Droht eine «Amerikanisierung» der Schweizer Politik?

Hierzulande wird eine «Amerikanisierung» beklagt und «Trumpisierung» befürchtet. Doch die Politik in den USA wird teils auch schweizerischer.

Der Landesring der Unabhängigen (LdU) betreibe «eine eigentliche Amerikanisierung des Wahlkampfs», konstatiert die NZZ im Herbst 1939. Der Grund? Die Partei habe «militärische Landesfragen in einer direkt bedrohlichen Art und Weise» zu ihrem Wahlplakatsujet gemacht und sei so einer «Unart von Propaganda» aufgesessen. 

Die Vorstellung darüber, was «amerikanisierte» Politik ausmache, änderte sich, die Klage aber blieb dieselbe: «ständig wiederholte Kurzformeln» (1983); eine «Telekratie» (1995), nichts ausser «Show und Emotionen» (1999). Und nun drohe erst recht eine «Trumpisierung» (2024). Doch können wir tatsächlich von einer «Amerikanisierung» der Schweizer Politik sprechen?

Am naheliegenden, aber falschen Ort vermutet

Vorliegend beschreibt der Begriff «Amerikanisierung», inwiefern sich aus den USA bekannte politische Phänomene vermehrt anderswo wiederfinden. Besonders oft wird dies in der politischen Kommunikation vermutet.

Ausgerechnet in diesem Bereich unterscheidet sich die Schweiz aber weiterhin merklich von ihrer Schwesterrepublik. Zwar informiert sich gemäss dem «Jahrbuch Qualität Medien 2024» auch hierzulande ein wachsender Anteil der Menschen ausschliesslich über Social Media. Doch vor den eidgenössischen Wahlen 2023 nutzte laut Selects weiterhin nur ein Fünftel «Internetseiten, Blogs oder soziale Medien» als Informationsquelle. In den USA sind es hingegen bereits fast die Hälfte.

Hinzu kommt: 2024 war eine eigentliche Podcastwahl. Wöchentlich hören 100 Millionen Amerikaner mindestens einen Podcast; jedes kritische Wählersegment hat seinen ganz eigenen, zielgruppenspezifischen – junge Männer, konservative Frauen in Vorstädten, Latinos. Demokratische Meinungsbildung funktioniert also in völlig anderen, vollständig getrennten, parteipolitisch vereinnahmten Räumen.

Ebenso wenig zielführend scheint es, in jedem ausfälligen Parlamentariervotum «Amerikanisierung» zu wittern. Auf lange Sicht hat sich das Schweizer Parlament gemäss Studien ein hohes Mass an Debattenqualität bewahrt. Umgekehrt sind die Reden von Donald Trump seit 2015 durch eine dramatische Zunahme an gewaltbezogener Sprache geprägt, die sich gemäss zweier UCLA-Politologen der Rhetorik von Fidel Castro und Kim Jong-un annähere.

Amerikanisierungsanzeichen? Ja, aber in unseren Institutionen

Wer «Amerikanisierung» nur in der politischen Kommunikation sucht, verstellt den Blick darauf, wo die Schweiz den USA tatsächlich ähnlicher wird. Beispiel Föderalismus: Anfang November 2024 wurden in 40 der 50 US-Bundesstaaten beide Parlamentskammern und der Gouverneursposten von ein und derselben Partei kontrolliert. So viele «trifectas» gab es seit 70 Jahren nicht. Wie unsere Daten zeigen, ist auch in der Schweiz die kantonale Regierungszusammensetzung homogener geworden. Seit 2023 wird kein Kanton mehr von einer rot-grünen Mehrheit regiert.

Der Politologe Jacob M. Grumbach hat in seinem preisgekrönten Buch aufgezeigt, dass «one-party control» die Demokratiequalität in den republikanisch kontrollierten Bundesstaaten messbar verschlechtert. Zudem untergräbt dies die Repräsentativität der Politik. Über die Zeit sind die Einstellungen der Amerikaner progressiver geworden. Doch rote «trifectas» verabschieden vermehrt Gesetze, die sich gegen diesen Meinungsumschwung wenden. 

Auch in der Schweiz gibt es vermehrt Anzeichen, wie die rot-grün dominierten Stadtregierungen ein bisweilen einseitiges «Powerplay» aufziehen. Ähnliches gilt für die bürgerlichen Mehrheiten in den Kantonsregierungen, die ihre Macht ausspielen und etwa bei Tempo 30 oder den Mindestlöhnen die städtische Politik übersteuern. Und auch hierzulande ist die Demokratiequalität in jenen Kantonen am geringsten ausgeprägt, wo am längsten eine Hegemonialpartei ohne Unterbruch regierte.

Generell lassen sich «Amerikanisierungstendenzen» vor allem in der Wirkungsweise unserer «gegenmajoritären Institutionen» erkennen (Steven Levitsky und Daniel Ziblatt): Ständemehr und Ständerat, die einst als Minderheitenschutz gedacht waren, wurden zu parteipolitisch instrumentalisierbaren Vehikeln – wie in den USA.

Das sich «verschweizernde» Amerika?

Schliesslich blendet die Rede von der «Amerikanisierung» die gegenläufige Entwicklung aus. Wie sich die USA «verschweizern», zeigt sich erstens an der Nationalisierung, die später einsetzte als hier. Noch bis in die späten 1980er-Jahre entschieden sich viele Amerikaner bei Kongresswahlen traditionell für eine andere Partei als etwa beim Bürgermeister. Derartiges «ticket splitting» ist heute selten.

Zweitens betrifft die «Verschweizerung» den Anstieg der Parteiungebundenen, die hier bereits seit den eidgenössischen Wahlen 1995 deutlich dominieren. In den USA hingegen nimmt der Anteil der «independents»  erst seit den 2010er-Jahren zu  – allerdings sprunghaft. Heute beträgt er bereits über 40 Prozent.

Und drittens klafft nun auch in den USA ein «diploma divide», jedoch primär bei den Weissen: die Demokraten als Heimat der weissen Akademiker, die Republikaner jene der «non-college white». In der Schweiz begann die Bildungsexpansion früher, wie das Team um Silja Häusermann erforschte. Deshalb haben sich die Wählerinnen und Wähler auch früher entsprechend ihres Bildungsgrades in der Parteienlandschaft umsortiert.

«Amerikanisierte» Schweizer Politik? Durchaus, wenn man sie am richtigen Ort sucht. Doch eine Teil-«Verschweizerung» Amerikas gibt es ebenso.

Zweitveröffentlichung

Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL

Die Tamedia-Politkolumnen von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus sowie Markus Freitag erscheinen auch im Online-Magazin der Universität Bern uniAKTUELL.

Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern

Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.


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