Sagen Sie noch offen Ihre Meinung?

Was die Menschen zur Frage denken, ob man heute in der Schweiz seine Meinung frei äussern könne oder ob man eher vorsichtig sein sollte.

Markus Freitag 28. Juni 2024

 

Zweifellos, das Recht auf freie Meinungsäusserung ist ein sakrosankter Grundpfeiler der Demokratie. Es soll uns insbesondere vor staatlichen Übergriffen schützen, die uns mundtot machen wollen. Garantien finden sich in internationalen Menschenrechtsabkommen, aber auch in völkerrechtlichen Dokumenten und in der Bundesverfassung. Dort heisst es beispielsweise, dass jede Person das Recht hat, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten. Aber auch wenn kunterbunte Meinungsbilder zur DNA eines demokratischen Miteinanders gehören, gibt es rechtliche Grenzen der Meinungsfreiheit, etwa wenn die Menschenwürde angegriffen wird oder Hass gegen andere verbreitet wird.

Nicht alle scheinen heute dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit zu trauen. Gemäss einer Umfrage in Deutschland nach den Europawahlen äusserten zuletzt fast 60 Prozent der Befragten grosse Sorge, wegen ihrer Auffassungen zu bestimmten Themen ausgegrenzt zu werden. Andere Erhebungen zeigen, dass gerade noch 40 Prozent im grossen Kanton das Gefühl haben, ihre politische Meinung frei äussern zu können. Das ist der schlechteste Wert seit den 1950er-Jahren. Immer mehr Menschen sind nördlich von uns der Ansicht, dass es besser ist, vorsichtig zu sein, was man sagt.

Die wehrhafte Demokratie

Was halten Sie davon? Gehören Sie auch zu den Menschen, die sich nicht mehr trauen, offen ihre Meinung zu sagen? Bei denen die Schere im Kopf messerscharf mitschneidet? Die sich in ihrer Meinungsfreiheit beschnitten fühlen? Oder empfinden Sie das alles als Unfug und Gerede, das jeder Grundlage entbehrt? Und was denken Sie: Wie viele Schweizerinnen und Schweizer glauben, nicht mehr sprechen zu können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist?

Auseinandersetzungen um den Zustand der Meinungsfreiheit haben inzwischen längst die juristische Ebene verlassen und sind zur politischen Kampfzone geworden. Werden die einen nicht müde, eine Verbotskultur zu beklagen, in der ein herrschendes gesellschaftliches Klima abweichende Meinungen mit sozialer Ächtung sanktioniert, sehen die anderen keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern eine wehrhafte Demokratie und eine vielfältige Gesellschaft, die gegen Diskriminierung aufbegehrt. Während die einen vom popperschen Fanal der Nichttoleranz gegenüber Intoleranten getrieben werden, drehen die anderen an der Theorie der Schweigespirale. Hier orientiert sich die mögliche Selbstzensur an der Einschätzung des medial transportierten Meinungsklimas: Wer sich gegen die wahrgenommenen Mehrheiten des Zeitgeistes stellt, hält mit seiner Meinung besser hinterm Berg. 

Fragt man die Menschen hierzulande, ob sie das Gefühl haben, dass man heute in der Schweiz seine Meinung frei äussern kann, oder ob man eher vorsichtig sein sollte, tendiert etwas mehr als ein Viertel zu Letzterem. Das gilt vor allem für diejenigen, die angeben, mit Veränderungen der Lebenswelten nicht klarzukommen und sich in der Schweiz wie eine Fremde oder ein Fremder zu fühlen. Zudem sind Menschen vom Land vorsichtiger als Städterinnen und Städter. Über 60 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind jedoch der Überzeugung, dass man aus seinem Herzen keine Mördergrube machen muss.

Der im Vergleich zu Deutschland stärkere gesellschaftliche Rückhalt der Meinungsfreiheit mag auf die Bedeutung der direktdemokratischen Mitsprache in der Schweiz zurückzuführen sein: Wer immerfort an zahlreiche Abstimmungsurnen getrieben und ständig nach seiner Meinung gefragt wird, fühlt sich weniger eingeschränkt. Zudem macht die Zusammensetzung der Allparteienregierung von links bis rechts beinahe jeden politischen Standpunkt salonfähig. Oder sind Sie anderer Meinung?

Zweitveröffentlichung

Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL

Die Tamedia-Kolumnen von Markus Freitag sowie von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus erscheinen auch auf uniAKTUELL.

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Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.


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