Berner Pionierprojekte
Klimaschutz im Oberland
Tourismus und Milchproduktion – die Standbeine der Jungfrauregion – sind durch den Klimawandel bedroht. Mit der Wyss Academy for Nature, dem Kanton Bern und der Universität Bern suchen die 28 Gemeinden der Region Oberland-Ost Strategien für mehr Klimaschutz.
Lawinen und Murgänge gehören zu den Alpen wie der Hochnebel zum Mittelland. Doch nun häufen sich die Ereignisse, beobachtet Stefan Schweizer. Der 59-Jährige erzählt von einer ganzen Reihe besonderer Wetterereignisse, welche die Region in den vergangenen zwei Jahrzehnten heimsuchten. 2003 etwa verschütteten 375 Tonnen Stein den Chüebalm-Tunnel bei Iseltwald. 2005 gab es ein grosses Hochwasser, auf das 2008, 2009 und 2011 weitere folgten. «Schneelawinen sind wir hier gewohnt», so Schweizer. Aber dass immer häufiger enorme Wassermassen zusammenkommen und ins Tal donnern, Weiden überschwemmen und Keller unter Wasser setzen, das sei neu. Schweizer: «So etwas macht uns Sorgen.»
Extremwetter fordert Anpassungen
Als Forstingenieur ist Stefan Schweizer mit der Natur eng verbunden, und er bringt die gehäuften extremen Wetterereignisse mit dem Klimawandel in Verbindung. «Natürlich können wir hier kaum etwas beeinflussen, im ganzen Gebiet wohnen mit 48 000 Menschen bloss etwas mehr als in der Mittelstadt Thun, ein halbes Prozent der Schweizer Bevölkerung.» Und trotzdem, so meint Schweizer, könne und müsse das Berner Oberland mit gutem Beispiel vorangehen. Als Tourismusregion sei man nur glaubwürdig, wenn man mithelfe, dass der Permafrost nicht immer weiter in die Höhe zurückgedrängt werde und sich damit die Gefahr von Steinschlägen und Murgängen erhöhe. Schweizer ist dafür eine Schlüsselperson. Seit über 15 Jahren amtet der Wilderswiler als Geschäftsführer der Regionalkonferenz Oberland-Ost, jenes Gremiums, in dem die 28 Gemeinden Themen wie Richtplanung und Regionalentwicklung aufeinander abstimmen. Schweizer war es denn auch, der das Thema Klimawandel erstmals den Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten in der Region vorlegte. Es folgten Diskussionen und Konzepte – bis die Regionalkonferenz 2019 das strategische Entwicklungsziel «CO2-neutrale Tourismusregion Oberland-Ost» verabschiedete. Dazu ging man eine Zusammenarbeit mit dem kantonalen Amt für Umwelt und Energie, dem Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt der Universität Bern (CDE) und der Wyss Academy ein (siehe Kasten).
Schrittweise zur Klimaneutralität
Doch wie findet eine Region zur Klimaneutralität? Wie sollen die Dutzende von Touristengruppen aus Asien, die Woche für Woche die Jungfrauregion bewundern, ins Berner Oberland gelangen, ohne das Klima zu belasten? Ein Teil der Lösung ist, die Rahmenbedingungen den Möglichkeiten anzupassen. «Das strategische Entwicklungsziel beschränkt sich in einem ersten Schritt darauf, Klimaneutralität für jene Emissionen zu entwickeln, die dem sogenannten Scope 1 zuzurechnen sind», erklärt Thomas Rosenberg, Projektleiter im Amt für Umwelt und Energie. Unter Scope 1 sind die direkten Emissionen zu verstehen, die innerhalb der Systemgrenzen freigesetzt werden. Für das Berner Oberland betrifft das insbesondere Mobilität, Landwirtschaft und Gebäude. Darunter fallen etwa der Treibstoff für Busse, Privatautos und Traktoren, die Warmwasseraufbereitung für das Duschwasser der Gäste oder das Methan, das die insgesamt 14 000 Rinder, 4700 Schafe und 2400 Ziegen der Region beim Verdauen ausstossen. Nicht berücksichtigt werden hingegen jene Emissionen, die beispielsweise den auswärts dazugekauften Lebensmitteln und Dienstleistungen zuzurechnen sind (Scope 2). Schon gar nicht im Fokus steht die Klimabelastung der Fernflüge, die als Zubringer die Touristen und damit das Geld ins Oberland bringen (Scope 3). Neben der Beschränkung auf Scope 1 hilft die Ausweitung der Zielgruppe: War 2019 von «CO2-neutraler Tourismusregion» die Rede, benannte man das Projekt 2023, als die Entwicklungsstrategie von der Regionalversammlung grossmehrheitlich verabschiedet wurde, in «Klimaneutrale Region Oberland-Ost» um. Damit wird klar, dass alle Branchen in der Pflicht stehen, ihre Klimabelastung zu senken.
