Kolumne «Schweizer Herzfrequenzen»
Sind Sie kompromissbereit?
Gemeinsam einen Mittelweg zu finden, gilt als typisch für Schweizerinnen und Schweizer. Doch die Kompromissbereitschaft gerät unter Druck.
Neulich wollte ich mit einem guten Freund dem Alltag entfliehen. Es ist ja Ferienzeit. Allerdings hatten wir beide unterschiedliche Vorstellungen, wohin die Reise gehen sollte. Während der eine die Erholung in der Horizontalen bevorzugte, sehnte sich der andere mehr nach etwas Senkrechtem. Wo der eine vom Strand träumte, mit Blick aufs offene Meer und vielleicht ein bisschen Halligalli, zog es den anderen in die Berge, in die schroffe Stille von steilen Felsen, Murmeltieren und Kuhglocken.
Wohin nur des Weges?
In zähen Verhandlungsrunden haben wir uns Schritt für Schritt angenähert. Zwar konnte niemand seinen Willen vollständig durchsetzen. Aber jeder hat auch etwas von dem erreicht, was ihm wichtig war. Am Ende haben wir uns auf halbem Wege geeinigt. Jeder musste etwas von seinen Vorstellungen und Interessen abrücken, doch am Ende fühlte sich keiner von uns über den Tisch gezogen. Gelandet sind wir übrigens am Caumasee. Nicht umsonst: Der lokale Verkehrsverein verspricht Karibik-Feeling inmitten der Alpen.
Goldstandard der Konfliktbearbeitung
Kommt Ihnen das bekannt vor? Ringen auch Sie in Ihrem Alltag immer wieder um einvernehmliche Lösungen? Sind auch Sie stets um Ausgleich bemüht und suchen statt Sackgassen goldene Mittelwege? Oder agieren Sie meist unversöhnlich mit harter Hand und setzen knallhart Ihre Interessen durch? Kurzum: Wie kompromissbereit sind Sie eigentlich?
Generell gilt der Kompromiss als Goldstandard der Konfliktbearbeitung. Er stellt eine fundamentale Technik dar, um Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze zu bereinigen, Eskalationen zu ersticken und das Miteinander zu verstetigen.
Wo, wenn nicht in der Schweiz, wird die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, den Menschen in die Wiege gelegt? Entscheide werden hier tagtäglich im Konsens gefällt. Wie nirgendwo sonst forcieren Volksabstimmungen und Konkordanz seit je die Kultur des gütlichen Einvernehmens in Politik und Gesellschaft. Während zwei Deutsche mit nahezu deckungsgleichen Vorstellungen immer wieder auf den winzigen Unterschieden zwischen ihnen herumreiten und deshalb nur schwer zusammenfinden, entdecken zwei Schweizerinnen oder Schweizer auch dann noch viel Gemeinsames, wenn ihre Ansichten meilenweit auseinanderliegen.
Das Pro und Kontra der Politik
Aber auch hierzulande gerät die Kompromissbereitschaft zunehmend unter Druck. Getrieben durch den Megatrend der Individualisierung und den Drang zu grenzenloser Selbstverwirklichung, laufen wir zunehmend Gefahr, die Arme zu verschränken, statt sie einander entgegenzustrecken. Dazu untergräbt die wahrgenommene Polarisierung von Meinungen und Interessen zusehends die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Gerade in der Politik verkauft sich klarkantiges Pro und Kontra immer besser als ein lavierendes Sowohl-als-auch. Statt auf dem Dromedar reiten wir doch lieber auf einem Kamel in die Arena. Denn: Unversöhnliche Lager sind anziehender als austarierende.
In der Schweiz stimmt nach eigenen Umfragen rund ein Viertel der Aussage zu, dass der politische Kompromiss im Grunde nichts anderes als ein Verrat an den eigenen Grundsätzen ist. Allerdings darf auch nicht verschwiegen werden, dass beinahe die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer anderer Meinung ist. Mit Blick auf die Sprachregionen geniesst das gütliche Einvernehmen in der Deutschschweiz zudem einen höheren Stellenwert als in der Romandie und im Tessin.
In Deutschland sind die Verhältnisse übrigens genau umgekehrt: Während dort etwa die Hälfte der Bevölkerung politische Kompromisse mit dem Ausverkauf eigener Prinzipien gleichsetzt, kann nur knapp ein Viertel dieser Sichtweise nichts abgewinnen. Kein Wunder also, dass im nördlichen Nachbarland keine politische Koalition einen wirklichen Zauber ausstrahlt.
Zweitveröffentlichung
Tamedia-Kolumnen auf uniAKTUELL
Die Tamedia-Kolumnen von Markus Freitag sowie von Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus erscheinen auch auf uniAKTUELL.
Zum Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern
Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.