Keine Sorgen, das mache ich morgen

Wer hin und wieder mal eine Aufgabe herauszögert und stattdessen das hinterletzte Fenster der Wohnung poliert, ist damit in guter Gesellschaft. Prokrastination ist besonders unter Studierenden ein geläufiges, wenn auch leidiges Thema. Besonders leidig vor allem dann, wenn auch der Schlaf dem Aufschieben zum Opfer fällt.

Dieser Artikel erschien zuerst in der bärner studizytig.

16:24 Uhr. Okay, noch 6 Minuten, dann fange ich an. Als ich das nächste Mal wieder auf die Uhr schaue, ist es schon 16:38 Uhr. Blöd, jetzt habe ich 16:30 Uhr verpasst. Dann warte ich halt bis Viertel vor. Aber in sieben Minuten fange ich wirklich an. Also wirklich, das meine ich ernst.

Die Prokrastination ist eine Hassliebe von mir. Ich hasse sie, weil sich jedes Mal das schlechte Gewissen meldet, sobald ich auf die Uhr schaue und mit Schrecken feststellen muss, dass ich die Viertelstunde natürlich wieder verpasst habe. Und gleichzeitig liebe ich sie, denn ich bin schliesslich richtig gut darin. Und wer mag schon die Sachen nicht, in denen mensch erfolgreich ist? Wobei das Hassen bei mir auf jeden Fall überwiegt. Schliesslich hat mir das Aufschieben von dringenden Aufgaben schon öfters schlaflose Nächte und stressige Last-Minute-Aufgaben-Akrobatik beschert. Wenigstens bin ich damit nicht alleine. Das Prokrastinieren ist ein notorisches Problem unter Studierenden. Das nehme ich nicht nur in meinem eigenen Freundeskreis so wahr, sondern bestätigt sich auch auf der wissenschaftlichen Ebene.

 Das Prokrastinieren ist ein notorisches Problem unter Studierenden.

Laut Roger Schweizer von der Beratungsstelle Berner Hochschulen sind Studierende am häufigsten vom Prokrastinieren betroffen. «Studien zeigen, dass ca. 80-95 Prozent der Studierenden gelegentlich aufschieben. Bei den meisten bezieht es sich dann auch konkret auf das Studium.» Sprich, das Schreiben der Seminararbeit oder das Paper, welches bereits seit Wochen gelesen werden sollte. Wohl genau deshalb bietet die Beratungsstelle auch einen Workshop zum Thema Prokrastination an, geführt von Roger Schweizer. Schliesslich treffen sie damit einen wunden Punkt vieler Studierenden. Die Nachfrage danach sei sehr hoch, so Schweizer. «Ich führe den Workshop doppelt im Semester, jeweils mit zehn Teilnehmenden. Er ist aber regelmässig überbucht.» Doch vielleicht muss ich zunächst noch einmal ein paar Kapitel zurückspulen. Was ist denn Prokrastination genau?

Ein Exkurs in die Psychologie

Der Begriff Prokrastination stamme aus dem Lateinischen und bedeute so viel wie «vertagen» oder «aufschieben». Das deckt sich auch mit dem Alltagsverständnis. «Lange Zeit wurde das Aufschieben als Willensschwäche oder Faulheit abgetan», meint Roger Schweizer. «Erst in den 60er Jahren begann die Psychologie, sich damit zu beschäftigen und folgerte, dass es sich vielmehr um ein Problem der Selbststeuerung handelt.» Also wenn euch jemensch das nächste Mal vorwirft, ihr wärt doch einfach nur faul, könnt ihr das ruhig als verfälschtes Alltagswissen abtun. Das Aufschieben der Faulheit zuzuschreiben, ist zu simpel. Die Erklärung setzt laut Schweizer woanders an: «Wir prokrastinieren, wenn wir eine intendierte Handlung, die zwar als notwendig und persönlich wichtig erachtet wird, aufschieben. Das Aufschieben erfolgt nicht aufgrund externer Zwänge und trotz des bestehenden Bewusstseins, dass es negative Konsequenzen haben wird. Es ist somit völlig unnötig und irrational.» Rousseau und Co. würden wohl nur müde den Kopf schütteln, wenn sie von meinem irrationalen Verhalten wüssten. So viel zum gesunden Menschenverstand. Wenn es denn so unnötig und unverständlich ist, warum machen es denn doch so viele? Warum müssen wir Hindernisse bewältigen, die wir allein zu verantworten haben?


