Lobbyierende Kantone
«Es ist ein Privileg, relevante Fragen zu erforschen»
Im Mai erscheint die Monografie «Lobbyierende Kantone» von Rahel Freiburghaus. Die 29-jährige Politikwissenschaftlerin und Co-Autorin der Tamedia-Politkolumne ist überzeugt, dass politikwissenschaftliche Forschung nötiger ist, denn je.
Wieso sind Sie Politikwissenschaftlerin und nicht Politikerin?Ich glaube, ich wäre keine gute Politikerin. Mit den Zwängen des polarisierten Parteienwettbewerbs kann ich mich nicht identifizieren. Vielmehr liegt mir die Rolle als Beobachterin. Politik ist allgegenwärtig. Alles, was uns im öffentlichen Leben an Regelwerken begegnet, musste politisch ausgefochten werden.
Jedoch war es keineswegs ein erklärtes Berufsziel von mir, Politologin zu werden. Zuallererst wollte ich Medizin studieren, dann schrieb ich mich aber für Geschichte ein. Als mir noch ein Nebenfach fehlte, liess ich mir von meinem Geschichtslehrer am Gymnasium raten, Politikwissenschaften zu belegen – eine mir damals nicht einmal bekannte Disziplin. «Das passt doch zu Ihnen, Sie lesen ja Zeitung», meinte er. Dass ich ihm vertraut habe, hat sich ausgezahlt. Ich könnte mir heute schlicht nichts Spannenderes vorstellen.
Zur Person
Rahel Freiburghaus arbeitet als Early PostDoc an der Professur für Schweizer Politik am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern. In ihrer Forschung und Lehre beschäftigt sie sich mit Schweizer und vergleichender Politik, insbesondere politischen Institutionen. Gemeinsam mit Prof. Adrian Vatter verfasst sie die «Politkolumne» für die Tamedia-Zeitungen.
Der «Kantönligeist» mutet vielen etwas verstaubt an; gerade in meiner Generation. Doch: Als grosser Fussball-Fan weiss ich nur zu gut, was für starke Emotionen unsere kantonale Identität noch immer auslöst. Dem wollte ich auf den Grund gehen. Bereits während meines Bachelorstudiums in Geschichte wurde mir das grosse Glück zuteil, als Hilfsassistentin von Adrian Vatter arbeiten zu dürfen. Dabei durfte ich ihn auch bei seiner Forschung für sein 2018 erschienenes Buch «Swiss Federalism» unterstützen. Seine Befunde, wie sich die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantone wandelte, liessen mich nicht mehr los. So widmete ich meine Masterarbeit dem Föderalismus und bemerkte dabei erst recht: Über die Mitwirkung der Kantone in der Bundespolitik aka Kantonslobbying ist praktisch nichts bekannt.
«Lobbying» ist für mein Sprachgefühl eher negativ konnotiert. Wie geht es Ihnen damit?Der Begriff «Lobbying» hat hierzulande tatsächlich einen fahlen Beigeschmack. Er klingt nach Intransparenz, nach etwas Anrüchigem – vielleicht sogar Verbotenem. Interessant ist jedoch, dass «Lobbying» in der Politikwissenschaft wertfrei verwendet wird: als Versuch, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Dieses nüchtern-beschreibende Begriffsverständnis bildet den Ausgangspunkt meines Buchs. In dieser Lesart lassen sich die Kantone sehr wohl als Lobbyisten analysieren – als Interessengruppen, die sich Gehör verschaffen, und zwar so, wie es in einer pluralistischen Demokratie alle anderen ebenso tun.
Über das Buch
Freiburghaus, Rahel (2024). Lobbyierende Kantone. Subnationale Interessenvertretung im Schweizer Föderalismus. Baden-Baden: Nomos. Erscheint demnächst (im Mai 2024)
Unser 1848 gegründeter Bundesstaat entstand nach einem Bürgerkrieg, dem Sonderbundskrieg. Um den unterlegenen katholisch-konservativen Verliererkantonen entgegenzukommen, brauchte es einen Kompromiss. Deren Mitwirkung im neuen Bund musste sichergestellt werden. Inspiration fanden die Verfassungsväter im US-amerikanischen Zweikammersystem. Jeder Kanton sollte in einer «Kantonskammer» zwei Sitze erhalten – und zwar unabhängig von seiner Grösse.
