Biologie
Der Fremdling, der zum Kraftwerk wurde
Wer weiss, was das Mitochondrium macht? Alle (dank den vielen Memes im Internet)! Aber kaum jemand weiss, welch verrückte Geschichte diese Zellbestandteile haben. Versuch eines Porträts.
Ah, Mitochondrium, Mysterium der Biologie. Eine Ode müsste man schreiben auf dich, wenn man Oden könnte. Aber gut, immerhin hat man dir ein Meme gewidmet, eines der überaus seltenen Spezies der Biologiememes. «Mitochondria is the powerhouse of the cell» geht es, Bildanteil variabel. Das Meme macht sich lustig über das bekanntlich allzu oft divergierende «Was man in der Schule gelernt hat – was man besser hätte lernen sollen».
Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle. Check. Sonst noch was? Was weiss man denn noch über das komplexe biochemische Zusammenspiel in den Zellen? Citratzyklus, Proteinsynthese, schemenhafte Erinnerungen. Aber dass dieses seltsame Ding mit dem noch seltsameren Namen Mitochondrium – zu Altgriechisch «mitos» (Faden) und «chondrion» (Körnchen), ein eher unbeholfener Verweis auf das Aussehen unter dem Mikroskop – irgendwie für die Energieerzeugung im Körper zuständig ist, das hat man erfolgreich eingetrichtert bekommen, das blieb bei den allermeisten hängen.
Ein Geist sucht die Evolutionsforschung heim
Der Slogan geht zurück auf einen populärwissenschaftlichen Artikel im «Scientific American» aus dem Jahr 1957. Entdeckt wurden die auffälligen kleinen Strukturen, die in jeder höherentwickelten Zelle vorkommen – je nach Energiebedarf in wenigen oder bis zu Tausenden Exemplaren –, schon Mitte des 19. Jahrhunderts. Allerdings fehlten da noch die experimentellen Möglichkeiten, um mehr über die Rolle der Mitochondrien in der Zelle herauszufinden. Ihren ersten Namen bekamen sie 1890 vom deutschen Pathologen Richard Altmann – man ist sich nicht sicher, ob das heute noch funktionieren würde, «Bioblasten», das erinnert doch eher an ein B-Movie, vor allem auf Englisch: «bioblast»!
Altmann hatte aber auch noch eine andere schöne Bezeichnung: Elementarorganismen. Er stellte sich diese Körnchen in den Zellen als lebendige Wesen vor, ein gar nicht so abwegiger Gedanke, wie sich später zeigen sollte. Seinen Zeitgenossen war das allerdings zu wild als Idee, Altmann wurde zum Aussenseiter. Man erzählt sich, dass er die späteren Jahre seiner Forschungslaufbahn kaum noch sein Büro verlassen haben soll, was ihm den Übernamen «der Geist» eingetragen hat.
Lynn Margulis’ revolutionäre Idee
Die Geschichte sollte sich im 20. Jahrhundert wiederholen. Bloss dass dieser Geist einen Frauennamen trug. Und dass er keine Anstalten machte, sich einfach ins Labor zurückzuziehen, im Gegenteil: Lynn Margulis’ Geist sucht die evolutionsbiologische Forschung bis heute heim. Und das hat ganz direkt mit dem Mitochondrium zu tun. André Schneider, Forschungsgruppenleiter am Departement für Chemie, Biochemie und Pharmazie der Universität Bern, sagt, Mitochondrien seien für die Biologie so zentral, es gebe «Hunderte von Labors», die mit ihnen arbeiten. Und zwar in ganz unterschiedlichen Kontexten, sei es pharmakologisch, biochemisch oder eben evolutionsbiologisch. «Die Evolution hält die Biologie zusammen, letztlich», sagt Schneider, in Ermangelung «strikter Gesetze, wie es sie in der Physik gibt».
Zum Mitochondrium
Mitochondrien
kommen in allen Zellen von Eukaryoten (Tieren, Pflanzen und Pilzen) vor, nicht aber bei Bakterien. Sie sind von einer Doppelmembran umschlossen und haben ihre eigene Erbsubstanz, die mitochondriale DNA. Dies kommt daher, dass Mitochondrien einst eigenständige Bakterien waren, die von Vorläuferzellen der Eukaryoten «verschluckt» wurden. Diese Symbiose war – und ist – für beide vorteilhaft.
