staat und Expertise. Sie stellen auch Fragen nach Solidarität, Zusammenhalt und sozialen Unterschieden in Phasen der Erschütterung: Wer hat Platz im Bunker, wer Zugang zu Impfstoffen? Sowohl Bazillen als auch Bunker prägen unsere Vorstellung von Katastrophen. Sie sind nicht so simpel, wie es vordergründig scheint, sondern hinterlassen einen tiefen «Imprint» in unserer Gesellschaft.

Dieser «Imprint» scheint in der Schweiz besonders ausgeprägt zu sein. Fast in keinem anderen Land der Welt gibt es so viele Bunker wie hierzulande, nämlich – Stand heute – rund 370 000. Warum?

Ein Grund war das starke Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs. In der Deutung von Militär und Politik war es dem Wehrwillen der Armee und dem Réduit, der Alpenfestung, zu verdanken, dass die Schweiz nicht von den Nationalsozialisten angegriffen worden war. Als mit dem aufziehenden Ost-West-Konflikt ein mit Atomwaffen geführter totaler Krieg möglich schien, sollte im Zeichen der «totalen Landesverteidigung» auch der Zivilschutz ausgebaut werden. Er wurde auf subterrane Schutzräume ausgerichtet, denen man wie schon dem Alpenréduit einen Abschreckungseffekt zuschrieb. Gleichzeitig wurde der Schutzraum immer mehr zu einem mythisch verklärten Rückzugsort der Schweiz. Der Bunker galt als Réduit des Bürgers, als Widerstandszelle und Überlebensinsel der Familie, die als demokratische Essenz der Schweiz den Atomkrieg überleben sollte.

Der Bunker steht also im Schweizer Selbstverständnis nicht nur für Sicherheit und Schutz?

Nein, tatsächlich repräsentiert er viel mehr. Einerseits steht der Bunker für eine technokratische Expertise, die komplexe Bedrohungen wie Nuklearwaffen scheinbar kalkulier- und beherrschbar macht. Er fungierte zudem als eine Art Staatsterritorium in Miniaturformat. Hier sollten fügsame Bürgerinnen und Bürger erzogen und der soziale Wandel gleichsam eingefroren werden. Besonders deutlich wird das mit Blick auf die bürgerlich-patriarchale Geschlechterordnung. Unterirdische Schutzanlagen werden aber auch zu einer Projektionsfläche für Widerstand, wenn sich ab den 1970er-Jahren Kulturschaffende, junge Linke oder Punks den Bunker aneignen. Eine Gesellschaft lässt sich an ihren Schutzräumen ablesen.

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Wie meinen Sie das?

Auf Zivilschutzmaterialien der 1960er-Jahre finden Sie beispielsweise oft binär aufgebaute Bilder: oben die Katastrophe und die Zerstörung. Unten die geordnete Betonzelle, in der eine Kleinfamilie eingelagert ist, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern: der Bunker im Einfamilienhaus als Kapsel des Überlebens der Schweiz. Der Vater als Familienoberhaupt garantiert den Kontakt zur Aussenwelt; er liest Zeitung oder bedient das Radio. Die Ehefrau sorgt für die Nahrungsversorgung und die Betreuung der Kinder. Die bürgerlich-patriarchale Geschlechterordnung wird so reproduziert. Wie prägend diese Ordnung war, belegen Kinderzeichnungen mit dem Motiv «Kleinfamilie im Bunker».

Der Bunker hatte aber nicht nur eine sinnstiftende Funktion. Schweizer Zivilschutz-Know-how war auch ein Exportgut.