Prokrastination hat einen langen Katalog von Ursachen. Einerseits sind es fehlende Strukturen, die das Aufschieben begünstigen. Gerade die Umstellung vom Gymnasium zum Studium und die damit einhergehende Freiheit bezüglich der Arbeitseinteilung kann zum Problem werden. «Man wird nicht mehr von anderen gesteuert, sondern muss das plötzlich selbst machen. Wenn das nicht gelernt wurde, dann wird es schwierig. Oft fehlt es an entwickelten Kompetenzen der Selbststeuerung», so Schweizer. Diese Defizite sind noch längst nicht alles: mangelhaftes Zeitmanagement, geringe Frustrationstoleranz, Perfektionismus, die Gewohnheit, nur unter Druck effizient lernen zu können oder eine unklare Motivation für das Studium seien weitere Verhaltensmuster und Einstellungen, die das Prokrastinieren begünstigen. Kommt euch das eine oder andere bekannt vor? Mir auf jeden Fall. Mit der kleinen Lüge «Ich lerne besser, wenns knapp wird», habe ich mich oft schon selbst erwischt. Was im Gymnasium vielleicht noch funktioniert hat, wird bei einer Semesterprüfung nicht mehr ausreichen. Das brauche ich, glaube ich, nicht zu erklären.

 Mit der kleinen Lüge «Ich lerne besser, wenns knapp wird», habe ich mich oft schon selbst erwischt.

Nicht zu vergessen sind Ursachen, die in anderen psychischen Störungen und Krankheitsbildern ihren Ursprung haben, betont Schweizer: «Personen, die schnell Ängste entwickeln, Neigung zu Depressionen haben oder aufgrund von ADHS sehr ablenkbar sind, sind ebenfalls stärker davon betroffen.» Ob Prokrastination genetisch veranlagt ist, sei noch nicht erforscht. Indirekt bestehe jedoch sicher ein Zusammenhang, zum Beispiel eben mit Depressionen. Wichtig hier noch anzumerken: Prokrastination gilt nicht als Krankheitsbild aus psychologischer Sicht. Dennoch sollte es in schwerwiegenden Fällen nicht unbehandelt bleiben, da das Prokrastinieren dann auch fatale Folgen für das Studium haben kann. Es komme vor, dass Studierende ihr Studium mehrmals verlängern müssen, Studiengebühren ansteigen und ein Abbruch des Studiums folgt, so Roger Schweizer. Da musste auch ich erstmal leer schlucken. Ich würde mein Aufschiebeverhalten schon eher mehr als durchschnittlich einschätzen. Von einem Studienabbruch bin ich aber zum Glück noch weit entfernt.

Im Kopf einer Prokrastinatorin

Wie es dazu erst kommt? Häufiges Prokrastinieren kann einen gefährlichen Teufelskreis auslösen, welcher immer schwieriger zu durchbrechen wird. «Grundsätzlich ist es so, dass die Leute sich beim Prokrastinieren selbst belügen. Sie erfinden Gründe, warum sie die eigentlich wichtige Aufgabe nicht machen und stattdessen etwas anderes.» Zum Beispiel, wenn ich die Küche putze, anstatt mich endlich an diesen Artikel zu setzen. Oder noch zehn Minuten länger auf Instagram herumhänge, anstatt endlich mit dem Lernen zu beginnen. «Man verbindet irgendeine Aversion, Versagensängste, Langeweile oder allgemein ein negatives Gefühl mit der Aufgabe. Dieses Gefühl auszuhalten, ist schwierig und man tendiert dazu, eine alternative, angenehmere Aufgabe zu machen. Wenn dieses kurzfristige, positive Gefühl aber vorbei ist, realisiert man, dass man jetzt noch weniger Zeit für die eigentlich wichtige Aufgabe hat, was wiederum Stress auslöst. Vielleicht verliert man auch das Vertrauen in die eigene Selbststeuerung, auf jeden Fall ist es ein negatives Gefühl, welches zu einer noch grösseren Aversion führt, weshalb man die Aufgabe wieder nicht macht», erklärt mir Roger Schweizer diese Endlosschleife. «Sich von negativen Gefühlen leiten zu lassen, führt nicht zu konstruktiven Lösungen. Treten negative Gefühle situativ wiederholt auf, sollte man dem Auslöser – ein Gedanke, eine Bewertung einer Situation – Beachtung schenken und darüber nachdenken oder mit jemandem darüber offen sprechen.» Sonst wird die Gefahr von wirklich unangenehmen Konsequenzen immer grösser, sowohl weil die Aufgabe nicht erledigt wurde als auch hinsichtlich unserer eigenen Befindlichkeit.

«Beim Prokrastinieren belügen sich die Leute selbst.»

