«Freiheit und Verantwortung bedingen sich»

Die Studierendenzahlen steigen, die finanziellen Mittel werden knapper. Wie die Universität Bern dieser Herausforderung begegnet, die Freiheit der Wissenschaft verteidigt und sich in gesellschaftlich relevante Debatten einbringt, darüber spricht Rektorin Virginia Richter.

Virginia Richter ist Rektorin der Universität Bern.

Die Universitäten geraten unter Druck. Das Bundesamt für Statistik sagt bis zu 18 Prozent mehr Studierende bis 2030 voraus, die finanziellen Mittel werden knapp, und die Wirtschaft sucht händeringend nach Fachkräften. Hat dies Einfluss auf das Studienangebot der Universität Bern? Oder anders gefragt: Wie nimmt die Uni gesellschaftlich relevante Themen in die Ausbildung auf?

Virginia Richter: An Universitäten sind Forschung und Lehre eng verzahnt. Die Wissenschaft ist oft ihrer Zeit voraus – so hat die Klimaforschung schon vor 50 Jahren die heutigen Probleme angemahnt. Solches Wissen aus der aktuellen Forschung fliesst rasch in die Lehre ein. Zudem sind die Forschenden als Bürgerinnen und Bürger auch aktiv in Gremien oder Vereinen. Sie nehmen Entwicklungen in der Gesellschaft wahr und tragen diese in die Universität. In der Klimaforschung etwa gab es eine Verschiebung vom rein naturwissenschaftlichen Zugang zu einer Ergänzung mit Gesellschaftswissenschaften, weil nur so wirksame Lösungen für die Klimakrise entwickelt werden können. Aus solchen Entwicklungen können beispielsweise neue, attraktive Studiengänge entstehen.

Gibt es politischen und gesellschaftlichen Druck auf Lehrgänge und Inhalte, die gelehrt werden dürfen und sollen?

Die Politik greift ja nicht auf Ebene der einzelnen Lehrveranstaltung ein. Die Universität ist aber politisch und finanziell vom Kanton abhängig. Wir erhalten einen Leistungsauftrag, der gemeinsam mit der Regierung entwickelt wird. Ich nehme das als sehr partnerschaftlich wahr. Wir werden als Fachleute akzeptiert, müssen aber die Politik von unseren Anliegen durchaus überzeugen. Die Relevanz gewisser Fächer, die nicht mehr so stark nachgefragt sind, wird ebenso diskutiert wie der Fachkräftemangel in anderen Bereichen – wie dies auch in den Medien und der Gesellschaft geschieht. Die Politik sagt aber nicht, dass wir gewisse Themen nicht unterrichten dürfen. Die Unabhängigkeit der Forschung und Lehre ist in der Verfassung verankert und breit akzeptiert, die Wissenschaft muss sich aber immer bewusst sein, dass diese Unabhängigkeit mit Verantwortung einhergeht.

Sie sprechen die Freiheit von Forschung und Lehre an – was heisst das konkret?

Die Freiheit umfasst in erster Linie die freie Wahl der Themen und wissenschaftlichen Methoden, die in Forschung und Lehre aufgenommen und eingesetzt werden. Aber natürlich ist niemand komplett frei, es gibt Studienpläne, und es gibt je nach Forschungsgebiet passendere Methoden. Es gibt auch kritische Diskussionen unter den Forschenden und Dozierenden an den Instituten.

Wurden Sie persönlich in dieser Freiheit schon einmal eingeschränkt?

Als Professorin habe ich inhaltlich keine Einschränkungen erlebt. Aber es gab intensive Diskussionen über Begrifflichkeiten, Zitate oder heikle Themen. Insbesondere die jüngere Generation reagiert viel sensibler auf die Verwendung gewisser Begriffe. Wie geht man etwa damit um, wenn in älteren Texten von «primitiven Völkern» die Rede ist? Wie überbrückt man die historische Distanz? Löscht man Spuren aus, wenn man gewisse Worte streicht? Wie arbeitet man damit pädagogisch? Das sind engagierte Debatten über Methodik und Inhalt, die sehr wichtig sind, weil sie immer auch verlangen, die eigene Position zu hinterfragen. Kritisches Hinterfragen ist das A und O der wissenschaftlichen Tätigkeit, und das bringen wir auch den Studierenden bei. Aus meiner Sicht sollten wir die Kultur des freien Denkens und des kritischen Hinterfragens überall fördern.

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Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Studieren»

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Sie haben vorher die Verantwortung angesprochen, die mit Freiheit einhergeht. Inwiefern hat dies auch etwas mit dem kritischen Hinterfragen zu tun?

Freiheit und Verantwortung bedingen sich. So gehört zum kritischen Hinterfragen auch die Selbstreflexion dazu. Wenn man sich als Uniangehörige die Freiheit nimmt, kontroverse Dinge zu sagen, muss man auch Verantwortung übernehmen. Wichtig ist mir aber auch, dass wir aktiv den Austausch suchen, dass wir aus dem engen Kreis herausgehen und zum Beispiel auch an Veranstaltungen auftreten, an denen nicht nur eigenes Fachpublikum teilnimmt. Es gibt auch tolle Formate an der Universität Bern, wie die Nacht der Forschung, in denen wir einem breiten Publikum aufzeigen, was wir in der Forschung und Lehre leisten. Aber es ist manchmal nicht leicht, die Grenze zu überwinden. Es kann eine Herausforderung sein, fachspezifische, komplexe Erkenntnisse so zu erklären, dass sie für alle verständlich sind.

Sie haben eingangs erwähnt, dass Uniangehörige auch Bürgerinnen und Bürger sind und sich entsprechend auch in die Gesellschaft einbringen. Was ist mit politisch aktiven Dozierenden, deren Fachgebiet mit den politischen Aktivitäten zusammenhängt?

Wir müssen unterscheiden zwischen der Rolle der Person als Bürgerin oder Bürger und der Rolle als Expertin oder Experte. Als Bürgerin oder Bürger haben Uniangehörige die gleichen Rechte wie alle anderen auch. Und an der Universität ist auch das ganze politische Spektrum vertreten. Was man von Uniangehörigen jedoch erwarten darf, ist, dass sie sich über ihre eigene Positionierung bewusst sind und dass sie entsprechend eine Grenze ziehen zwischen politischer Agitation und einer ausgewogenen, methodengeleiteten Lehre.

Gibt es an der Uni dafür denn Kontrollmechanismen?

Qualitätskontrolle ist wichtig und dafür gibt es zum Beispiel regelmässige Lehrevaluationen oder verschiedene Verfahren der Peer Review, der Begutachtung durch Fachkolleginnen und -kollegen. Aber es gibt keine Form der Gesinnungskontrolle. Es muss innerhalb der Institution und der Fachbereiche angstfrei entschieden werden können, was inhaltlich und methodisch die richtige Wahl ist. Nur so ist eine hochwertige Ausbildung überhaupt möglich.

Virginia Richter

ist seit Juni 2024 Rektorin der Universität Bern. Sie hat an der Universität München in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft doktoriert. Seit 2007 ist sie an der Universität Bern tätig, zunächst als Professorin für Moderne Englische Literatur, später als Institutsdirektorin, als Dekanin der Philosophisch-historischen Fakultät und ab 2021 als Vizerektorin.

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