Was ist Lebensenergie?

Ist es eine spirituelle Kraft? Gott? Resonanz? Funktionierende Neuronen im Gehirn? Motivation? Eine Theologin, ein Psychotherapeut, eine Neurowissenschaftlerin und ein Religionswissenschaftler beleuchten den Begriff «Lebensenergie» aus unterschiedlichen Perspektiven.

Text: Barbara Spycher 21. Juni 2024

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Prana. Qi. Ki. Lung. Das alles sind Bezeichnungen für Lebensenergie – aus der indischen, japanischen, chinesischen und tibetischen Tradition. Hierzulande begegnen wir dem Prana im Yoga und dem Qi in der traditionellen chinesischen Medizin. Laut diesen Traditionen fliesst die Lebensenergie in Bahnen durch den Körper und kann gesteuert und kultiviert werden, damit es dem Menschen gut geht. Das kann etwa durch Ernährung (Ayurveda), Körper- und Bewusstseinspraktiken (Yoga, Qigong) oder Heilmethoden (Akupunktur) geschehen.

Spirituelles aus Ostasien

Doch während die Vorstellung dieser umfassenden Lebensenergie, die eine spirituelle Kraft einschliesst, in Ostasien allgegenwärtig und konkret ist, ist dieser Begriff bei uns weniger präsent und nicht klar umrissen, schon gar nicht in der Wissenschaft. Das war nicht immer so, weiss Religionswissenschaftler Jens Schlieter: «Im 19. Jahrhundert gab es in Europa eine auch von zahlreichen Biologen und Medizinern vertretene Vorstellung einer Lebensenergie, die alles Organische durchdringt und dafür verantwortlich ist, dass der Mensch am Leben bleibt.» Dahinter steckte die platonische Vorstellung einer Gesamtseele der Erde. Doch im 20. Jahrhundert setzte sich dann der biomedizinische Begriff des Körpers durch, der vom Funktionieren sämtlicher lebenserhaltender Organe spricht und – anders als der Vitalismus im 19. Jahrhundert – nicht davon ausgeht, dass es eine eigenständige Lebensenergie gibt.

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Lebensenergie in alternativ-spirituellen Kreisen

Dennoch, sagt Jens Schlieter, hat die ostasiatische Vorstellung von Lebensenergie auch in unseren Lebenswelten Eingang gefunden: in und über alternativ-spirituelle Kreise. «In der zeitgenössischen alternativ-spirituellen Szene werden viele Phänomene mit Lebenskraft oder Lebensenergie erklärt, von Schlaflosigkeit über andere körperliche und psychische Beschwerden bis hin zu Konflikten, die man nicht in den Griff bekommt.» Das sei sehr ähnlich wie in der klassischen tibetischen oder chinesischen Medizin, welche die Ursache von psychischen und physischen Problemen in einem energetischen Ungleichgewicht sähen, so Schlieter.

Zur Person

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Jens Schlieter

ist ausserordentlicher Professor für systematische Religionswissenschaft und geschäftsführender Direktor am Institut für Religionswissenschaft. Er forscht unter anderem zum indotibetischen Buddhismus, zu spirituellen Praktiken im Westen und zur Schnittstelle von Religion und Philosophie.
Kontakt: Prof. Dr. Jens Schlieter, jens.schlieter@unibe.ch

Spannend findet er, dass sich in der spirituell-alternativen Szene hierzulande ganz Neues entwickle. «Es gibt ein grosses Interesse an transformierenden Erfahrungen, etwa mittels Meditation oder Schwitzhüttenzeremonien, die den Blick auf die Welt und sich selbst verändern können.» Daraus entstünden auch neue therapeutische Praktiken für die Mehrheitsgesellschaft, beispielsweise Ernährungsformen, die ayurvedische und chinesische Sichtweisen über energetische Lebensmittel mit westlichen Vorstellungen kombinieren.

Psychedelische Substanzen

Auch psychedelische Substanzen zur Bewusstseinserweiterung seien zuerst in alternativen Kreisen ausprobiert worden und mittlerweile in Psychiatriepraxen angekommen, sagt Schlieter. In der sogenannten psycholytischen Therapie mit LSD oder Psilocybin sollen ebenfalls Blockaden und innere Konflikte gelöst werden.

Theologische Perspektiven

Eine wichtige Rolle spielt das Konzept der Lebensenergie hierzulande auch in der Theologie – wenn auch mit anderen Bildern und Begrifflichkeiten als in Ostasien. Im Alten Testament sei das hebräische Wort «Nefesch» zu finden, weiss Theologin Evelyn Krimmer. Es stehe für den Menschen als Ganzes, unter dem spezifischen Aspekt des Lebenswillens, sowie für den Hals des Menschen, symbolisch das Verlangen nach Wasser und Atem.

