«Die Schweiz braucht keine Grossbank»

Die Ökonomie könne Bankencrashs und Krisen nicht ­prognostizieren, sagt Wirtschaftsprofessor Aymo Brunetti. Dank ihren Erkenntnissen wüssten wir aber, wie wir die negativen Auswirkungen von Finanzkrisen mildern und die Inflation bekämpfen können.

Tidjane Thiam, der 2020 als Vorsitzender der CS-Geschäftsleitung zurücktrat, kandidiert nächstes Jahr fürs Staatspräsidium der Elfenbeinküste. Erlauben Sie eine ironische Frage: Soll man nun Staatsanleihen der Elfenbeinküste kaufen?

Aymo Brunetti: Ich kann nicht beurteilen, welche Rolle Thiam beim Niedergang der CS gespielt hat. Unabhängig davon kann ich aber sagen, dass die Führung eines Unternehmens etwas völlig anderes ist als eine politische Führungsposition. Die Leute an der Spitze müssen meist keine Details wissen, sondern strategische Entscheide treffen. In der Politik hingegen müssen die Verantwortlichen die Dossiers im Detail kennen, man kann keine einsamen Entscheide fällen und muss sehr viele Stimmen berücksichtigen, um das Machbare zu realisieren. Eine Prognose über die Qualitäten einer allfälligen Präsidentschaft Thiams ist also kaum möglich.

Chefs afrikanischer Staaten betrachten den Staat oft als Selbstbedienungsladen. Thiam hat 2015 bis 2019 bei der CS 62 Millionen Franken Boni bezogen. War das nicht auch eine Art Selbstbedienung?

Das war ja alles legal. Private Unternehmen können so viele Boni zahlen, wie sie wollen. Zum Problem wird es erst, wenn sie staatliche Hilfe zur Absicherung beanspruchen.

«Wenn das Klimaproblem nicht gemildert wird, führt das Wachstum nicht automatisch zu mehr Wohlstand.»

Aymo Brunetti

Bei der Fusion der Grossbanken vor Jahresfrist war staatliche Liquiditätshilfe nötig. Sie sind überzeugt, dass man stattdessen die Too-big-to-fail-Regeln, kurz TBTF-Regeln, hätte anwenden können. Diese sehen vor, das internationale Geschäft Konkurs gehen zu lassen und das Inlandgeschäft zu retten. Warum sollte das praktikabel sein?

Im März 2023 hat man unter Zeitdruck gegen eine Abwicklung entschieden, weil man die Risiken für zu hoch hielt. Das ist aber nicht der Beweis, dass die TBTF-Regeln nicht funktionieren. In verschiedenen Berichten seither wurden zwar Lücken im Abwicklungsregime festgestellt, die Umsetzbarkeit der Regeln aber bestätigt. Für mich ist das der Ansatzpunkt. Eine allfällige Abwicklung der UBS muss ohne staatliche Unterstützung wasserdicht funktionieren. Da die UBS die letzte verbliebene Schweizer Grossbank ist, bliebe bei einem nächsten Mal als einzige Alternative eine Verstaatlichung. Letzteres würde bedeuten, dass der Staat eine dysfunktionale Grossbank übernähme und ein Risiko von Hunderten von Milliarden Franken tragen würde. Das wäre inakzeptabel.

UBS-Chef Sergio Ermotti droht bereits mit einem Wegzug bei schärferer Regulation. Wie ernst ist das zu nehmen?

Das beeindruckt mich nicht besonders. Es wird stets behauptet, wir hätten multinationale Unternehmen, daher brauche es eine global tätige Bank. Das ist ein absurdes Argument. In der Schweiz fahren auch praktisch alle Auto, obwohl wir keine Autos produzieren. Die Schweiz braucht keine Grossbank. Wir müssen bei einem Wegzug der UBS zwar auf rund eine halbe Milliarde Franken Gewinnsteuern pro Jahr verzichten. Dafür hätten wir aber das grosse Risiko nicht mehr am Hals. Die UBS-Bankkunden in der Schweiz würden im Übrigen kaum etwas davon merken, weil das Schweizer Geschäft für die Bank nach wie vor attraktiv bliebe. Trotzdem wäre es natürlich bei Weitem am besten, wenn die UBS in der Schweiz beheimatet bliebe – falls man sie wirklich ohne Staatshilfe abwickeln könnte.

Wo sehen Sie die Lücken im TBTF-Konzept, von denen Sie sprachen?

Es geht primär darum, während einer Abwicklung einen Bankensturm zu verhindern, der die Bank in kürzester Zeit illiquide macht. Heute weiss man, dass es dazu einen sogenannten Public Liquidity Backstop (PLB) braucht, eine staatlich abgesicherte Liquiditätsunterstützung.

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Aber das ist ja dann doch wieder eine Art Staatsgarantie?