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Biogas aus Gülle für saubere Bettwäsche
Doch nur schon Scope 1 sei anspruchsvoll, weiss Rosenberg, und erzählt von einem schweizweit bisher einmaligen Projekt, das in der Region Oberland-Ost aktuell mit einer Machbarkeitsstudie untersucht wird. Just die Rindviecher und ihre Verdauung sollen von Klimabelastern zu Innovationstreibern mutieren, indem ihre Gülle auf dem Hof zu Biogas umgewandelt wird. Statt das Biogas an Ort und Stelle zum Kochen und Heizen zu verwenden, soll es eingesammelt werden. «Wenn wir das Gas aufbereiten und ins Gasnetz von Interlaken einspeisen, können wir dort fossiles Erdgas ersetzen», schildert Rosenberg den ambitionierten Plan. Abnehmer für den hochwertigen Energieträger gibt es genug, etwa den Grossbetrieb Wäsche-Perle, der die Lein- und Tischtücher unzähliger Hotel- und Gastrobetriebe für den nächsten Gästeansturm aufbereitet.
Trinkwasser liefert Skiliftstrom
Bis die Schmutzwäsche mit Gärgas aus dem Kuhstall wieder sauber wird, dürfte es jedoch noch 15 bis 20 Jahre dauern. Schon weiter ist da Ruedi Rubi, Verwaltungsratspräsident des Skigebiets Axalp, das auf der Südseite des Brienzersees liegt. Rubi fing bereits vor Jahren an, Strom für die Sesselbahn, die drei Skilifte und die Schneekanonen selbst zu erzeugen, wobei er ein Drittel des Gesamtbedarfs anstrebt. «Mein Traum ist ein Pistenfahrzeug, das elektrisch statt mit Diesel arbeitet», so Rubi. Doch noch ist nicht klar, wie ein solches drei bis vier Millionen Franken teures Gefährt finanziert werden soll.
Kurz vor Saisonende rotiert erst ein Vertikalwindrad auf der Bergstation Windegg und erzeugt etwa ein Prozent des auf der Axalp verbrauchten Stroms. Weitere Projekte sind angedacht, für die Rubi eifrig potenzielle Sponsoren sucht. Auf dem 222 Quadratmeter grossen Dach des Betriebsgebäudes etwa soll bis in zwei Jahren eine Fotovoltaikanlage mit einer Leistung von 47,8 Kilowattpeak stehen, die jährlich 38 000 Kilowattstunden erzeugen wird – das sind zehn Prozent des Stromverbrauchs der Axalp. Mit 110 000 Kilowattstunden noch ertragreicher wären Turbinen in der Trinkwasserleitung, die von 2800 Metern über Meer bis zur Axalp auf 1500 Metern über Meer führt. Rubi: «Statt wie heute den Höhenunterschied mit Druckbrechern abzudämpfen, könnte man aus der Energie enorm viel Strom gewinnen.» Noch fehlt das Geld für die Investition.
Ein Katamaran ohne Diesel
Ski fahren ist saisonal. Nach Ostern wird der Schneesport auf der Axalp jeweils eingestellt. Rubi will deshalb einen Sommerbetrieb aufbauen, die Sesselbahn Axalp-Windegg ganzjährig betreiben, die Wanderwege zur Windegg ausbauen. Wind, Sonne und Wasser wandeln die Kräfte der Natur rund ums Jahr in Strom um. Rubi hat deshalb 185 000 Franken Unterstützungsgelder gesammelt, um einen elektrisch betriebenen, 9 Meter langen und 2,6 Meter breiten Katamaran mit dem sinnigen Namen E-Lisabetha bauen zu lassen. Bei unserem Besuch der Abegglen Werft AG in Iseltwald besichtigen wir die Einzelteile des Stromgefährts. «Wir haben schon Segel- und Motorboote mit einem Elektromotor ausgerüstet, aber in dieser Grösse ist das für uns erstmalig», sagt Remo Abegglen. In der Werkhalle, wo es nach Lösungsmittel riecht, erklärt der Juniorchef, wie die zwei imposanten Schwimmer, das Deck und das mit Solarzellen bestückte Bootsdach in Handarbeit und komplizierten Verfahren aus Expoxidharz, Polyesterelementen und weiteren Materialien fabriziert werden. Ab diesem Sommer soll jeweils ein Dutzend Touristinnen und Touristen im Stundentakt lautlos über den Brienzersee gleiten und die Schönheit der Landschaft erfahren. Nebenbei bringt der Fährbetrieb drei Teilzeitjobs in jener Jahreszeit, in der die Skilifte stillstehen. Axalp-Tausendsassa Ruedi Rubi: «Das ermöglicht uns endlich, Ganzjahresanstellungen anzubieten, ein wichtiger sozialer Fortschritt.»
