Fussball, Folter und Politik

Fussball begeistert die Massen. Politiker versuchen deshalb, ihn für ihre Zwecke zu instrumentalisieren – und schrecken weder vor Geld noch vor Gewalt zurück.

Rassismusdebatte statt Fussballeuphorie: Noch vor dem EM-Anpfiff erschien im Gastgeberland Deutschland eine Umfrage, der zufolge sich jeder fünfte Deutsche mehr weisse Nationalspieler wünscht. Derweil orderten der inzwischen abgewählte britische Premierminister Rishi Sunak und der französische Präsident Emmanuel Macron die Neuwahlen zur Überraschung aller während der K.-o.-Phase an. Nicht wenige unterstellen ihnen Kalkül, ihre Wahlchancen dank des (erhofften) sportlichen Erfolgs der «Three Lions» bzw. der «Bleus» steigern zu wollen.

Immer schwingt derselbe Wunsch mit: Haltet uns die Politik vom Leib(chen)! Möge doch immerhin 51 Partien lang, über 90 Minuten, «König Fussball» über allem regieren. Doch kann Fussball überhaupt «unpolitisch» sein? 

Politik, wohin man blickt

Zunächst fällt es schwer, den (Männer-)Fussball mit dem gängigen Verständnis von «Politik» zusammenzubringen. Staatliche Akteure wie Parlamente und Regierungen haben nur sehr begrenzte Möglichkeiten, dessen Regeln zu bestimmen. Stattdessen herrschen im Fussball transnationale Machtinstanzen wie die Fifa und die Uefa, die sich weder um nationalstaatliche Grenzen noch um Steuergerechtigkeit scheren.

Und doch ist der Fussball «stets zugleich ein Ersatzspielfeld der Politik», wie der deutsche Politologe Timm Beichelt schreibt: Machthaber inszenieren sich. Länder messen sich gewaltfrei in Stärke. Und weil der Fussball für die Massen eine so zugängliche, spielerische Praxis ist, hilft er als «Schule der Nation», Verhaltensregeln und Normen einzuüben – Kooperation ebenso wie Respekt. Fussball und Politik sind also eng verflochten.

Es beginnt schon bei der Vergabe sportlicher Grossanlässe. Wer ein höheres BIP-Wachstum verzeichnet und bei den politischen Rechten (vordergründig) Fortschritte macht, hat bessere Chancen auf den Zuschlag. Im Vorteil sind also nicht demokratische Länder, deren Volkswirtschaft ohne Rücksicht auf die ökologische Zerstörung angetrieben werden kann. Man denke beispielsweise an die Olympischen Spiele in China 2022 oder die Fussball-Weltmeisterschaften in Russland 2018 und Katar 2022.

Doch die Ausrichtung eines solchen «Mega-Events» birgt auch Risiken. Autokratien beherbergen nicht nur die Mannschaften, sondern auch unzählige Reporter. Kritische Berichte über Menschenrechtsverletzungen schmälern die Legitimität eines Regimes. Deshalb überlassen autokratische Herrscher nichts dem Zufall: Vor dem Eröffnungsspiel der WM 1978 verschärfte die argentinische Militärdiktatur die Repression in den Spielorten deutlich (besonders in der Nähe der Journalistenhotels), nicht aber anderswo im Land. Während des Turniers kam es dann kaum mehr zu Ermordungen und «Verschwundenen». Die argentinischen Generäle setzten staatliche Gewalt strategisch ein – fernab der Augen der Weltöffentlichkeit.

Rollt der Ball erst mal, zeigt sich: Fussball ist auch deshalb politisch, weil gesellschaftliche Konflikte plötzlich offen ausgetragen werden, die sonst unter der Oberfläche schwelen. Ein Beispiel ist der Umgang mit Minderheiten. Während homophobe Einstellungen unter den Fans rückläufig sind, geben gut zwei Drittel der Schweizer Stadionbesucher an, Rassismus festzustellen; Tendenz weltweit steigend.

Allerdings können die Spieler dafür sorgen, dass es auf den Rängen weniger rassistische Vorfälle gibt. So half Mohamed «Mo» Salahs offenes Bekenntnis zum muslimischen Glauben den Fans, Vorurteile abzubauen. Der Weltstar wirft sich nach jedem Tor zum Gebet nieder. Nach seinem Transfer zum FC Liverpool gingen religiös motivierte Hassverbrechen in der besagten Stadt um 16 Prozentpunkte zurück. Liverpool-Anhänger veröffentlichten nur noch halb so viele antimuslimische Tweets wie die Fans anderer Spitzenvereine.

Torjubel vermindert Diskriminierung – auch hierzulande: Vom entscheidenden Gruppenspiel gegen Serbien an der WM 2018 bleibt vor allem die hitzige Kontroverse rund um den «Doppeladler» in Erinnerung. Kaum registriert wurde jedoch, dass danach wohnungssuchende Mitbürgerinnen und Mitbürger mit kosovo-albanischem Namen häufiger zu Wohnungsbesichtigungen eingeladen wurden. Wer sich auf dem Platz für uns aufreisst, soll auch neben dem Platz dazugehören.

Aus dem «wir» wird wieder «sie»

Spätestens nach dem Spiel verflüchtigt der «feelgood factor» des Fussballs, mögen Sportmuffel einwenden. Versagen albanischstämmige Spieler vom Penaltypunkt aus, werde aus dem beschworenen «wir» rasch wieder ein trennendes «sie». Die Forschung zeigt tatsächlich: «Sportswashing» verfängt nur bedingt. Das Gastgeberland Katar verbesserte sein Image im Westen nicht. Stattdessen wuchsen nach der WM 2022 die Sympathien für die arabische Welt insgesamt. Auch gibt es kaum Evidenz, dass sich sportliche Resultate positiv auf Wahlerfolge auswirken. Sunak und Macron dürften Eigentore geschossen haben. 

Fussball kann politische Einstellungen aber durchaus langfristig formen: Bis heute tickt die Bevölkerung des nordenglischen Bezirks Merseyside deutlich weniger antieuropäisch als der Durchschnittsbrite. Der Grund? Die Liverpool-Fans boykottieren die euroskeptische Boulevard-Zeitung «The Sun», seit diese 1989 das Hillsborough-Desaster mit 97 Todesopfern falsch dargestellt hat. Fussball bestimmt also auch, wie wir uns politisch informieren – und so letztlich, was wir politisch denken.

Zweitveröffentlichung

Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL

Die Tamedia-Kolumnen von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus sowie Markus Freitag erscheinen auch auf uniAKTUELL.

Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern

Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.


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