Es trifft zu, dass beim PLB in letzter Konsequenz die Steuerzahlenden geradestehen. Dies im wenig wahrscheinlichen Fall, dass die von der Bank hinterlegten Sicherheiten für die Liquidität nicht ausreichen. Der PLB ist letztlich wie eine Versicherung für einen Extremfall. Aber entscheidend ist, dass die UBS für diese Versicherung eine adäquate Prämie bezahlen muss. Im Moment ist von ein paar Millionen Franken die Rede. Meines Erachtens ist das viel zu wenig. Es braucht eine substanzielle, risikogerechte Prämienzahlung jedes Jahr. Wenn dem nicht so ist, haben wir tatsächlich wieder eine Staatsgarantie.

Wie hoch muss denn die Prämie sein?

Ich nenne keine Zahlen. Letztlich ist die Prämie abhängig vom Risikoverhalten der Bank in Bezug auf die Liquidität. Das ist bei jeder anderen Versicherung auch so und setzt die richtigen Anreize.

Niemand hat den CS-Niedergang kommen sehen – wie auch die Finanzkrise 2008. Was taugt die Ökonomie, wenn sie Krisen nicht voraussieht?

Es wäre unrealistisch, von der Ökonomie derartige Prognosen zu erwarten. Die präzise Prognose einer Krise ist unmöglich. Eine Volkswirtschaft ist sehr komplex, und es gibt wenig Daten, die erst noch mit Verzögerung eintreffen. Es ist schon einfacher, das Wetter als die Konjunktur zu prognostizieren. Wir können aus dem Fenster schauen, um festzustellen, wie das Wetter ist. Wie die heutige Wirtschaftslage ist, wissen wir erst in zwei, drei Monaten, wenn entsprechende Daten vorliegen. Noch viel schwieriger ist die Prognose von krisenartigen Einbrüchen.

Was kann denn Ökonomie überhaupt?

Wenn die Krise eintrifft, können wir dank der ökonomischen Analyse aus früheren Krisen wissen, was zu tun ist. So gibt es viele Parallelen zwischen der Finanzkrise 2008 und der Grossen Depression 1929. Ohne die Erkenntnisse für die Wirtschaftspolitik aus der Grossen Depression hätte die Finanzkrise 2008 eine jahrelange Wirtschaftskrise zur Folge gehabt. So wusste man etwa, dass man die Zinsen senken und die Geldmenge ausdehnen muss, um diese Krise zu bekämpfen. Wichtig war auch eine gut ausgebaute Arbeitslosenversicherung. Man hat die Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Insofern ist die Ökonomie wertvoll.

Zur Person

Aymo Brunetti

ist seit 2012 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern. Zuvor hatte er leitende Funktionen im Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) inne. Brunetti berät den Bund gelegentlich weiterhin. So hat er 2009/2010 als Mitglied einer Expertenkommission Lösungsansätze zur Milderung der Too-big-to-fail-Problematik erarbeitet.

Kontakt

Die aktuelle Inflation hat selbst Ökonomen überrascht. Sie haben gesagt, die meisten hätten sie für ein Phänomen der Vergangenheit gehalten. Das spricht nicht für die Ökonomen?

Die letzte grössere Inflation war in den 1970ern, ist also sehr lange her. Jüngere Ökonominnen und Ökonomen hielten sie denn auch kaum mehr für ein Problem. Bei der Bekämpfung ist es wichtig, die damaligen Erfahrungen jetzt zu berücksichtigen. So steigt aktuell der Druck, die Zinsen wieder zu senken. Wenn man dem zu rasch nachgibt, könnte dasselbe wie damals in den USA passieren. Die Inflation stieg derart stark an, dass die US-Zentralbank mit Zinsen von 20 Prozent zum Holzhammer greifen musste. Das hat die Inflation zwar bekämpft, aber eine schwere Rezession ausgelöst.

Zurzeit wächst das Unbehagen gegenüber dem Wirtschaftswachstum. Was sagt der Ökonom dazu?

Praktisch alle Argumente gegen das Wirtschaftswachstum sind einfach zu widerlegen. Ein Beispiel: Wenn ich Ihnen 10 000 Franken anbiete, werden sie diese wahrscheinlich nehmen. Und das gilt für die meisten Menschen. Mehr Wohlstand scheinen alle zu schätzen. Die Menschen sind nun mal, wie sie sind. Es gibt aber ein Problem, welches das Wachstum unbestritten mit sich bringen kann.

Worauf spielen Sie an?

Wenn das Klimaproblem nicht gelöst wird, führt das Wachstum nicht automatisch zu mehr Wohlstand. Im Verkehr zum Beispiel sind die externen Kosten für die Umwelt nicht in den Benzinpreisen berücksichtigt. Wir Ökonominnen und Ökonomen empfehlen mit Nachdruck, dass man die Umweltschäden in den Benzinpreisen berücksichtigt. Darum wäre eine entsprechende Lenkungsabgabe absolut zentral. Letztlich ist der Umweltschutz in der politischen Realität vom Wachstum abhängig. In einer schrumpfenden Wirtschaft wird niemand für Umweltkosten bezahlen wollen.

