Sparen wir uns zu Tode?

Wenn der Staat Ausgaben kürzt und Leistungen abbaut, werden radikale Parteien gestärkt und sind die Menschen gestresster.

Wenn gleich drei Bundesratsmitglieder gemeinsam vor die Medien treten, dann geht es in der Regel ums Eingemachte. In der Tat: Am 20. September 2024 hat die Regierung unter der Leitung von Finanzministerin Karin Keller-Sutter ein umfassendes Sparpaket vorgestellt. Damit sollen die Bundesausgaben ab 2027 um 3,5 bis 4,3 Milliarden gesenkt werden.

Das Abbauprogramm betrifft viele Bereiche: 900 Millionen Franken weniger Bundesgelder für Kitas, 400 Millionen Einsparungen für sanierungswillige Hauseigentümer, 300 Millionen weniger Bundesbeiträge an die AHV und minus 200 Bundesmillionen bei der Bahninfrastruktur. Dies sind nur vier von insgesamt 60 Sparmassnahmen. Das Ziel der Übung: die jährlichen Defizite von drei oder mehr Milliarden verhindern und die Bundeskasse sanieren.

Wer profitiert von der Sparsamkeit?

Zwar hat die Schweiz eine vergleichsweise tiefe Schuldenquote; der Leidensdruck ist deutlich kleiner als anderswo. Trotzdem zielt der Bundesrat mit seinem Austeritätspaket in dieselbe finanzpolitische Richtung wie viele andere Länder auch.

Zahlreiche Mitte-links- bis Mitte-rechts-Regierungen Europas sind sich einig, dass konsequente Sparmassnahmen die geeignete Politik dafür sind, wirtschaftlichen Wohlstand und damit auch gesellschaftliche Stabilität zu sichern. Ökonomisch scheint die Sache klar: Heutiger Ausgabenverzicht setzt Mittel für Investitionen und mehr Produktivität frei, was in der Zukunft mehr Wachstum ermöglicht.

Wenn der Staat heute spart, muss er in Zukunft weniger Schuldzinsen bezahlen. Doch was sind die politischen Folgen einer restriktiven Sparpolitik? Welche (unbeabsichtigten) Konsequenzen haben weniger staatliche Leistungen? Wer profitiert, wer verliert in Zeiten der Austerität?

Enttäuschte Wähler stärken Radikale

Die Finanzkrise von 2007/08 und die folgende Staatsverschuldung vieler Länder haben dazu geführt, dass sich die Politikwissenschaft in den letzten Jahren verstärkt mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat. In einer umfassenden Studie haben Evelyne Hübscher, Thomas Sattler und Markus Wagner untersucht, wie sich Sparmassnahmen der Regierung auf die Wahlbeteiligung, die Wahl von extremen Parteien und auf die Polarisierung des Parteiensystems auswirken.

Dafür haben sie 166 Wahlen in 16 OECD-Ländern seit 1980 analysiert. Ihr Befund: Setzt die Regierung während der Legislaturperiode viele Sparmassnahmen durch, sinkt die Wahlbeteiligung bei der nächsten Wahl um rund zwei Prozentpunkte und Aussenseiterparteien gewinnen bis zu 3,5 Prozentpunkte hinzu.

Profiteure der Austeritätspolitik sind dabei vor allem neue, kleinere und radikale Parteien am linken und rechten Rand. Sie ziehen enttäuschte Wähler an, während die Regierungsparteien durchwegs und meist stark verlieren. Jüngstes Anschauungsbeispiel: die spektakulären Wahlerfolge sowohl der linkspopulistischen La France Insoumise als auch des rechtsextremen Rassemblement National nach der umstrittenen Rentenreform und der Sparoffensive unter Präsident Macron.

Gestresste Menschen, mehr Polarisierung

Auch verschärfen Sparpakete die politischen Gräben. Wenn Staaten weniger Geld ausgeben, führt dies nachweislich zu mehr politischer Polarisierung und grösserer Instabilität von Demokratien. Wieder andere Studien zeigen: Spart der Staat, wählen signifikant mehr Menschen den Freitod. Die Bevölkerung ist gestresster, und die öffentlichen Dienstleistungen werden schlechter.

Schliesslich widerspricht auch die ökonomische Realität dem Lehrbuch: Sparpolitik führt leider nicht immer dazu, dass die Schuldenquote sinkt. In Zeiten von Wirtschaftsabschwüngen führen Sparmassnahmen sogar zu einer weiteren Erhöhung der Staatsschuldenquote, wie der internationale Vergleich zeigt. Der Grund? Ausgabensenkungen lassen die Wirtschaftsleistung einbrechen, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem «World Economic Outlook» von April 2023 festgestellt hat.

Ein Ratschlag an Karin Keller-Sutter

Die erwähnten Studien sprechen eine klare Sprache: Wenn der Staat Leistungen abbaut, harte Verteilungskämpfe zunehmen und die Politik immer mehr polarisiert, wird es für die Regierung immer schwieriger, ihre Politik nach aussen hin kohärent und glaubwürdig zu vertreten.

Das begünstigt letztlich Blockaden und politische Instabilität. Ironischerweise führen damit die negativen Auswirkungen genau zum Gegenteil von dem, was eigentlich erreicht werden soll: nämlich durch Sparmassnahmen die öffentlichen Ausgaben zu begrenzen und die Haushaltsdefizite niedrig zu halten.

Angesichts dieser Befunde erlauben wir uns den Rat an Finanzministerin Keller-Sutter, sich ihre eigenen Ratschläge nicht nur im Privaten, sondern auch als Staatsräson zu Herzen zu nehmen: «Privat bin ich eher grosszügig. Natürlich nicht verschwenderisch, das würde nicht dazu passen, wie ich erzogen worden bin. Aber man muss sich auch etwas gönnen.»

Zweitveröffentlichung

Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL

Die Tamedia-Politkolumnen von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus sowie Markus Freitag erscheinen auch im Online-Magazin der Universität Bern uniAKTUELL.

Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern

Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.


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