Werden die Richter immer mächtiger?

Die Justiz ist in der Politik kein schwacher Akteur mehr. Das Bundesgericht wird immer selbstständiger und die Politik immer mehr von internationalen Normen beeinflusst.

Es war ein Donnerschlag, der für weltweites Aufsehen sorgte: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Anfang April die Schweiz verurteilt, weil sie im Kampf gegen den Klimawandel zu wenig unternehme und so die Menschenrechte missachte. Das Urteil ist bindend. Nun muss die Schweiz ihre Klimapolitik verschärfen, obwohl das Volk ein strengeres CO₂-Gesetz abgelehnt hat. Das SVP-Schreckgespenst der fremden Richter geht auch in anderen politischen Lagern um, wie die Erklärung der ständerätlichen Rechtskommission zum Klima-Urteil zeigt. Doch wie steht es hierzulande um das Verhältnis von Recht und Politik? Dominieren die Richter auch zunehmend über Politiker? Sehen wir auch in der Schweiz eine Justizialisierung der Politik – so wie in anderen Ländern auch?

1848 ist die Judikative als Leichtgewicht gestartet. Das Bundesgericht war eindeutig die schwächste Staatsgewalt. Es hatte nicht einmal einen festen Sitz und galt als «Ad-hoc-Wandertruppe». Die Schweiz galt lange Zeit als ein Land, bei dem die Gerichte wenig Einfluss haben. Aufgrund der fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit kann das Bundesgericht verfassungswidrige Bundesgesetze nicht verbieten, die das Parlament verabschiedet hat. Im Lauf der Zeit wurde die Stellung der Justizbehörden zwar nur langsam, aber fortlaufend verbessert. Vor allem die Justizreform, von Volk und Ständen im März 2000 angenommen, hatte massgeblich zur Verselbstständigung des Bundesgerichts beigetragen.

Heute stellen wir fest, dass Schweizer Gerichte wichtige politische Entscheidungen treffen. Zum Beispiel haben sie entschieden, dass Frauen im Kanton Appenzell Innerrhoden wählen können, muslimische Lehrerinnen kein Kopftuch tragen dürfen und geschiedene Frauen selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen. In all diesen Fällen machte sich das Bundesgericht gleich selbst zum Gesetzgeber.

Eingriff in die Grundfesten der Demokratie

In den letzten beiden Jahrzehnten haben Studien aufgezeigt, wie die Rechtsprechung des Bundesgerichts einzelne Politikbereiche massgeblich beeinflusst hat. Das gilt namentlich für die Reproduktionsmedizin, die Raumordnung, den Umweltschutz oder bei der Invalidenversicherung (hier gleich mehrfach) und jüngst auch beim Wählerwillen (Causa Isabel Garcia). Eine besonders wichtige Stellung kommt dem Bundesgericht beim Schutz der Grundrechte zu. So hiess es im Jahr 2003 Beschwerden gegen Einbürgerungsverfahren in der Luzerner Gemeinde Emmen gut. Dabei kippte es das Ergebnis der Volksabstimmungen. Die Emmener nahmen zuvor nämlich alle Einbürgerungsgesuche der italienischen Staatsbürger an, lehnten diejenigen von Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien hingegen ab.

Während der Pandemie urteilte das Bundesgericht, ob kantonale Massnahmen die Grundrechte über Gebühr einschränken. Beispielsweise erachtete das Bundesgericht eine Limitierung der Teilnehmerzahl an Kundgebungen auf maximal 15 Personen im Kanton Bern als unverhältnismässig, während es eine entsprechende Beschränkung auf 300 Personen im Kanton Uri für zulässig befand. 2019 hat das Bundesgericht sogar eine nationale Volksabstimmung annulliert. Es sah die Abstimmungsfreiheit verletzt, nachdem der Bundesrat im Abstimmungsbüchlein unvollständige und intransparente Informationen über die Auswirkungen der Abschaffung der «Heiratsstrafe» publiziert hatte.

Das alles zeigt: Nicht nur in Strassburg, sondern auch in Lausanne muss sich die Schweizer Politik heute immer öfter vor Gericht verantworten. Noch in den 1980er-Jahren übte das Bundesgericht bei den Grundrechten zwar eine aktive Rechtsprechung aus, war aber sonst politisch zurückhaltend. Doch heute greifen die obersten Justizbehörden selbst bei sensiblen und kontroversen Themen verstärkt in die kantonale und lokale Autonomie hinein. Konkrete Beispiele betreffen degressive Steuertarife, kommunale Einbürgerungs­verfahren oder kantonale Wahlgesetze – und damit die Grundfesten unserer Demokratie.

Bundesrichter sind «mitgestaltende Akteure»

Der ausgeprägte Föderalismus und die Volksrechte mögen dem richterlichen Aktivismus in der Schweiz zwar gewisse Grenzen setzen. Gleichzeitig fordert er das Konzept der Volksherrschaft heraus. Dabei lassen sich die Bundesrichter bei ihrer Urteilsfindung auch von der öffentlichen Stimmung leiten – und schaffen so politische Realitäten. Wenn die Medien nämlich viel über Migration berichten, werden Asylbeschwerden am Bundesverwaltungsgericht seltener gutgeheissen.

Auch die zunehmende Bedeutung supranationaler Gerichtsinstanzen oder die Europäisierung unseres «Binnenrechts» nimmt das Bundesgericht bisweilen zum Vorwand, um seinen politischen Einfluss auszudehnen. Alt-Ständerat Carlo Schmid bezeichnete Bundesrichter schon vor 20 Jahren als «keine unpolitischen Subsumtionsautomaten, sondern politisch in höchstem Masse mitgestaltende Akteure». Die Entwicklung gibt ihm recht.

Zweitveröffentlichung

Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL

Die Tamedia-Kolumnen von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus sowie Markus Freitag erscheinen auch auf uniAKTUELL.

Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern

Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.


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