«Dass heute das Volk die Ständerätinnen und Ständeräte wählt, hat die Mitsprache der Kantone geschwächt»
Im frühen Bundesstaat waren es zunächst die kantonalen Behörden selbst, die «ihre» Ständeratsvertretung bestimmten. Ab den 1870er Jahren gingen die Kantone jedoch nach und nach zur Volkswahl über. Dass heute das Volk die Ständerätinnen und Ständeräte wählt, hat die Demokratie zwar gestärkt; die Mitsprache der Kantone aber geschwächt.Heute fehlt es den Kantonsregierungen weitestgehend an verfassungsrechtlich gesicherten Einflusskanälen.
Genau. Es stellt sich den Kantonen die Frage: Wie kann ich als Kanton meine spezifischen Interessen vertreten, etwa als Gebirgskanton oder finanzstarker Life Sciences-Standort? Hierfür entdeckten die Kantone für sich exakt dieselben Lobbying-Taktiken, wie wir es etwa von Wirtschaftsverbänden, Interessengruppen oder NGOs kennen – mit dem zentralen Unterschied, dass die bundespolitische Mitwirkung der Kantone an der Willensbildung in Artikel 45 der Bundesverfassung ausdrücklich vorgesehen ist.
Heute mandatieren einige Kantone professionelle Lobbyisten, die in der Wandelhalle weibeln. Andere Regierungsräte rufen die Bundesrätin lieber höchstpersönlich an und/oder wenden sich mit einem E-Mail an das sachverständige Bundesamt. Und wieder andere Kantonsregierungen spielen den Medien ihre Anliegen zu in der Hoffnung, so Aufmerksamkeit für die regionalen Problemlagen zu erzielen, beispielsweise für die zu geringen ÖV-Kapazitäten oder wiederkehrende Schafsrisse durch Wölfe. Das und vieles mehr ist gelebte kantonale Mitwirkung oder eben Lobbying.
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Im ersten empirischen Teil mache ich eine Art Bestandesaufnahme. In meiner umfangreichen Erhebung habe ich alle 26 Kantone dazu befragt, wie oft und wie erfolgreich sie auf welche Lobbying-Taktiken zurückgreifen. Dabei vergleiche ich insgesamt rund 60 verschiedenen Taktiken. Wie meine Befunde zeigen, gibt es drei verschiedene Typen lobbyierender Kantone: die Taktierer, die Diskreten und die Maximierer. Im zweiten Teil erkläre ich, wann und unter welchen Bedingungen es einem Kanton gelingt, seine Interessen durchzusetzen.
Was sind denn die Erfolgsfaktoren beim Kantonslobbying?Es gewinnt ja sowieso stets der grösste, wirtschaftsstärkste Kanton, mag man denken. Doch meine Analysen haben ergeben, dass weder Grösse noch Finanzkraft allein entscheidend sind, sondern die Taktik. Wird die Kantonsregierung aus eigener Initiative aktiv, schliesst geschickte Allianzen und zeigt sich gegenüber dem Bund lösungsorientiert, so hat sie Erfolg. Je früher ein Kanton interveniert, desto besser. Das Tessin nennt seine «botschaftsähnliche» Vertretung in Bern deshalb «antenna amministrativa»: Eine Antenne, die in die Bundesverwaltung reicht und sofort registriert, wenn sich etwas regt – lange bevor sich das von der Parteipolitik beherrschte Bundesparlament über ein Gesetz beugt.
«Meine Analysen haben ergeben, dass weder Grösse noch Finanzkraft eines Kantons allein entscheidend sind, sondern die Taktik.»