Zur Person

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Evelyn Krimmer

ist Dozentin für Religionspädagogik am Institut für Praktische Theologie und Hauptexpertin für das Fach Religionslehre des Kantons Bern. Sie forscht unter anderem zum Schülerbild der Religionspädagogik und zur Theorie religiöser Sozialisation, Bildung und Toleranzerziehung im Pluralismus.
Kontakt: PD Dr. Evelyn Krimmer, evelyn.krimmer@unibe.ch

Martin Luther hat «Nefesch» etwas verkürzt mit «Seele» übersetzt. «Wenn wir hinter den Begriff schauen, geht es um die zentrale Frage, was den Menschen lebendig macht», sagt Evelyn Krimmer. Die Antwort der Theologie: Der Mensch empfängt die Lebensenergie vom Schöpfer. «Lebensenergie ist unverfügbar, wie wir Theologinnen sagen; das heisst, sie wird von aussen zugesprochen und hat Geschenkcharakter», so Krimmer. Das ist eine komplett andere Perspektive als die gängige Sicht in unserer selbstoptimierten Gesellschaft.

Wenn Resonanz geschieht, dann ist das wie ein Energiebooster, dann gelingt das Leben.

Dennoch hat auch die Praktische Theologie eine Vorstellung davon, wie Menschen zu Energie kommen können. Sie basiert auf der Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa, laut dem Resonanz etwas ist, wonach sich Menschen im Innersten sehnen. Solche Resonanzbeziehungen können sich zwischen Menschen ereignen – sei das mit Freunden, Nachbarinnen oder in der Seelsorge – oder in Verbundenheit mit erfüllenden Tätigkeiten sowie dann, wenn Menschen mit etwas in Berührung kommen, das grösser ist als sie selbst, zum Beispiel mit religiösen Erfahrungen, Kunst oder Natur.

Wenn Resonanz geschieht, dann ist das wie ein Energiebooster, dann gelingt das Leben. Doch auch hier gilt: In einem Gespräch mit einem Menschen kann Resonanz entstehen, aber es ist nicht garantiert. Theologin Krimmer sagt es so: «Resonanz ist etwas Punktuelles, das man nicht willentlich oder planmässig erzeugen kann.» Und: Gerade auch die Resonanzbeziehung mit Gott oder der Natur, die über uns hinausweisen, führe uns unsere Begrenztheit vor Augen. «Die Akzeptanz meiner eigenen, begrenzten Möglichkeiten kann entlastend wirken und vom Denken befreien, alles können und alles machen zu müssen», sagt die Theologin. «Darin steckt viel Kraft.»

Neurowissenschaftliche Perspektiven

Dem stimmt auch die Neurowissenschaftlerin Barbara Studer zu und ergänzt: «Lebensenergie hat viel mit Hoffnung und einem achtsamen Umgang mit den eigenen Ressourcen zu tun.» Dabei sei wichtig, sich bewusst zu machen, dass nicht alle die gleichen Voraussetzungen für diese Art von Energie hätten. Doch sie sagt auch: «Wir haben vieles selbst in der Hand. Es gibt Energiebooster oder Energiehemmer, die bei allen wirken.» Beispielsweise kaltes Duschen: Das lässt das Dopamin um mehr als das Doppelte ansteigen – und ist auch nach sechs Stunden noch nachweisbar. Vereinfacht gesagt: Mit so viel Glückshormonen fühlen wir uns energiegeladener.

Natur als Energiebooster

Auch die Natur ist ein Energiebooster: Schon nach zehn Minuten im Wald ist im Blut ein signifikanter Rückgang des Stresshormons Cortisol messbar. Übersetzt: Weniger Belastung, mehr Lebensenergie. Wenn wir hingegen zu viele negative News lesen, raubt uns das Energie. Denn das Angstzentrum im Gehirn – die auch Mandelkern genannte Amygdala – wird aktiviert und braucht Ressourcen, die dann anderen Hirnstrukturen fehlen, zudem werden Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet.

All das ist im Blut oder Hirnscan nachweisbar. Ziel sei eine gute Mischung stärkender Hormone im Gehirn, damit die Neuronen bestmöglich arbeiten können, erklärt Neurowissenschaftlerin Studer. «Dann haben wir mehr emotionale und mentale Ressourcen.» Im Volksmund würde man sagen: Wir haben mehr Energie.