Richtig. Ab den 1970er-Jahren, als der Wohnbauboom einbrach, suchten Schweizer Ingenieur- und Schutzbautechnologiefirmen Absatzmärkte im Ausland. Sie standen dabei im Wettbewerb mit Unternehmen aus Westdeutschland, Schweden oder Finnland. Die Schweizer Beteiligung an Bunkerprojekten im Mittleren Osten, etwa im Irak, haben Medienberichte nach der Jahrtausendwende publik gemacht. In den 1980er-Jahren wurde in der Schweiz erstmals Kritik formuliert. Zivilschutzkritiker argumentierten, Schutz werde nur vorgetäuscht, die Schweiz leiste mit dem Export von Zivilschutz-Know-how einen aktiven Beitrag zum Krieg und fördere das Wettrüsten. Zum genauen Umfang der internationalen Aktivitäten von Schweizer Firmen fehlen bislang historische Studien. Die Schutzfristen der entsprechenden Behördenakten und die geringe Informationsbereitschaft beteiligter Firmen erleichtern diese nicht.

Wird Schweizer Schutzraumtechnologie heute noch exportiert?

Die Angehörigen der weltweit wachsenden Prepper-Bewegung, abgeleitet vom Englischen «to be prepared», bestücken ihre sogenannten Doomsday-Bunker seit einiger Zeit mit Ventilationssystemen Schweizer Bauart. Auch Explosionsschutzventile oder Panzertüren made in Switzerland bauen amerikanische Firmen im Prepper-Segment ein. Die Hardware der Schweizer Schutzbauforschung aus dem Kalten Krieg findet in den neuen kommerzialisierten Sicherheitsräumen des 21. Jahrhunderts ihr globales Fortleben.

Bunker werden auch im Kanton Bern zur Unterbringung von Geflüchteten genutzt. Eignen sich Zivilschutzanlagen nicht nur für den Schutz gegen äussere Gefahren, sondern auch dazu, Teile der Gesellschaft wegzusperren?

Die Praxis, Geflüchtete in Zivilschutzanlagen unterzubringen, begann bereits am Ende des Kalten Krieges. Der Zivilschutz richtete sich neu aus, Umnutzungen nahmen zu. In einzelnen Kantonen wurde die langfristige Unterbringung von Asylsuchenden in Zivilschutzräumen zur geläufigen Praxis. Die Ausstellung «aux abris» in Lausanne hat kürzlich diese Form der Unterbringung kritisch reflektiert. Sie beschrieb die Räume als «Managementeinrichtungen für Unerwünschte». Für die Kuratoren wird hier die Vorstellung einer vertikalen Evakuierung der Schweizer Bevölkerung zu einer «vertikalen Verbannung». Die ARD fragte in einer Dokumentation über Geflüchtete in Schweizer Bunkern, ob so eine Unterkunft wirklich nur eine Notlösung darstelle oder ob sie abschrecken solle. Diese Fragen müssen die Behörden adressieren.

Zur Person

Silvia Berger Ziauddin

ist Professorin für Schweizer und Neueste allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Sie forscht unter anderem zur Geschichte der Schweiz und der Zivilschutzbunker im Kalten Krieg, zur Geschichte der Seuchen sowie zur Geschichte des Untergrunds seit dem 19. Jahrhundert.

Publikation zum Thema:
Berger Ziauddin, Silvia; Grob, Leo: In die Tiefe. Geschichte und Zukünfte der Underground Frontier, Februar 2024.

Kontakt

Gerade Phänomene wie Migration, aber auch das Pandemiegeschehen werden medial oft mit dem Begriff der Welle beschrieben. Der Begriff Erschütterung geht in eine ähnliche Richtung. Er lässt den Eindruck entstehen, unser Boden würde wie bei einem Erdbeben erzittern. Was halten Sie vom Begriff der Erschütterung?

Wenn bei Infektionskrankheiten oder Migrationsbewegungen von Wellen oder Fluten die Rede ist, dann werden diese Phänomene markiert und in das Register bedrohlicher Naturgewalten verschoben. Die Konsequenz scheint klar: Wenn wir uns nicht schützen, reisst uns diese Bedrohung mit, verwischt das Innen und Aussen. Erschütterungen wiederum rufen Bilder seismischer Aktivitäten auf: eine Instabilität des Untergrunds, entstanden ohne unser Zutun. Klimawandel, Biodiversitätsverlust oder COVID sind aber keine externen, der Natur zuschreibbaren Phänomene, sondern genuin mit menschlichem Handeln verknüpft. Deshalb sollten Erschütterungen ebenso wie das Bild der Welle kritisch reflektiert werden. Die Auslöser werden ebenfalls naturalisiert und externalisiert. Mit dem Begriff kann aber auch gemeint sein, dass scheinbar stabile Gewissheiten einer Gesellschaft erschüttert werden, dass ein Fundament metaphorisch ins Wanken gerät und neue Denkmuster entwickelt werden.