«Vorreiter wie die Axalp, Postauto oder Biobauer Fuchs inspirieren andere, das kann etwas auslösen.»
Alina von Allmen, Klimacoachin
Elektrobusse: Aus Gelb wird Grün
Auch auf der Strasse macht der Elektroantrieb Boden gut. Die Postauto AG, die in der Region dank dem Tourismus einen engen Taktfahrplan aufrechterhalten kann, der auch den Einheimischen zugutekommt, teste schon seit 2012 neue Antriebe, erklärt Ruedi Simmler, Leiter Betriebszone Berner Oberland. Damals waren es vier Hybridbusse, fünf Jahre später kamen die ersten Batteriebusse. Nun wird ab Herbst 2024 der neue Betriebshof in Wilderswil bei Interlaken mit Ladevorrichtungen erstellt, damit die fast komplette Umstellung auf elektrisch möglich wird. Auch die Haltestellenbereiche der zwei lokalen Zentren Interlaken und Spiez werden mit Pantografen umgerüstet, welche die Schnellladung von Elektrobussen während der Wartezeit auf den Bahnanschluss ermöglichen. Und die Abwärme der Gleichrichterstation im Wilderswiler Betriebshof dient gleich auch als Wärmequelle für das Gebäude.
Eine Klimacoachin geht zu den Leuten
Die Regionalkonferenz kann Entwicklungsziele anstossen, Netzwerke knüpfen, Ideen lancieren. Aber über finanzielle Mittel verfügt das Gremium kaum, macht Geschäftsführer Stefan Schweizer klar. Um weitere Menschen anzusprechen und Projekte anzustossen sowie auf bestehende Fördertöpfe hinzuweisen, braucht es deshalb eine Person, die als Katalysator wirkt. Zusammen mit der Wyss Academy for Nature und dem kantonalen Amt für Umwelt und Energie finanziert die Regionalkonferenz deshalb die Stelle von Alina von Allmen, die als Klimacoachin Ideen weiterspinnen, Interessierte motivieren und unterfinanzierte Projekte mit möglichen Finanzquellen zusammenbringen soll.
«Als ich vor gut einem Jahr meine Arbeit aufnahm, glaubten wir, ich könne einfach im Büro auf Anfragen warten», erzählt von Allmen. Schnell merkte sie aber, dass sie selbst das Thema Klima so aufs Tapet bringen muss, dass es die Zielgruppe anspricht. So hat sie einen Arbeitskreis geschaffen, bei dem die sieben regionalen Bergbahnen an einem Erfahrungsaustausch Möglichkeiten suchen, wie sie das Klima entlasten können. Oder sie lud einen Landwirt, der mit Biogas gute Erfahrungen gemacht hatte, zu einem Infoabend unter Bäuerinnen und Bauern ein. Der Apéro danach bietet jeweils Gelegenheit, persönliche Kontakte zu knüpfen. Prompt sprach Bernhard Fuchs die Klimacoachin an und wollte wissen, wie er seinen Landwirtschaftsbetrieb auf die Klimabelastung hin prüfen lassen könne. Der Brienzer Biobauer, der im Vorstand des kantonalen Bauernverbands sitzt und neben 23 Milchkühen einen Schweinemastbetrieb führt, will zwar keine Revolution. «Lebensmittel produzieren geht nun mal nicht ohne Klimabelastung», meint er beim Besuch auf seinem Hof. Aber auch er und seine Berufskollegen registrierten mit Sorge die wärmeren Winter, welche die Populationen von Schädlingen wie Mäusen und Engerlingen explodieren lassen. Fuchs: «Früher hatten wir hier unten im Schatten viel länger viel mehr Schnee, jetzt, vor Ostern, schiesst schon wieder das Gras.»
