Erziehungswissenschaft
«Wer sich wohl und zugehörig fühlt, lernt besser»
Motivation und Emotion sind zwei zentrale Erfolgsfaktoren im Lernprozess, wie die Erziehungswissenschaftlerinnen Tina Hascher und Julia Mori im Interview erläutern. Zum Thema haben sie eine internationale Konferenz in Bern organisiert.
Tina Hascher, Lernen kann Freude machen, aber auch Angst und Frust auslösen. Wie kann ein besseres Verständnis von Motivation und Emotion helfen, solche Herausforderungen zu meistern?
Tina Hascher: Da gibt es vielfältige Möglichkeiten, denn Motivation und Emotionen spielen eine entscheidende Rolle für jeden Lernprozess. Wenn ich als Lehrperson zum Beispiel merke, dass Jugendliche sich nicht für ein Thema interessieren, dann kann ich sie über die Erfüllung der psychologischen Grundbedürfnisse zu motivieren versuchen.
Es gibt drei Grundbedürfnisse: sich als kompetent erleben, sozial eingebunden sein und Autonomie erfahren. Wenn ich die Lernenden miteinander arbeiten lasse, damit sie sich zugehörig fühlen, oder mit ihnen zusammen erreichbare Ziele definiere, damit sie sich als kompetent erleben, baue ich motivationales Potenzial auf. Klar ist: Jeder Mensch muss die Motivation in sich selbst finden – aber als Lehrperson kann ich bestmögliche Rahmenbedingungen schaffen, wenn ich bei der Unterrichtsgestaltung immer mitdenke, wie ich die Motivation stimulieren kann. Weil Emotion und Motivation ganz eng verknüpft sind, gilt es auch die Emotionen einzubeziehen.
Für manche Realschülerinnen und Realschüler ist der Mathematikunterricht mit Frust und Angst besetzt. Diese Vorerfahrungen muss ich abholen und mit ihnen darüber sprechen, dass jeder Mensch mal Angst hat oder frustriert ist. Als Lehrperson kann ich sie ermuntern, nicht beim ersten Misserfolg aufzugeben und sich über Erfolge zu freuen. Und über eine angepasste Aufgabengestaltung und realistische Ziele kann ich die Chance auf Erfolgserlebnisse erhöhen.
«Was würde passieren, wenn wir die Klassenstrukturen sprengen und Schule ganz anders denken?»
Tina Hascher
Zur Person
Tina Hascher
ist seit 2013 ordentliche Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Emotionen und Motivation in Schule und Unterricht, Wohlbefinden und Gesundheitsförderung in der Schule und die Lehrerinnen- und Lehrerbildung.
Kontakt
Prof. Dr. Tina Hascher
Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Schul- und Unterrichtsforschung, Universität Bern
E-Mail: tina.hascher@unibe.ch
Welches sind die wertvollsten Ressourcen, die beim Lernen genutzt werden können?
Julia Mori: Am wichtigsten sind positive Beziehungen – sowohl zwischen der Lehrperson und den Kindern als auch unter den Schülerinnen und Schülern. Positive Beziehungen sind eine Grundlage für erfolgreiches Lernen und müssen von der Lehrperson vorgelebt und gefördert werden.
Emotionale Regulation ist eine weitere zentrale Ressource, die in der Schule trainiert werden kann. Dafür gibt es Techniken wie Atemübungen oder ein regelmässiges Ritual, bei dem die Lernenden wahrnehmen, wie sie sich fühlen und sich darüber austauschen. Motivationsfördernd ist zudem, wenn sich Jugendliche als selbstwirksam erleben. Das passiert etwa dann, wenn sie mit der Lehrperson Lernziele definieren und danach ein Feedback bekommen, wie gut sie diese erreicht haben.
Eine unglaubliche Kraftquelle ist die intrinsische Motivation. Und die kann gefördert werden, indem Kindern aufgezeigt wird, was sie in der Schule fürs Leben lernen. Sehr motivierend wirkt sich auch Autonomie aus: Dann, wenn ich als Schülerin oder Schüler Freiräume bekomme, die ich eigenständig gestalten kann, etwa bei offenen Aufgaben oder in Projekten.
«Positive Beziehungen sind eine Grundlage für erfolgreiches Lernen und müssen von der Lehrperson vorgelebt und gefördert werden.»
Julia Mori
Zur Person
Julia Mori
ist Advanced Postdoc in der Abteilung Schul- und Unterrichtsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Bern. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Wohlbefinden, Resilienz und Gesundheitsförderung in der Schule, Motivation und Lernen, Schulentfremdung sowie Interventionsforschung.