Als Antwort auf Herausforderungen wie den Klimawandel scheint auch die Erschliessung des Untergrunds aktueller denn je. Der Untergrund wird als ultimative Ressource des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Was ist damit gemeint?

Dies ist ein Versprechen heutiger Untergrundentwicklerinnen und -entwickler. Demnach sichert der Untergrund unsere Zukunft nicht nur dank mineralischen Rohstoffen, Wasser und Energie. Er soll auch Raum für neue Transport- und Logistikprojekte bereitstellen, für Abfallspeicherung, neue Sicherheits- und Daten-, Arbeits- und Freizeiträume. Städte sollen in die Höhe und gezielt in die Tiefe wachsen. Projekte wie die Lowline in New York versprechen ein begrüntes Zukunftshabitat, wo sich Menschen freiwillig aufhalten, umgeben von Pflanzen und eingespeistem Tageslicht. Es geht um die Schaffung vermeintlich resilienter, nachhaltiger Städte. Der Gang in die Tiefe als easy-fix für oberirdische Problemlagen, die mit Klimakrise, rapider Urbanisierung und Überbevölkerung verknüpft werden.

Das klingt, als wären Sie bei dieser Untergrundeuphorie skeptisch.

Die Frage ist, was ausgeblendet wird. Unklar bleibt, inwiefern die Rede von der Nachhaltigkeit einer ehrlichen Sorge um die Umwelt geschuldet ist. Das Ausweichen nach unten heisst nicht, dass Produktion und Konsum oberhalb gedrosselt würden. Zudem vollzieht sich das subterrane Bauen immer häufiger in Form von Grossprojekten privater Firmen. Arbeitsbedingungen oder Partizipationsrechte am Untergrund werden kaum thematisiert. Diese Privatisierung des Untergrunds erschwert den Weg in eine Zukunft, in der der Untergrund einer Nutzung im öffentlichen Interesse dienen kann.

Magazin uniFOKUS

«Erschütterungen»

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Erschütterungen»

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Sind Untergrund und Bunker die richtigen Orte, um den Erschütterungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen?

Als Historikerin kann ich Orientierungswissen anbieten, aber keine Handlungsanleitungen für die Zukunft. Bei der Erschliessung des Untergrunds bleibe ich zurückhaltend, vor allem was seine Wahrnehmung als Eldorado und seine Ausbeutung betrifft. Die Frage ist nicht nur, auf welche Erschütterungen der Untergrund Antworten bietet, sondern auch: Wer steht für den Schutz des Untergrunds ein?

Der Atomschutzbunker in der Schweiz wiederum ist historisch betrachtet eine Antwort auf eine spezifische Bedrohung: den Atomkrieg. Er wurde nicht als dynamisch wandelbarer Raum konzipiert. Wir leben aktuell im Zeitalter der Polykrisen, in der sich Krisenmomente überlagern und gegenseitig potenzieren können. Laut dem britischen Historiker Adam Tooze benötigen wir dafür eine ständige Bereitschaft zur Veränderung. Ob sich der Atomschutzraum den multiplen Krisen des 21. Jahrhunderts anpassen kann, ist eine offene Frage. Ich stelle das legitime Bedürfnis der Bevölkerung nach Schutz angesichts der aktuellen Kriege keineswegs in Abrede. Ich denke aber, es bräuchte eine Debatte: Vor welchen Gefahren soll und kann der Schweizer Bunker Schutz bieten? Wie bleibt unser Denken offen für Veränderungen, wenn es sich unter gegenwärtigen und zukünftigen Erschütterungen reflexartig auf den Bunker richtet?

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