Wie teuer müsste denn der Liter Benzin sein?

Es ist schwierig, das präzise zu sagen. Eine Verdoppelung hätte aber schon eine riesige Lenkungswirkung.

In Frankreich gab es eine Revolte deswegen.

Die richtige Lenkungsabgabe funktioniert über eine Rückgabe der Mehreinnahmen der Benzinpreiserhöhung pro Kopf an die Bevölkerung. Am besten wäre eine Rückerstattung – sichtbar – per Scheck. Gerade ärmere Familien könnten am stärksten davon profitieren, weil sie oft weniger Benzin verbrauchen. Sie erhielten netto jedes Jahr Tausende von Franken aus den Erträgen der Lenkungsabgabe. Das ist politisch deutlich attraktiver als die blosse Erhöhung des Treibstoffpreises.

Im Moment scheint die Subventionierung alternativer Energien politisch machbarer zu sein. Was halten Sie davon?

Das ist eine deutlich weniger effiziente Lösung. In der Marktwirtschaft wird Knappheit über Preise ausgedrückt, was zu einem effizienten Umgang mit knappen Ressourcen führt. Das ist der Vorteil der Lenkungsabgabe.

In Krisen kommt die Schweiz oft ungeschorener davon als ihre Nachbarstaaten. Was macht die Resilienz der Schweiz aus?

In den 1990er-Jahren war das noch ganz anders: Es gab das EWR-Nein, eine Immobilienkrise und eine Aufwertung des Schweizer Frankens. Das führte zu einem längeren Quasi-Nullwachstum und zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über fünf Prozent. In den letzten 20 Jahren hat sich das geändert. Der Schock der 1990er hat zu wirtschaftspolitischen Reformen beigetragen, die uns resilienter gemacht haben. Die Einführung der Schuldenbremse zum Beispiel war der absolut entscheidende Punkt. Aber auch die bilateralen Verträge mit der EU waren sehr wichtig, um den Marktzutritt zu Europa zu erhalten. Zudem hat die Schweiz heute eine sehr stark diversifizierte Exportwirtschaft. Man denkt immer nur an die Multis. Aber die Schweiz hat in sehr vielen Sektoren relativ kleine Firmen, die Weltmarktführer sind.

Magazin uniFOKUS

«Erschütterungen»

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Erschütterungen»

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Apropos bilaterale Verträge: Welche Rolle spielt die Personenfreizügigkeit für die Resilienz?

Die Personenfreizügigkeit ist ökonomisch eine Erfolgsgeschichte erster Güte. In der Finanzkrise war die Schweiz eines der wenigen Länder, in denen der Konsum und die Bauwirtschaft dank der Nachfrage durch die Migration nicht in eine Rezession gerieten. Früher gab es ein reines Quotensystem. Das hat dazu geführt, dass weniger gut ausgebildete Menschen in die politisch starken, aber ökonomisch schwächeren Branchen wie Landwirtschaft und Bau immigrierten. Seit der Personenfreizügigkeit können die Unternehmen qualifizierte Personen direkt dort anstellen, wo Knappheit ist. Das hat die Resilienz der Schweiz massiv verstärkt.

Und wird von der grössten Partei infrage gestellt.

Natürlich. Das alles ist nicht gottgegeben.

Wie wichtig ist die Tiefsteuerpolitik?

Ein vernünftiges Steuersystem gehört zu den Rahmenbedingungen. Es ist aber nicht der entscheidende Faktor zur Ansiedlung von Unternehmen.

Aber sie bildet doch einen Anreiz: Eine Studie des US-Forschers Gabriel Zucman von der Universität Berkley besagt, dass 40 Prozent der weltweiten Unternehmensprofite in Steueroasen wie die Schweiz verschoben werden.

Mit der OECD-Steuerreform und der entsprechenden Anhebung der Unternehmenssteuern in der Schweiz ist ein solches Argument nun ja hinfällig geworden. Die Schweiz ist ganz sicher nicht primär deshalb erfolgreich, weil sie Steuersubstrat anderer abzieht. Mit der Aufhebung des steuerlichen Bankgeheimnisses für Personen aus dem Ausland erfüllt die Schweiz inzwischen die internationalen Vereinbarungen; das gilt auch für die Geldwäscherei.

Womit der Bogen zu Herrn Thiam geschlagen ist: Er wird allfälliges Vermögen aus der Elfenbeinküste wohl in der Schweiz anlegen.

Ich möchte Herrn Thiam nichts unterstellen. Ich kann mir vorstellen, dass er ein guter Präsident sein wird. Aber ja: Die strikte Umsetzung der internationalen Vorgaben in diesen Bereichen ist sehr wichtig für die Schweiz. Wegen unserer Vergangenheit und unserer Stellung als global erfolgreicher Wirtschaftsstandort werden wir immer im Schaufenster stehen.

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