Kontakt
Dr. phil. Julia Mori
Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Schul- und Unterrichtsforschung, Universität Bern
E-Mail: julia.mori@unibe.ch
Die Anforderungen an Lehrkräfte steigen. Welche Ansätze bietet die Forschung, um deren Resilienz zu fördern?
Hascher: Die Forschung zeigt deutlich, dass der wichtigste Faktor fürs Wohlbefinden von Lehrpersonen ist, dass sie sich mit anderen zusammen als kooperative Struktur verstehen. Nicht «ich und meine Klasse», sondern «wir und meine Klasse» oder «wir und unsere Schule». Die Möglichkeiten dazu wären vorhanden, denn in den Schweizer Klassenzimmern gehen nebst der Klassenlehrperson auch Logopädinnen, schulische Heilpädagogen, Co-Lehrerinnen oder Klassenassistenten ein und aus.
Es braucht aber bessere Strukturen und Zeitgefässe. Dieses Gefühl, gemeinsam verantwortlich zu sein und sozial unterstützt zu werden, ist für ganz viele Lehrpersonen eine Quelle von Kraft und Wohlbefinden. Deshalb sprechen wir nicht nur von der resilienten Lehrperson, sondern von der resilienten Schule. Es reicht nicht, einzelne Personen zu empowern, wir müssen Resilienz systemisch denken und fördern.
Was braucht es, damit solche Forschungsergebnisse den Weg in die Praxis finden?
Hascher: Ein zentraler Aspekt ist, Brücken zu bauen. Denn unsere Forschung wird nicht in erster Linie für Lehrpersonen publiziert. Optimal ist, wenn Forschende mit Dozierenden der Pädagogischen Hochschulen und Lehrpersonen zusammen die Aus- und Weiterbildung gestalten. So kann unser Wissen, wie man beispielsweise motiviert Französisch lernen kann, in eine praxisorientierte Lehrveranstaltung für Lehrkräfte einfliessen. Zudem sind wir Forschenden aufgefordert, praxisnahe Beiträge in Schulpublikationen zu platzieren und gezielt mit Schulen zusammenzuarbeiten.
Mori: Ein Beispiel für eine erfolgreiche Übersetzung der Forschungsergebnisse und eine gute Zusammenarbeit mit den Schulen ist WESIR. Das ist eine Studie zum Wohlbefinden in den Schweizer Schulen, die vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert ist und die wir an der Uni Bern durchführen. Wir stellen den Schulen wissenschaftlich erprobte Interventionen zur Verfügung, um das Wohlbefinden zu verbessern, und begleiten die Einführung des Programms.
Wir beziehen die Lehrkräfte in den Umsetzungsprozess mit ein, da sie bereits eine Beziehung zu den Kindern aufgebaut haben. Wichtig ist auch, den Jugendlichen immer wieder das Ziel vor Augen zu führen: Wenn sie sich in der Schule wohl fühlen, wenn sie sich sicher und zugehörig fühlen, können sie besser lernen und bessere Leistungen erbringen.
Zu welchen Themen sollte mehr geforscht werden?
Mori: Sicherlich zu Bildungstechnologien und Digitalisierung. Besonders wichtig finde ich dabei die Fragen: Welchen Einfluss haben diese Technologien auf die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder? Wie werden diese am besten eingesetzt? Wie können wir sicherstellen, dass alle Zugang haben, auch Mädchen, die sich mit Technologien teilweise weniger zutrauen oder Kinder, die zuhause keinen Laptop haben? Ausserdem braucht es mehr interdisziplinäre Forschung, bei diesem Beispiel etwa von Forschenden aus der Robotik und den Erziehungswissenschaften.
Hascher: Und ich möchte mehr darüber wissen, wie der Transfer von emotionalen und sozialen Kompetenzen von einem Lernumfeld ins nächste gelingen kann. Heute ist es so, dass beispielsweise Primarschulkinder lernen, ihre Emotionen zu regulieren, um selbständig zu arbeiten. Doch wenn sie in die Sekundarstufe wechseln, heisst es oft, dass sie das zu wenig können. Irgendwo im Übergang zwischen Primar- und Sekundarstufe geht das Wissen verloren beziehungsweise kann nicht transferiert werden.
Ausserdem interessiert mich: Was würde passieren, wenn wir die Klassenstrukturen sprengen und Schule ganz anders denken? Was geschieht, wenn Schülerinnen und Schülern viel mehr miteinander und voneinander lernen, auch altersdurchmischt und über Klassen hinweg? In verschiedenen Berner Schulen wird das bereits umgesetzt. Doch dazu gibt es noch nicht genug Studien.
Medienmitteilung der Universität Bern vom 20.8.2024
Konferenz zu Motivation and Emotion im Bildungswesen
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