Sind Sie ein ängstlicher Typ?

Trotz Krisen verspürt die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer so gut wie nie Angst. Das ist nicht zwingend gut: Diese Emotion hat zu Unrecht einen schlechten Ruf.

Markus Freitag 18. Oktober 2024

Markus Freitag, Politkolumne

Steigende Preise und Temperaturen. Unwetter und Stürme. Überschwemmungen und Klimakrise. Krankheiten und Kriege. Und immer wieder Angriffe auf Demokratien. Wie nehmen Sie das wahr? Was bewirkt der Gedanke an all diese Bedrohungen bei Ihnen? Geht das spurlos an Ihnen vorbei oder macht sich Beklemmung in Ihnen breit? Sind Sie hartgesotten und unerschrocken oder bekommen Sie es mit der Angst zu tun? Oder direkter gefragt: Sind Sie sowieso eher ein ängstlicher Typ?

Zunächst einmal: Wer über Angst spricht, darf die Augen vor der Furcht nicht verschliessen. Obwohl im Alltag meist gleichbedeutend verwendet, sind die beiden Emotionen einander zwar ähnlich, aber keineswegs identisch. Nach dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard ist Furcht von kürzerer Dauer und richtet sich auf eine klar erkennbare Gefahr, während Angst vor allem als Reaktion auf unbekannte und zukünftige Bedrohungen ausgelöst wird. Viele von uns mögen sich also fürchten, wenn sie die Töne Donald Trumps im Wahlkampf vernehmen. Die Vorstellung aber, was seine Wiederwahl alles auslösen kann, lässt dann zusätzlich Angst und Schrecken in unsere Glieder fahren.

Die Angst hat durchaus auch gute Seiten

Angst macht sich also immer dann breit, wenn wir eine bedrohliche Situation als ungewohnt und unkontrollierbar einschätzen. Um die damit verbundene Unsicherheit zu reduzieren, macht uns Angst vorsichtig und risikoscheu. Der Schauder lässt uns aber nicht nur ins Schneckenhaus verkriechen. Wer Angst empfindet, sucht auch nach neuen Informationen und Lösungen, die manchmal auch eine Abkehr von starren Positionen notwendig und wahrscheinlicher machen. Oder wie es Erich Kästner formulierte: «Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Fantasie.» Genau darin unterscheidet sich die Angst auch von der Wut: Zwar kochen beide Emotionen immer dann hoch, wenn äussere Umstände unsere Pläne durchkreuzen. Doch wo die Angst uns nach kreativen Lösungen suchen lässt, versperrt die Wut den Weg dorthin.

Und auch wenn Angst als negatives Gefühl von niemandem wirklich geschätzt wird und nicht überall einen guten Ruf geniesst: Evolutionsbiologisch ist unbestritten, dass dieses emotionale Frühwarnsystem als Überlebenshilfe durchaus seine guten Seiten hat und uns vor Unheil schützt. Natürlich können Angstreaktionen von Situation zu Situation und von Mensch zu Mensch variieren: Sie können stärker oder schwächer ausfallen, schneller oder langsamer vonstattengehen und mehr oder weniger unser Befinden, Denken oder Verhalten befallen. Wesentlich ist, wie schnell dieses Gefühl wieder abklingt, ob es sich um einen vorübergehenden Zustand oder um eine dauerhafte Veranlagung handelt.

Die Schweiz, eine angstfreie Nation?

Auswertungen des Schweizer Haushaltpanels zeigen, dass die Mehrheit der in der Schweiz lebenden Personen so gut wie nie Angst verspürt. Rund ein Zehntel der Bevölkerung berichtet jedoch von fortwährenden Ängsten. Und gemäss eigenen Umfragen gibt rund ein Fünftel der Schweizerinnen und Schweizer an, oft oder sehr oft unruhig und nervös zu sein, wenn sie an ihre aktuellen Angelegenheiten denken. Bei etwa einem Drittel ist dies manchmal der Fall.

Mit wachsender Einkommenszufriedenheit und zunehmendem Alter nimmt bei den Schweizerinnen und Schweizern die Angstanfälligkeit ab. Die Menschen vom Land zeigen zudem weniger Angstsymptome als Städterinnen und Städter. Dies gilt auch für Männer im Vergleich zu Frauen. Wer sich darüber hinaus als offen, nett, extrovertiert und gewissenhaft taxiert, neigt weniger zu Ängsten. Und noch etwas: Ängstliche Menschen fühlen sich am ehesten zur SP hingezogen. Alle anderen Parteien bieten ihnen offensichtlich nur ungenügend Zuflucht.

Zweitveröffentlichung

Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL

Die Tamedia-Kolumnen von Markus Freitag sowie von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus erscheinen auch im uniAKTUELL.

Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern

Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.


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