Gleiche Sprache, fernes Ziel
Bei von Allmen traf er auf ein Gegenüber, mit dem sich auch über die Bekämpfung der lästigen Blacken auf den Weiden fachsimpeln lässt. Zwar ist von Allmen Zürcher Oberländerin und in Deutschland aufgewachsen. Aber sie ist studierte Agronomin, und, was mindestens so wichtig ist, sie hat ihren breiten Berner Dialekt in den neun Jahren, die sie im Berner Oberland lebt, perfektioniert. Der Dialekt und ihr regionaler Familienname erleichtern den Kontakt zur Bevölkerung ungemein.
Von Allmen half Bernhard Fuchs bei der Finanzierung der Klimaanalyse. Einen Tag nach unserem Besuch kommt eine Umweltberaterin auf den Hof in Brienz, erhebt die Daten und prüft Verbesserungsmöglichkeiten in Sachen Klimaschutz. Als Biobauer kümmert sich Fuchs ohnehin schon stark um Umweltbelange. Und er könnte Vorbild sein: Ein Nachbar, der zufällig auf dem Hof vorbeischaut, lässt sich interessiert die Details erklären. Vielleicht steht hier schon der nächste Pionier?
Die häufiger werdenden Wetterextreme zeigen, dass die Zeit drängt. Die Region Oberland-Ost verfolgt deshalb das Jahr 2040 als Ziel, bis die Emissionen nach Scope 1 klimaneutral sein sollen. Anderseits darf man sich und die Bevölkerung nicht zu stark unter Druck setzen. Auch Alina von Allmen weiss: Sichtbar umgesetzt ist noch wenig. Doch die Klimacoachin ist optimistisch: «Vorreiter wie die Axalp, Postauto oder Biobauer Fuchs inspirieren andere, das kann etwas auslösen.» Für die Heimfahrt steigt sie heute zwar in ihren alten Lada. Das sei aber die Ausnahme, betont von Allmen: Wann immer möglich, legt sie den Weg zu ihrem Bauernhof, der in Lauterbrunnen 200 Höhenmeter über Interlaken liegt, per E-Bike zurück.
Forschung für Praxis
Vision erarbeitet
Das Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt der Universität Bern (CDE) erarbeitete in einem vierjährigen Prozess gemeinsam mit rund 40 Stakeholdern aus der Region eine gemeinsame Vision und erste Umsetzungsideen für ein klimaneutrales Oberland-Ost. Unterstützt wurde der Prozess von der Wyss Academy for Nature, dem Amt für Umwelt und Energie des Kantons Bern und dem Bundesamt für Energie. Der Abschlussbericht dieser ersten Phase zeigt eine Vielzahl von Instrumenten und Experimenten auf, die zu einem Erfolg führen können, unter anderem auch die im Haupttext erwähnten. «Die Schaffung der Stelle der Klimacoachin ist eine wichtige Errungenschaft aus der ersten Projektphase, um Umsetzungen und Experimente in Zukunft zu fördern und zu etablieren», so Stephanie Moser vom CDE. Parallel zur aktiven Moderation des Stakeholderdialogs beobachtete das Forschungsteam den Prozess wissenschaftlich und identifizierte Faktoren, welche die Transformation in eine klimaneutrale Gesellschaft beeinflussen. Die Erkenntnisse sollen helfen, das Gelernte auch in anderen Regionen anzuwenden.
Weitere Infos:
Klimastadt Thun
Projekte lanciert
Thun will den Klimaschutz zusammen mit der Wyss Academy mit zwei Projektarten vorwärtsbringen: Bei der Klimaidee wählte die Bevölkerung aus 30 Vorschlägen vier Projekte aus, die nun unterstützt werden: Nachhaltigkeitsworkshops für Kids, eine Marketingkampagne für die Leihbar, ein Foodsave-Bankett und Schub für öffentliche Gärten auf Restflächen. Beim Reallabor hat eine Fachjury zwei Projekten eine Weiterentwicklung ermöglicht. Durchgesetzt hat sich schliesslich ein Pilotprojekt, das zirkuläres Bauen fördert.
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Alina von Allmen
Magazin uniFOKUS
«Menschen brauchen Energie»
Dieser Artikel erschien erstmals in uniFOKUS, dem Printmagazin der Universität Bern. uniFOKUS beleuchtet viermal pro Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aktuelles Fokusthema: «Menschen brauchen Energie»
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