Darwin herausgefordert
Und dem Mitochondrium traute Lynn Margulis hier eine ganz besondere Rolle zu. Weil sie überzeugt war, dass Symbiosen in der Biologie viel bedeutender sind, als es das klassisch darwinistische Denken vorsah, war es nur logisch, dass sie auf die Ideen von Altmann zurückkam. Ihr Artikel «On the Origin of Mitosing Cells» aus dem Jahr 1967 lancierte die sogenannte Endosymbiontenhypothese noch einmal richtig. Der wissenschaftlichen Elite taugte die Idee nach wie vor nicht, noch dazu, weil sie von einer Frau kam.
Zwölfmal war der Artikel abgelehnt worden, bis er endlich erscheinen konnte. Margulis beschrieb darin, wie sich die Entwicklung verschiedener komplexerer Zellbestandteile am einfachsten dadurch erklären lässt, dass sich eine Zelle (der Wirt) eine andere (den Symbionten) einverleibt. Und schon ist ein evolutionsbiologischer Quantensprung passiert – Schneider nennt es sogar das «grösste Ereignis in der Geschichte des Lebens». Heute ist die Idee Mainstream, und Margulis ist für viele eine der zentralen Figuren der Evolutionsbiologie.
Zur Person
Wanda Kukulski ist Professorin für Biochemie am Institut für Biochemie und Molekularmedizin (IBMM) der Universität Bern. Sie erforscht unter anderem, wie Membranen in Zellen aufgebaut und organisiert sind und wie die molekulare Architektur von Membranen zelluläre Funktionen unterstützt.
Symbiose statt Konkurrenz
Ihr zufolge ist die Biologie weniger kompetitives alle gegen alle als vielmehr ein Mit- und Nebeneinander, ein tolerantes Zusammenspiel einer Vielzahl von Wesen. Und dieses Zusammenspiel ist so eng, dass es zuweilen unauflöslich wird, in echten Symbiosen können die Einzelwesen gar nicht mehr ohne einander. Beim Mitochondrium ist vieles noch Spekulation, zwei Milliarden Jahre ist das her, aber in den letzten Jahren klärte sich dank neuen genetischen Analysen einiges. So gilt es unterdessen als gesichert, dass die Mitochondrien einst Bakterien waren, mit Stoffwechseltricks, die unseren Vorläuferzellen, sehr wahrscheinlich waren das Asgard-Archaeen, noch nicht zugänglich waren.
Die Zellen hätten sich wohl zuerst assoziiert, seien also aneinandergewachsen, sagt Schneider. Auch in diesem Zwischenstadium sei es bestimmt schon zum Austausch von Stoffwechselprodukten gekommen, sodass sich die zellulären Funktionen allmählich zu verschränken begonnen hätten und das «Verschlucken» des Bakteriums nur noch die logische Konsequenz war – die dem Bakterium Schutz und Nahrung bot und den Archaeen umgekehrt einen Gensatz bescherte, der erst all das ermöglichte, was wir ganz selbstverständlich als Atmung bezeichnen.
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Viel mehr als das Kraftwerk der Zelle
Dieser Molekülaustausch durch und zwischen Membranen ist nach wie vor ein heisses Thema der Forschung. Wanda Kukulski vom Institut für Biochemie und Molekulare Medizin sagt: «Membranen haben eine sehr unterschiedliche Zusammensetzung», was aber noch sehr schlecht verstanden sei, weil die Bestandteile nicht wasserlöslich und deshalb schwer im Labor zu untersuchen seien.
Ihre Gruppe interessiert sich insbesondere für Lipide als grundlegende Bausteine eukaryotischer Zellen. Wobei sich wieder die zentrale Rolle des Mitochondriums zeigt, das eben viel mehr ist als bloss das Kraftwerk der Zelle. Kukulski erwähnt den Fettsäureabbau, die Regulierung von Zelltod, den Harnstoffzyklus. Die Liste ist lang. Und wird laufend länger, je genauer die Fachwelt hinschaut. Wobei Kukulski anmerkt: «Die meisten Organellen haben eine Vielzahl verschiedener Funktionen.» Man könnte auch sagen: Die Natur ist eigentlich zu komplex für simple Slogans, das gilt für die Welt im Grossen wie für diejenige im Kleinen, in der menschlichen Zelle.