Roger Schweizer

Die Auswirkungen von Prokrastination sind ähnlich vielfältig wie ihre Ursachen: Neben der Bewältigung des Alltags und seiner Aufgaben sind auch die allgemeine Lebensqualität und das Wohlbefinden betroffen, je stärker das Prokrastinationsverhalten ausgeprägt ist. Roger Schweizer verwendet in seinem Workshop eine subjektive Skala von 1-10, die den Schweregrad der Auswirkungen in unterschiedlichen Lebensbereichen misst. «Je nach Stärkegrad und auch nach Dauer des Prokrastinationsverhaltens wird die Methode zur Bearbeitung der Problematik bestimmt. Es macht natürlich einen grossen Unterschied, ob jemand erst seit einem halben Jahr prokrastiniert oder ob jemand bereits in der Primarschule damit begonnen hat.» Ich erkenne mich definitiv in zweitem wieder, denn ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht aktiv prokrastiniert habe. Schon als Kind habe ich lieber mein «Die Wilden Hühner»-Buch zu Ende gelesen, als mein Zimmer aufzuräumen. Oder endlich ins Bett zu gehen. Wo wir beim nächsten Thema wären.

«Revenge Bedtime Procrastination»

Wieder so ein neuer, hyperspezifischer Begriff, über den ich nach stundenlangem Scrollen mal gestolpert bin, mich im Gegensatz zu vielem anderen jedoch nicht mehr richtig losgelassen hat. Schliesslich trifft die Bezeichnung ganz gut auf eine meiner schlechten Angewohnheiten zu. Bei der «Revenge Bedtime Procrastination» werden nicht Aufgaben per se herausgezögert, sondern einfach das ins Bett gehen künstlich nach hinten verschoben, obwohl es dafür eigentlich keinen ersichtlichen Grund gibt. Anstatt also endlich zu schlafen, bin ich am Handy, schaue Netflix oder YouTube, lese in einem Buch. Aber wenn ich ehrlich bin, ist das sehr selten geworden. Als Kind habe ich meine Schlafenszeit fürs Lesen unter der Bettdecke geopfert, jetzt ist es eben das Handy.


Alleine bin ich mit diesem, zugegebenermassen noch irrationalerem, Verhalten jedoch nicht. Gerade Personen mit einer Beschäftigung, die den grössten Teil des Tages einnimmt, versuchen am Abend noch ein paar Stunden Freizeit hineinzuquetschen. Je voller mein Tag ist und je später ich nach Hause komme, desto später gehe ich abends ins Bett. Hört sich unlogisch an, jedoch habe ich mich dabei oft beobachtet. Einfach noch ein paar Stunden für mich haben, koste es, was es wolle. Selbst der Schlaf ist dann zweitranging. Ich räche mich an dem vollen Zeitplan und klaue mir ein wenig Zeit zurück: deshalb auch «Revenge Bedtime Procrastination».

 Ich räche mich an dem vollen Zeitplan und klaue mir ein wenig Zeit zurück.


Aber ist das denn jetzt wirklich Prokrastination oder etwas völlig anderes? Roger Schweizer schmunzelt, als ich ihn mit dem Begriff konfrontiere. «Begriffsschöpfungen sind ja immanent in unserer Gesellschaft. Ich habe davon jetzt zum ersten Mal gehört, aber der Prokrastination würde ich es nicht zuordnen. Die klassische Definition bezieht sich ja auf eine intendierte Handlung, die eine wichtige persönliche Bedeutung hat und trotzdem aufgeschoben wird. Schlaf aber ist wie Essen und Trinken ein Grundbedürfnis, keine intendierte Handlung. Deshalb würde ich das abgrenzen.» Ein Grundbedürfnis aufzuschieben sei eigentlich noch viel schlimmer, schliesslich sollte das oberste Priorität haben. «Der Tag hat nunmal nur 24 Stunden und das muss lebbar sein.»

Aus der Trickkiste der bärner studizytig-Redaktion

  •  Als Wachrüttler: Mach den Selbsttest der Prokrastinationsambulanz der Uni Münster. Dieser sagt dir, wie dein Prokrastinationsverhalten im Verhältnis zu anderen Studierenden steht.
  • Mach den Flugmodus im Handy rein und geh morgens nicht direkt ans Handy.
  • Die App Forest! Gut für dich und für den Planeten.
  • Romantisiere deinen Lernplatz und deine Lernroutine! (Eine gute Lernplaylist hilft bei mir Wunder.)
  • Mach dir einen Wochenplan. Klingt lästig (ist es anfangs auch), aber einmal ausgeschrieben, wirkt die Workload gleich ein wenig machbarer
  • Geh in die Bibliothek zum Lernen (oder für alles andere, wofür du produktiv sein musst). Ist offensichtlich, aber wirksam, weil alle anderen um dich auch arbeiten (und zumindest ich werde ungerne beim Prokrastinieren erwischt).
  • Sei nicht zu hart zu dir selbst und gönn dir was, wenn du etwas geschafft hast (mein Favorit: ins Kino gehen nach einem langen Lerntag).
  • Weitere Tipps findest du auf der Homepage der Beratungsstelle Berner Hochschulen.

Über die bärner studizytig

Die bärner studizytig wird vom Studentischen Presseverein an der Universität Bern herausgegeben. Sie erscheint viermal jährlich und wird an alle Studierenden der Universität Bern und der Pädagogischen Hochschule Bern verschickt.

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