Oft ist von der Intransparenz des Lobbyings von Wirtschaftsverbänden oder Interessengruppen die Rede. Doch bei den herkömmlichen Interessenvertreterinnen und Interessenvertretern, die ihren «Badge» für die Wandelhalle von National- und Ständeratsmitgliedern erhalten, wissen wir immerhin Bescheid. Jene Interessenbindungen werden auf der Website des Parlaments feinsäuberlich ausgewiesen; sie sind jederzeit öffentlich einsehbar.
Ganz anders bei den Kantonen. Dort ist diese Transparenz nicht gegeben. Wer für die Kantone lobbyiert, wird nicht offengelegt. Ganz generell geschieht Kantonslobbying im Informellen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das schafft Ungleichheiten – so etwa dann, wenn eine Region vom Bund einseitig bevorteilt wird, eine andere aber abgehängt wie die Romandie beim Bahnausbau.
Um dieses ungezähmte Kantonslobbying in geordnete Bahnen zu lenken, schlage ich ein ebenenübergreifendes Führungsorgan vor: Ein Ausschuss von Bunderätinnen und Bundesräten sowie ausgewählten Mitgliedern von Kantonsregierungen soll gemeinsam Gesetze vorbereiten. Das würde den frühzeitigen, sachgerechten und chancengleichen Einbezug der Kantone sicherstellen. Ein solches Gremium ist etwa bei der Steuerung der Digitalisierung durch die «Digitale Verwaltung Schweiz» oder dem «Sicherheitsverbund Schweiz» heute längst schon Realität.
Nun kommen wir zu Ihrem wissenschaftlichen Werdegang, der senkrecht wirkt. Wie entstand diese Geradlinigkeit?Ich stamme aus einer Bauernfamilie, wo mir hartes Arbeiten, Fleiss, Demut und Hingabe stets eindrücklich vorgelebt werden. Dabei durfte und darf ich immer auf grösstmögliche Unterstützung meiner Eltern sowie meines privaten Umfeldes zählen. In beruflicher Hinsicht bietet mir Professor Adrian Vatter am Institut für Politikwissenschaft seit nunmehr bald zehn Jahren die bestmögliche Förderung und alle Entwicklungsperspektiven, die eine Nachwuchswissenschaftlerin wie ich braucht. All das ist ein unschätzbar grosses Privileg.
Sie schreiben zusammen mit Adrian Vatter die vielgelesene Politkolumne für Tamedia. Wie kam es dazu?Dieses Angebot erreichte uns ursprünglich vor den eidgenössischen Wahlen 2023. Viele Leserinnen und Leser schätzten unseren faktentreuen, generationenübergreifenden Blick. Nach den vielen positiven Reaktionen wurden wir von Tamedia sodann angefragt, unsere Wahl- zu einer Politkolumne zu verstetigen. Nach bewährtem Konzept versuchen wir nun weiterhin, regelmässig gängige Annahmen im Lichte der politikwissenschaftlichen Forschung zu überprüfen.
In unserer Themenwahl sind wir völlig frei. Wir überlegen uns gemeinsam, was interessieren könnte, entwickeln die Texte gemeinsam. Kurzum: Es ist eine sehr bereichernde Teamarbeit, die uns beiden immer auch selbst die Chance bietet, in neue internationale Forschungsbefunde unserer Kolleginnen und Kollegen einzutauchen.
Welche Themen werden Sie in Ihrer Forschung künftig bearbeiten?Das Thema «Föderalismus und intergouvernementales Lobbying» hat noch viel ungenutztes Potenzial: Schafft das Lobbying der Gliedstaaten in anderen föderalen Ländern ähnliche Ungleichheiten wie in der Schweiz? Sind dort dieselben Taktiken erfolgsversprechend? Doch mich beschäftigen auch ganz andere Forschungsthemen, im Besonderen der Vergleich von politischen Institutionen. Was macht resiliente Institutionen aus? In Zeiten multipler Krisen, in denen selbst die einst selbstverständlich geglaubte Demokratie längst unter die Räder geriet, empfinde ich es fast schon als Pflicht, darüber zu forschen.