«Es ist ein wenig, als hätte sich der Mensch zum grossen Teil selbst nach oben entwickelt, aber die Leber wäre dem Ursprung nach ein anderes Tierchen.»
Heute weiss man, dass Endosymbiose gar kein besonders seltenes Phänomen in der Natur ist. Beispiele sind Stickstoff fixierende Bakterien (sogenannte Rhizobien), die in den Wurzelknöllchen von Hülsenfrüchten leben, oder einzellige Algen im Inneren von riffbildenden Korallen. Auch hat man erkannt, dass neben dem Mitochondrium noch weitere Zellfunktionen von aussen kamen.
Dem deutschen Botaniker Andreas Franz Wilhelm Schimper fiel bereits 1883 auf, dass pflanzliche Chloroplasten, die für die Fotosynthese zuständig sind, den Cyanobakterien sehr ähnlich sind. Er darf damit als Wegbereiter der Endosymbiontentheorie gelten. Doch es gelang nicht, isolierte Chloroplasten in vitro zu kultivieren, was auch nicht weiter erstaunt, da die Endosymbionten im Laufe der Evolution die meisten ihrer Gene verlieren beziehungsweise an den Zellkern abgeben. Allerdings vermehren sich Chloroplasten und Mitochondrien nach wie vor eigenständig und ohne eine strukturelle Koppelung an die Zellteilung der Wirtszelle. Das wurde zu einem zentralen Argument für die Endosymbiontentheorie.
Zur Person
André Schneider ist Professor für Biochemie am Departement für Chemie, Biochemie und Pharmazie der Universität Bern. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Mitochondriale Proteininmport, der Mitochondriale tRNA-Import und seine Folgen, sowie die Mitochondriale Gen-Expression.
Wir sind alle Borgs
Margulis war mit ihren Ideen noch übers Ziel hinausgeschossen, sie hatte überall Endosymbiosen gesehen, wo die Fachwelt heute eher vorsichtig ist. Aber im Prinzip sei dieses Einverleiben auf jeden Fall Teil des evolutiven Spiels. «Wir sind alle Borgs», sagt Schneider in Anspielung auf die assimilierende Alienrasse aus der Serie «Raumschiff Enterprise». Warum gerade die Mitochondrien und Chloroplasten, die beide eine zentrale Rolle beim Energieumsatz spielen, auf diese Weise in das Zellgefüge höherer Lebewesen integriert worden sind und vor allem weshalb es nicht viel öfter zu Endosymbiosen gekommen ist, sei derzeit noch unklar, sagt Schneider. Es gibt ja eine ganze Reihe von Organellen, spezialisierten Untereinheiten innerhalb der Zelle. Betrachtet man eine Zelle als Organismus, wären die Organellen das Äquivalent zu den inneren Organen.
Es ist ein wenig, als hätte sich der Mensch zum grossen Teil selbst nach oben entwickelt, aber die Leber wäre dem Ursprung nach ein anderes Tierchen, das sich allmählich ganz an das Leben im menschlichen Organismus angepasst hat. Schneiders Gruppe erforscht insbesondere die Art und Weise, wie der Austausch zwischen diesem Eigenen und dem Fremden funktioniert, das heisst, wie Proteine ins Mitochondrium importiert werden. Dieses Importsystem in der Membran sei ein entscheidendes Merkmal, um Organellen von Endosymbionten zu unterscheiden.
Womit wir zurück beim Powerhouse-Meme wären. Wenn man weiss, dass sich das Mitochondrium nicht auf eine spezifische Funktion hin entwickelt hat, zellintern, sondern vor Urzeiten als komplettes «Wesen» verschluckt wurde, verwundert es auch nicht weiter, dass die Geschichte mit dem Kraftwerk nicht ebenso richtig wie kreuzfalsch ist. Man könnte auch sagen: Das Mitochondrium ist das grosse Missverstandene im Reich der Biologie. Bestes Memepotenzial, auf jeden Fall.
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«Menschen brauchen Energie»
Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Menschen brauchen Energie»
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