 

Zur Person

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Barbara Studer

ist Lehrbeauftragte am Institut für Psychologie, Abteilung für Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin. Gründerin und CEO von www.hirncoach.ch, einem Spin-off der Universität Bern. Sie forscht unter anderem zu kognitivem und multimodalem Training, Selbstregulation und Kreativitätsförderung.
Kontakt: Dr. Barbara Studer, barbara.studer-luethi@unibe.ch

Tanzen, singen, jubeln fürs Gehirn

Insgesamt untermauert die Neurowissenschaft, was wir alle im Alltag spüren, wenn wir auf unseren Energiehaushalt achten. «Der grösste Trugschluss», betont Studer, «sind die schnellen Energiekicks.» Kaffee, Zucker, Social Media, Gamen. 
Was kurzfristig Dopamin freisetzt, hemmt danach die Dopaminproduktion, sodass wir immer mehr Kicks brauchen. Langfristig führt es zu Abhängigkeit, Erschöpfung, Unzufriedenheit.

«Der grösste Trugschluss sind die schnellen Energiekicks: Kaffee, Zucker, Social Media.»

Barbara Studer, Neurowissenschaftlerin

Wenn wir uns energielos fühlen, wäre es deshalb sinnvoller, auf den Balkon zu gehen und ein Lied zu singen. «Musik ‹massiert› das Hirn auch im emotionalen Zentrum, im limbischen System», erklärt Studer. «Das schaffen nur wenige Aktivitäten.» So würden Belohnungshormone aktiviert, die Hoffnung und Energie spenden. Eindrücklich sei auch der Einfluss unserer Körperhaltung und Atmung: «Wenn wir bewusst atmen und eine stolze Haltung einnehmen, senden wir dem Gehirn ein Signal des Mutes und der Zuversicht.» Das Gegenteil werde bewirkt, wenn wir eingeknickt sitzen und nach unten schauen. «Ich liebe diese simplen Kniffe, die wir ganz einfach in unseren Alltag integrieren können», sagt Studer.

Psychotherapeutische Ansätze

Eine zusätzliche Ebene und einen neuen Begriff bringt der Psychologe Martin grosse Holtforth ins Spiel: Motivation. «Diese spielt in der Psychotherapie eine zentrale Rolle.» Man könne sie auch mit «Energie» umschreiben im Sinne von: das, was mich antreibt. Laut Viktor Frankl, Überlebendem von vier Konzentrationslagern im Zweiten Weltkrieg und Begründer der Existenzialpsychologie, kann der Mensch fast alles ertragen, wenn er ein «Wozu» hat. Die Forschung habe auch gezeigt, dass spirituelle und religiöse Menschen beispielsweise Folter eher besser bewältigen können, weiss grosse Holtforth.

In der Psychotherapie ist es allerdings wichtig, zu differenzieren, ob Patientinnen und Patienten von Vermeidungs- oder Annäherungsmotiven angetrieben sind: «Sowohl das Vermeiden von etwas wie emotionalem Schmerz oder Verletzungen als auch das Anstreben von beispielsweise Liebe oder Kontrolle kann viel Energie freisetzen.» Das, was laut der Psychologie alle Menschen antreibt, ist die Erfüllung unserer physiologischen und psychologischen Grundbedürfnisse, darunter Bindung, Orientierung und Kontrolle, Lust und Selbstwert. Unerfüllte Grundbedürfnisse sind der Boden, auf dem sich psychische Störungen entwickeln können.

Zur Person

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Martin grosse Holtforth

ist assoziierter Professor und Dozent am Institut für Psychologie, Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Forschungsleiter am Psychosomatischen Kompetenzzentrum des Inselspitals sowie Psychotherapeut und Supervisor. Er forscht unter anderem zu Prozess und Ergebnis der Psychotherapie sowie zur stationären Behandlung von Schmerzstörungen.
Kontakt: Prof. Dr. Martin grosse Holtforth, martin.grosse@unibe.ch

Motive klären, Ressourcen aktivieren

In der psychotherapeutischen Praxis versucht Martin grosse Holtforth herauszuschälen, welche Bedürfnisse einem unerwünschten Verhalten zugrunde liegen und wie stark Annäherungs- beziehungsweise Vermeidungsmotive wirken. «Sich der eigenen Motive bewusst zu werden, kann sehr hilfreich sein.» In einem nächsten Schritt gehe es darum, brachliegende Ressourcen zu aktivieren oder neue aufzubauen. Das könne genauso das Trainieren von sozialen Kompetenzen sein wie das Einbeziehen von Freunden, die bei einem bestimmten Vorhaben unterstützen können.

«Die Psychotherapie soll die Menschen dabei unterstützen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sie unglücklich machen, und immer bessere Möglichkeiten zu finden, glücklicher zu werden», bricht es grosse Holtforth herunter. Oder in anderen Worten: «Wenn es vieles gibt, was ich attraktiv finde und erreichen möchte, und weniges, was im Weg steht, dann habe ich mehr Energie.» Und so schlägt der Psychologe den Bogen zurück zur Lebensenergie.

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«Menschen brauchen Energie»

Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Menschen brauchen Energie»

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