Politkolumne
Warum werden dieses Jahr so viele Regierungen abgewählt?
Selbst erfolgreiche Magistraten verlieren mitunter die Gunst des Volkes. Auch wegen sozialer Medien und der wirtschaftlichen Lage.
Alec von Graffenried, Berner Stadtpräsident, ist nicht der einzige Amtsinhaber in diesem Jahr, den die Wähler vom (Erlacher-)Hof gejagt haben. Im Gegenteil: Ob links oder rechts, amtierende Regierungen wurden im «Superwahljahr» 2024 weltweit bei jeder grösseren nationalen Wahl von den Bürgern abgestraft. Das hat es seit Beginn der Aufzeichnungen vor 120 Jahren überhaupt noch nie gegeben.
Ein Ende ist nicht in Sicht: Nach den krachenden Wahlniederlagen des französischen Präsidenten Macron, des britischen Premiers Sunak und des japanischen Ministerpräsidenten Ishiba droht dem unpopulären deutschen Kanzler Olaf Scholz wie auch den amtierenden Regierungschefs in Kanada und Australien 2025 ein ähnliches politisches Schicksal. Kurz: Für amtierende Regierungen sind es eigentliche anni horribiles.
Vom Bonus zum Malus
Dieser Befund ist erstaunlich und widerspricht der bisherigen Forschung. Seit den 1970er-Jahren bestätigen nämlich viele Studien, dass Amtsinhaber meist besser abschneiden als ihre Gegner. In den USA erzielen Amtsinhaber auf allen politischen Staatsebenen im Schnitt etwa acht Prozentpunkte mehr Stimmen als ihre Herausforderer. In Kanada, England und bei deutschen Bürgermeisterwahlen liegt der Unterschied zwischen drei und fünf Prozentpunkten.
Eine Studie für die Schweiz zeigt noch einen stärkeren Bisherigenbonus: Thomas Milic hat alle kantonalen Regierungswahlen zwischen 2000 und 2012 untersucht. Und stellte fest: Amtsinhaber schneiden im Vergleich zu erstmalig Antretenden ganze 17 Prozentpunkte besser ab.
Warum gewinnen Amtsinhaber oft gegen ihre Herausforderer? Ihr grösster Trumpf ist ihr Bekanntheitsgrad. Im Zweifelsfall ziehen Menschen das Vertraute dem Unbekannten vor, was bei Wahlen gleichbedeutend mit der Wiederwahl des Amtsinhabers ist.
Ein weiterer Grund sind die Vorteile, die das Amt mit sich bringt. Wer in den Medien oft erwähnt wird, viele Spenden für seine Kampagne sammeln und den eigenen Wählern Geschenke machen kann, hat bessere Wahlchancen. Viele qualifizierte Kandidierende schrecken zudem vor einer Kandidatur zurück – etwa, weil Politiker auch hierzulande nachweislich vermehrt Anfeindungen und Hass ausgesetzt sind.
In die Jahre gekommen
Wieso aber hat sich der Amtsbonus in jüngster Zeit zu einem Bisherigenmalus verwandelt?
Erstens währt kein Wahlglück ewig. Während die Stimmenanteile eines Amtsinhabers bei seiner ersten Wiederwahl noch stark ansteigen, nehmen sie bei der zweiten Wiederwahl nur noch leicht zu. Nach etwa zehn Jahren beginnen die Stimmenanteile zu sinken. Ein Glanzresultat zu erreichen, fällt mit zunehmender Amtsdauer immer schwerer: Der Regierungsverschleiss nimmt zu, und bei den Wählern wächst die Sehnsucht nach neuen Gesichtern.
Tatsächlich sind viele der kürzlich abgestraften nationalen Regierungen in die Jahre gekommen. In Japan regierten die Liberaldemokraten seit 1955 fast ununterbrochen. Die britischen Konservativen waren 14 Jahre lang an der Macht. In Portugal regierten die Sozialisten seit neun und Indiens Premierminister Modi sogar seit zehn Jahren.
Zweitens sind die sich häufenden Niederlagen der Regierungsparteien auch eine Quittung für die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten, insbesondere die explodierenden Energiepreise. Gerade die Inflation als politisches Gift ist nach Kamala Harris’ Niederlage zum Mantra der US-Kommentatoren geworden. Viele Studien zeigen, dass die wirtschaftliche Situation bei der Wahlentscheidung ausschlaggebend ist.
Wahlbedingtes Long-Covid
Drittens: Wir haben es in den Worten des britischen Politologen Rob Ford mit «einer Art wahlbedingtem Long-Covid» zu tun. Ihm zufolge lasse sich der Bisherigenmalus mit den längerfristigen Auswirkungen der Covid-Pandemie in Verbindung bringen. Seither herrsche breite Unzufriedenheit.
Die Bürger hätten Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen, während sie mit Problemen am Arbeitsplatz, klammen Staatskassen und einem Anstieg der Migration konfrontiert seien.
Verstärkt wird die Kritik an den Behörden durch die neuen Medienkonsumgewohnheiten: Selbst objektiv positive Regierungsbilanzen werden von vielen nur noch durch den ideologischen Filter betrachtet, den die bevorzugte Social-Media-Plattform oder der Lieblings-Politpodcast vorgibt.
«Rockschoss»-Effekt
Die Stadtberner Wahlen vom 24. November 2024 waren nicht nur ein lokales Anschauungsbeispiel dieses weltweiten Trends, sondern ebenso für den seltenen, dafür umso bemerkenswerteren «Rockschoss-Effekt» («Coattail-Effekt»): Dieses Phänomen entsteht, wenn die hohe Popularität einer Spitzenkandidatin gleichzeitig auf weitere Kandidierende derselben Partei für andere Ämter überschwappt.
Am Rockzipfel der sehr beliebten SP-Kandidatin Marieke Kruit, die einen Erdrutschsieg als neue Stadtpräsidentin feierte, wurden – schwuppdiwupp – auch gleich noch fünf neu gewählte SP-Frauen ins Stadtparlament getragen.
Zweitveröffentlichung
Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL
Die Tamedia-Politkolumnen von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus sowie Markus Freitag erscheinen auch im Online-Magazin der Universität Bern uniAKTUELL.
Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern
Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.
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